Rezension Rezension (5/5*) zu Weit weg ist anders von Sarah Schmidt

Bibliomarie

Bekanntes Mitglied
10. September 2015
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Alt. aber nicht unsichtbar

Zwei alte Frauen führt der Zufall in einer Rehaklinik zusammen. Edith, Berlinerin mit mehr Schnauze als Herz, pflegt ihre Eigenbrötlerei und Misanthropie eher aus Selbstschutz. Christel, finanziell unabhängig, aber chronisch krank, kämpft mit Ängsten und Unsicherheiten und gegen die Bevormundung durch die Tochter, will aber auch in dieser Phase ihre Unabhängigkeit bewahren.
Es wird keine Freundschaft zwischen den beiden Frauen wachsen, dazu sind sie zu unterschiedlich. Aber man kann es vielleicht Respekt, Verständnis und Selbsterkenntnis nennen, was in den gemeinsamen Tagen wächst, als sie zusammen zu einer Reise aufbrechen.
Begeistert hat mich das Psychogramm der beiden Frauen, die stellvertretend für eine ganze Generation ähnlicher Schicksale stehen. Einfühlsam werden die Charaktere dargestellt und beim Lesen wurde mir bewusst, wie viel ähnlichen Biografien ich schon begegnet bin. Auch die Entwicklung, die beide während ihrer gemeinsamen Tage nehmen, gefällt mir. Ein wenig aus ihrem Schneckenhaus kommt Edith, während Christel sich endlich, fast schon zu spät, sich ihrem Problem mit ihrer Tochter stellt.
Zwar behandelt das Buch ernste Themen: Alterseinsamkeit, Umgang mit älteren Menschen in Heimen und Einrichtungen, Krankheiten und eingeschränkte Beweglichkeit – aber es verfällt nie in einen larmoyanten Ton, es sprüht auch vor Witz, den vor allem von Edith ausgeht, die als typische Berlinerin nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Das brachte mich immer wieder zum Schmunzeln und beide Frauen sind mir sehr nah gekommen. Außerdem fand ich noch eine Lieblingsfigur, einen Nebendarsteller sozusagen, den Briefträger Mannstein, der mit seiner Geschichte eine gelungene Ergänzung zur Lebensgeschichte von Edith und Christel wird.
Eine warmherzige Geschichte, die mir gut gefallen hat und die mich von der ersten Seite an nicht mehr losgelassen hat.