Eine moderne Familie

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine moderne Familie' von Helga Flatland
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5 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine moderne Familie"

Broschiertes Buch
Eine ganz normale norwegische Familie: Mama, Papa, die erwachsenen Kinder Liv, Ellen und Håkon und die Enkel Agnar und Hedda. Alle gehen ihren interessanten Berufen nach, verstehen sich gut. Feiern gemeinsam die Feste des Jahres. Treffen sich sonntags mit ihren zum Teil wechselnden Partnern zum Essen bei den Eltern. Im Sommer verbringt man Zeit in der Familien-Hütte in den Bergen.

Und dann das: Am siebzigsten Geburtstag von Papa verkünden die Eltern, daß sie sich scheiden lassen wollen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Wie in einem Mikado-Spiel, bei dem ein herausgezogenes Stäbchen die Balance zum Einsturz bringen kann, bricht die Familienidylle zusammen, es gibt scheinbar keinen sicheren Boden mehr. Auch das Leben der Kinder gerät in profunde Unordnung. Erzählt wird diese spannende Geschichte über die Untiefen des Familienlebens abwechselnd von Liv, Ellen und Håkon. Durch diesen Kunstgriff gewinnt der Roman einen einzigartigen Perspektivenreichtum und zeichnet konturscharf das Bild moderner Menschen und ihrer Kämpfe, Verletzungen und Träume.

Format:Broschiert
Seiten:308
Verlag: Weidle
EAN:9783938803936

Rezensionen zu "Eine moderne Familie"

  1. Muster, Rollen, alte Bahnen

    Es ist Sverres 70. Geburtstag. Die norwegische Familie findet sich anlässlich einer gemeinsamen Italienreise zum Jubelfest zusammen. Doch statt einer gemütlichen Familienfeier kommt alles ganz anders. Die Eltern verkünden den drei erwachsenen Kindern, dass sie sich trennen werden.
    „Wir werden und scheiden lassen…es ist eine wohlüberlegte Entscheidung…..Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr!“….“Auseinandergelebt? Zukunft“? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!“
    Wie die drei „Kinder“, Liv, Ellen und Hakon, mit dieser Botschaft umgehen, ist Hauptthema des Romans „Eine moderne Familie“ der norwegischen Autorin Helga Flatland. Die Konstruktion einer heilen Familie mit Vorbildwirkung gerät ins Wanken. Dabei geht es der Autorin nicht darum, was Auslöser oder Grund für die Entscheidung der Eltern ist. Es geht nicht um Betrug oder Ehebruch oder Schuldzuweisungen. Helga Flatland zeigt anhand der Reaktionen der drei Geschwister, wie unterschiedlich die eigene Wahrnehmung ist über sich selbst, aber auch über das Leben, die Beziehung anderer und zu anderen. Aus der jeweiligen Ich-Perspektive von Liv, Ellen und Hakon, erfahren wir, welche Bedeutung die Scheidung der Eltern jedem von ihnen zukommt.
    Ganz deutlich treten die kindlichen Rollen wieder zu Tage: Liv, die Älteste und Verantwortungsvolle kann nur ganz schlecht mit Veränderungen umgehen. Die scheinbar stabile Ehe der Eltern war für sie von jeher Vorbild uns Stützpfeiler ihrer eigenen ins Wanken geratenen Ehe mit Olaf. Der schon in Kindheit und Jugend schwelende Konkurrenzkampf zwischen Liv und Ellen um Anerkennung und Zuneigung bricht erneut auf. Liv ist nun selbst überbehütende Mutter zweier Kinder, während Ellen an ihren vergeblichen Versuchen schwanger zu werden beinahe scheitert. Hakon hingegen, der Nachzügler, dem man als Jüngsten und kränklichem Kind viel Nachsicht entgegengebracht hat, wirkt er - von Ehe und Monogamie nicht angetan - von der gegenwärtigen Situation zunächst unbeeindruckt. Bis er sich selbst verliebt.

    Die Konstruktion Familie steht in diesem Roman unter scharfer Beobachtung. Helga Flatland hat ein ungemein gutes Auge für die alltäglichen Geschichten, die das Leben schreibt. Sie bleibt dabei unaufgeregt, analysiert die Familienbeziehungen fernab von Dramatik oder süßlichem Kitsch. Es sind Beobachtungen mit großem Wiedererkennungswert über Muster, Rollen, alteingelaufene Bahnen und wie eine Veränderung das bisherige Leben in Frage stellen kann. Souverän erzählt!

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  1. 5
    31. Jan 2020 

    Moderne Familiengeschichte (?)

    Helga Flatland, Jahrgang 1984, hat für dieses Buch den „ Preis der norwegischen Buchhändler“ erhalten. Es ist bereits ihr 5. Roman, allerdings der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde.
    Eine norwegische Familie, bestehend aus den Eltern Sverre und Torill, deren erwachsenen Kindern Liv, Ellen und Håkon, sowie Schwiegersohn, Partner und Enkelkinder, reist nach Italien, um Papas 70. Geburtstag zu feiern. Doch mitten im Fest erklären Sverre und Torill, dass sie sich scheiden lassen werden. Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein. Damit hatte wirklich niemand gerechnet. „Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!“,so formuliert die jüngere Tochter ihr Unverständnis. Obwohl die Kinder längst ein eigenständiges Leben führen, erschüttert sie die Nachricht in ihren Grundfesten.
    Die Autorin erzählt nun abwechselnd aus den Perspektiven der drei Kinder.
    Da ist Liv, die Älteste. Sie ist vierzig, verheiratet mit Olaf und hat zwei Kinder. Ihr, die gern alles unter Kontrolle hat, schwinden die Sicherheiten. Sie durchforscht die Vergangenheit nach Anzeichen für Krisen und Unglück und sie beginnt, sich selbst und ihre eigene Ehe zu hinterfragen. Wie soll sie auch ihren Kindern erklären, dass Oma und Opa nicht mehr zusammen leben?Was geschieht mit den Familienessen jeden Sonntag und den gemeinsamen Sommerferien? Dabei hatte ihr doch die eigene Mutter vermittelt, dass man zu einer einmal getroffenen Entscheidung stehen soll, dass man nicht aufgibt. Liv ist gefangen in ihrer Wut und Trauer, so dass daran beinahe ihre eigene Ehe zerbricht.
    Ellen, zwei Jahre jünger, ist gerade frisch liiert mit Simen. Dieses Mal ist es der richtige Mann für sie und sie wünscht sich nun unbedingt ein Kind.Aber das erweist sich als äußerst schwierig. Ellen empfindet sich und ihren Körper zusehends als „Mängelexemplar“ und ist eifersüchtig auf ihre große Schwester ( wie damals als Kind). Die vergeblichen Versuche, schwanger zu werden, überschatten und belasten das Verhältnis zu Simen.
    Håkon, mit dreißig Jahren der Nachzügler in der Familie, scheint mit der Trennung der Eltern besser umgehen zu können. Er ist überzeugter Single, glaubt nicht an monogame Beziehung und das Projekt Ehe ( und beruft sich dabei auf Simone den Beauvoir und Jean- Paul Sartre ), bis er sich dann aber richtig verliebt.
    Helga Flatland beschreibt einfühlsam und auch mit Humor, welche Auswirkungen die Entscheidung der Eltern auf die einzelnen Geschwister hat. Begebenheiten aus der Kindheit werden neu gedeutet, die Geschwisterbeziehungen auf den Prüfstand gestellt, alte Rollenmuster hinterfragt. Es sind keine großen Dramen, die aufgedeckt werden, aber kleine Risse und leichte Misstöne sind spürbar, Eifersucht und Schuldgefühle kommen hoch. Es dauert einige Zeit, bis die Familie als solche wieder funktioniert.
    Es gibt unzählige Bücher, in denen die Konsequenzen einer Scheidung für Kinder und Jugendliche geschildert werden. Doch mittlerweile trennen sich auch viele Paare, die Jahrzehnte zusammen waren, deshalb ist es plausibel, dies in einem Roman zu thematisieren.
    „ Eine moderne Familie“ ist ein unterhaltsamer, psychologisch durchdachter Roman über Familienbeziehungen, Geschwisterverhältnisse, Ehe und Partnerschaft. Ein Buch, das mich begeistert und zum Nachdenken gebracht hat.

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  1. 5
    22. Dez 2019 

    Was ist eine moderne Familie?

    Norwegen war in diesem Jahr das Partnerland der Frankfurter Buchmesse. Wie zu erwarten ist der Buchmarkt daher mit vielen Veröffentlichungen norwegischer Autoren geflutet worden. Viele haben gejubelt. Ich nicht. Denn ich werde mit der norwegischen Literatur einfach nicht warm. Und ich versuche es seit Jahren. So auch in diesem mal wieder. Nach mehreren Enttäuschungen bzw. mittelmäßigen Leseerlebnissen, bin ich nun endlich auf den einen Roman gestoßen, der mich mit allem versöhnt, was ich bisher aus Norwegen gelesen habe. Mein persönlicher Gral unter den modernen norwegischen Romanen ist für mich "Eine moderne Familie" von Helga Flatland.

    Dieser Roman ist weder reißerisch noch spektakulär, weder spannend, noch beschäftigt er sich mit abstrusen Problemen der Protagonisten, die fernab jeglicher Realität sind (die Probleme, nicht die Protagonisten).
    Nein, er ist wohltuend unspektakulär. Ein Roman, der aus dem Leben gegriffen ist. Denn hier geht es um - wie der Buchtitel schon sagt - eine modernen Familie.

    Wobei ... einen spektakulären Aspekt gibt es: gleich am Anfang eröffnen die, seit über 40 Jahren verheirateten Eltern ihren erwachsenen Kindern bei einem gemeinsamen Urlaub anlässlich des 70. Geburtstags des Vaters, dass sie sich trennen werden.

    "'Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war. ... Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.'"

    Der Roman beginnt also mit einem Paukenschlag. Nun sollte man meinen, dass mit dem, was folgt, genüsslich auf die Ehe der beiden Eltern eingegangen wird bzw. auf die Entwicklung der Beziehung des Ehepaares. Schließlich will man doch wissen, was die Beiden dazu getrieben hat, ihre 40-jährige Ehe ad acta zu legen. Jeder andere Familienroman hätte sich mit der Beantwortung dieser Frage befasst. Amerikanische Autoren sind z. B. ganz groß in der Abhandlung dieser Thematik. Aber die Norwegerin Helga Flatland konzentriert sich in dem, was nach dem Paukenschlag kommt, auf die anderen Familienmitglieder: Zwei Töchter, Liv und Ellen sowie Håkon, der Sohn. Hier geht es also um die "Scheidungskinder" - auch wenn diese schon erwachsen sind und eigene Familie bzw. Partner haben.
    Diese drei Charaktere gehen unterschiedlich mit der Ankündigung ihrer Eltern um.
    Liv, die Älteste, selbst Mutter von 2 Kindern, glücklich verheiratet, kommt am wenigsten damit zurecht. Sie empfindet die Trennung ihrer Eltern als persönlichen Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell, welches sie dem ihrer Eltern nachempfunden hat: Die Familie steht im Mittelpunkt des Lebens und gibt gleichzeitig den Rahmen vor, innerhalb dessen man sein Leben gestaltet.

    "'Wir hören nicht auf, ohne es zu Ende zu bringen, wie viele Male habt ihr nicht Varianten dieses Ausspruchs von sowohl Mama als auch Papa gehört? Aber selbst geben sie einfach auf, auf der Zielgeraden - schmeißen alles über Bord, wofür sie gestanden haben, was sie gepredigt und hervorgebracht haben. Doch, das ist falsch, und es ist ein Verrat an uns, die wir sie ernst genommen haben, die zugehört und tatsächlich versucht haben, nach den Werten, die sie uns ständig einbleuten, zu leben.'"

    Ellen hingegen reagiert mit Unverständnis und Zorn. Doch eigentlich ist sie zornig auf sich selbst, da sie als Frau versagt (ihre Gedanken). Denn Ellen versucht mit ihrem Lebensgefährten Nachwuchs zu bekommen. Scheinbar strebt sie ebenfalls das Lebensmodell ihrer Eltern an. Sie scheint aus ihrer Erziehung mitgenommen zu haben, dass zum Leben Kinder dazugehören bzw. Kinder erst eine Beziehung komplett machen. Dass ihre Beziehung zu ihrem Partner kinderlos bleibt, empfindet sie als persönliches Versagen. Dieser Gedanke zerrüttet sie. Obwohl Ellen eine moderne und selbstbewusste Frau ist, nimmt sie es als selbstverständlich, dass frau sich hautsächlich über die Mutterrolle definiert.
    Dann haben wir noch den "Kleinen", Håkon, der eine monogame Partnerschaft ablehnt und sich dem traditionellen Familienbild gegenüber verweigert. Er will sich nicht binden, denn eine Bindung versteht er als Fremdbestimmung, die seinen Freigeist einschränkt. Er ist quasi der Hippie-Typ, der freie Liebe und Selbstverwirklichung predigt.

    Der Roman behandelt die Jahre nach der unglaublichen Veröffentlichung der Eltern und konzentriert sich dabei auf die Kinder, die sich langsam mit der Trennung ihrer Eltern arrangieren.
    Die Erzählperspektiven wechseln innerhalb der drei Kinder. Dadurch gewinnen wir einen Eindruck, wie unterschiedlich man "Familie" betrachten kann.
    Die drei Charaktere versuchen, ihren eigenen Begriff von Familie zu leben: Liv, die als Muttertier nach Perfektion strebt; Ellen, die unbedingt Muttertier sein möchte; Håkon, der sich selbst als Familie genug ist. Ob alles so läuft, wie sie es sich vorstellen? Wohl kaum.

    Was mich an dem Buch gefesselt hat, waren die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen man eine Familie betrachten kann. Hier wird das Thema "Familie" von allen Seiten beleuchtet. Soziologisch gesehen ist Familie nicht mehr als eine Lebensgemeinschaft, die auf verwandschaftlichen Verhältnissen beruht. Doch die Realität ist komplexer. Und die drei Trennungskinder dieser Familie zeigen, wie kompliziert "Familie" sein kann, und wie unterschiedlich "Familie" wahrgenommen wird.

    Helga Flatland spricht mir, einem Familienmenschen, damit aus der Seele und macht diesen Roman zu einem sehr persönlichen Roman. Ich bin begeistert!

    © Renie

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