Albwachen

Rezensionen zu "Albwachen"

  1. Faszinierendes, düsteres, intensives Leseerlebnis

    Ich-Erzähler Thomas leidet seit seiner Kindheit unter einem schrecklichen Zwang: Er muss seine nächtlichen Träume real werden lassen. Wir begegnen Thomas ausgerüstet mit Papier und Bleistift, denn er hat es sich zur Aufgabe gemacht, alles niederzuschreiben, was mit seinem Leidens- und Lebensweg zusammenhängt. Mit vier Jahren verspürt er das erste Mal diesen starken Drang, Geträumtes real werden zu lassen. In Albwachen begleiten wir Thomas bei seinem Schreibprozess, lesen immer genau das, was er gerade notiert und tauchen so in wichtige Erlebnisse aus seiner Vergangenheit ein. Immer wieder stockt er, seine Finger verkrampfen, Gedanken schweifen und reißen ab, Erinnerungen überlagern sich und sehr bildhafte Assoziationen zu einzelnen Begebenheiten drängen sich mit großer Wucht aufs Papier. Christoph Flarer lässt seine Leser:innen unmittelbar und sehr konsequent in Thomas Gedankenwelt eintauchen. Gedanken und Erinnerungen folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als ein ausformulierter, bearbeiteter Text. Die sprunghafte und zuweilen abgehackte Erzählweise - besonders zu Beginn des Romans - ist glaubwürdig und stimmig, erschwert zuweilen aber das Verständnis. Im Laufe des Romans stellt sich bei Thomas jedoch ein Schreibfluss ein, der den Text leichter zugänglich macht.

    Thomas ist ein zutiefst verstörender Protagonist, auf den ich mich mit einer Mischung aus Faszination, Abscheu und Mitgefühl eingelassen habe. Es ist wirklich ein Albtraum, der hier beschrieben wird, mit einer sehr bildhaften Sprache, surrealen und teilweise sehr grausamen Szenen. Albwachen bietet ein äußerst spezielles, düsteres und intensives Leseerlebnis. Die Geschichte befindet sich fortwährend in einem Fluss zwischen Realität, Phantasie und Traum; gegen Ende war ich mir plötzlich gar nicht mehr sicher, inwiefern ich Thomas überhaupt als Erzähler trauen kann. Die Gesamtumsetzung des Themas hat mich fasziniert und absolut überzeugt.

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  1. Im Kopf eines Neurotikers

    Seit frühester Kindheit leidet Thomas unter dem Zwang, seine Träume in Realität zu verwandeln. Was noch relativ harmlos mit dem abgerissenen Bein einer Puppe beginnt, entwickelt sich mit zunehmendem Alter zu einem wirklich gewordenen Albtraum...

    Der kleine Septime-Verlag hat in den letzten Jahren vermehrt sein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner (nicht nur) deutschsprachigen Autor:innen bewiesen. Ob Tobias Sommers geniales "Jagen 135" oder Salih Jamals berauschendes "Das perfekte Grau" - stets zeichnet die Verlagstitel eine gewisse Kompromisslosigkeit, gar Radikalität aus.

    In allen Belangen kompromisslos ist auch Christoph Flarers zweiter Roman "Albwachen" geraten. Wobei ich nicht behaupten kann, dieses Buch gern gelesen zu haben. Doch darauf setzt Flarer auch gar nicht.

    Mit aller Konsequenz versetzt der Autor seine Leser:innen in die kranken Gedanken eines Neurotikers. Der erste, durchaus bemerkenswerte Satz des Romans lautet: "Thomas stoppte das Metronom und schaltete das Licht aus." Es ist der einzige Satz des kompletten Romans, den wir nicht aus dem Munde des Ich-Erzählers Thomas hören. Denn mit dem Ausschalten des Lichts sind wir auch schon mitten drin in Thomas' Kopf - und werden ihn auf den nächsten knapp 250 Seiten nicht mehr verlassen.

    Literarisch wagt Flarer ungemein viel und wird dabei nicht nur auf breite Zustimmung stoßen. Thomas' Sätze brechen schon mal abrupt ab, manchmal heißen sie nur "Ich." Weil es dem Erzähler in diesem Moment einfach nicht möglich ist, seine Gedanken zu ordnen, sie auszuformulieren. Zu furchtbar sind diese, zu albtraumhaft. Diese Unrast überträgt sich durchaus auf den Leser. Manchmal vermischen sich die Buchstaben auch einfach, oder ein irres "Tschack.Tschack.Tschack" platzt aus Thomas heraus. Tagebucheinträge sind nicht nur wegen der Daten unsortiert, auch die Zuordnung von Tagen und Daten stimmen nicht. Auf direkte Rede verzichtet der Autor nahezu konsequent.

    Es gelingt auch (anfangs) schwerlich bis (gegen Ende) überhaupt nicht, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. In den Kindheits- und Jugendszenen verspürte ich noch ein gewisses Mitgefühl mit diesem Jungen, der von so furchtbaren Zwängen und Angstzuständen geplagt ist. Doch mit zunehmender Romandauer ließ dies bei mir nach, weil Thomas ein ganz schrecklicher Egomane ist. "Ich, ich, ich", tönt es aus allen Seiten. Dabei wüsste man gern so viel mehr über Björn beispielsweise, seinen besten Freund, der wohl als Einziger von seinem (Alb-)Traum-Geheimnis weiß und immer zu Thomas steht. Warum auch immer.

    An einigen Stellen wusste ich nicht mehr, was Lüge und was Wahrheit ist, weil Thomas es mit letzterer auch nicht so genau nimmt. Mal deckt er seine Lügen im nächsten Moment zwar auf, anderes bleibt aber einfach so stehen und man zögert. Das ging bei mir so weit, dass ich sogar an der Existenz gewisser Figuren zweifelte. Und auch die immer drastischer werdenden Ereignisse hoffte ich als Unwahrheiten abhaken zu können.

    In einer besonders bemerkenswerten Szene versucht es Thomas mithilfe seiner Freunde, von denen er erstaunlicherweise einige hat, wenn man ihm glauben darf, mit einem tagelangen Schlafentzug, um anschließend in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen zu können. Hier entwickelt der Text eine immense Intensität, fast eine Art Rausch und die Buchstaben tanzen hin und her.

    Im letzten Drittel des Buches war die Lektüre für mich schwer aushaltbar. Zahlreiche explizite Grausamkeiten reihen sich dort aneinander, auf die ich gerade in ihrer Häufigkeit doch hätte verzichten können. Spätestens hier wird bei den Leser:innen wohl auch das letzte Fünkchen Empathie erlöschen. Dennoch gestaltet sich das Finale so rasant und spannend, dass man doch wieder mit Thomas auf ein gutes Ende hofft. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, lasse ich natürlich offen. Fest steht aber, dass der letzte Satz mindestens genauso bemerkenswert ist wie der erste...

    Christoph Flarers "Albwachen" ist ein Roman, den ich im Grunde nicht mochte, nicht mögen konnte und bei dem ich heilfroh war, als ich die Lektüre beendet hatte. Dennoch halte ich ihn für gelungen, weil er mit es mit seiner Intensität und Radikalität schafft, den Leser:innen den "schwarzen, bösartigen, pechtriefenden Klumpen" aus Thomas' Träumen direkt in die Köpfe zu pflanzen. Bemerkenswert polarisierend.

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