Rezension Rezension (5/5*): Hool von Philipp Winkler

Renie

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19. Mai 2014
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Die Begeisterung und Ekstase, die Fußball bei so vielen Leuten hervorruft, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich kenne zwar die Spielregeln, bin auch mit der Bundesliga vertraut, gehe auch manchmal ins Stadion. Natürlich sehe ich mir Europa- und Weltmeisterschaften an. Aber das war's dann auch schon. Alles, was darüber hinausgeht und scheinbar auch zum Fußball dazugehört wie Schlachtgesänge und Fan-Krawalle, ist für mich nicht zu begreifen. Wenn ich brüllende Fußballfans sehe, denen der Hass auf die gegnerische Mannschaft aus jeder Pore tropft, denke ich immer nur: "Meine Güte, wie hohl!"

Und dann ist mir "Hool" von Philipp Winkler vor die Lesebrille gekommen, ein Roman über eine Gruppe von Hooligans aus Hannover. Dieses Buch befasst sich ausgiebig mit dieser, für mich unverständlichen Welt. Ich bin noch nie so voreingenommen an ein Buch herangegangen wie an dieses. Aber mich beschäftigte einfach die Frage, was Menschen dazu bewegt, sich solch gewaltbereiten Gruppierungen anzuschließen. Mit "Hool" erhoffte ich mir eine Antwort.

Gleich vorweg: Das Buch und ich hatten keinen guten Start. Wenn ich auf den ersten Seiten schon mit einer organisierten Massenschlägerei konfrontiert werde und eine Gruppe Hooligans kennenlerne, die sämtliche Klischees zu dieser Szene bedient, überkommt mich Widerwillen, nahezu Ekel. Winkler hat es jedoch erstaunlicherweise geschafft, dass sich mein Widerwillen in Luft aufgelöst hat und ich lernte, mich auf die Personen einzulassen, die im Laufe der Handlung immer mehr aus der grauen Masse der Hooligans hervorstachen und immer mehr Profil bekamen. Allen voran Heiko, der Hauptprotagonist und Ich-Erzähler in Winklers Roman.

"Neben mir johlt die Bierkastentruppe noch immer ihre dämlichen Jubelgesänge. Sonst ist niemand zu sehen. Niemand, dem ich mit Anlauf ins Gesicht springen kann. Niemand, dem ich meine pochenden Fäuste in die Fresse jagen kann. Niemand, an dessen Zähnen ich mir die Finger aufschneiden kann, nur um weiterzuschlagen, bis sie sich von Wurzeln und aus dem Zahnfleisch lösen. Und niemand, auf den ich weiter einschlagen könnte, bis er an den eigenen Zähnen erstickt. Stattdessen klopft mir der Regen auf die Schultern und die Schädeldecke und hämmert mir die Wut in jede einzelne Faser meines Körpers." (S. 180)

Heiko kommt aus einer Familie, die völlig verkorkst ist. Vater Hans ist Alkoholiker, die Mutter ist abgehauen. Geborgenheit und ein liebevoller Umgang existieren nicht in dieser Familie. Stattdessen trifft man auf Gleichgültigkeit und Nebeneinander herleben. Alles scheint sich darum zu drehen, den Vater Hans bei Laune zu halten und die Konsequenzen und Blessuren aus seinem Alkoholkonsum möglichst gering zu halten. Mittlerweile hat sich Hans sogar eine Ersatzfrau besorgt: Mie aus Thailand, die in Heikos Elternhaus völlig deplatziert wirkt.
Heiko hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Er jobt bei seinem Onkel Axel, der einen Boxing-Gym betreibt, indem zwielichtige Gestalten ein- und ausgehen. Axel ist der Anführer einer Gruppe Hooligans und organisiert regelmäßig Prügeleien mit befeindeten Fangruppen anderer Fußballclubs. In Axels Gruppe herrscht eine stramme Hierarchie: es gibt die erfahrenen Mitglieder, die sich ihre Sporen bereits seit langem erkämpft haben und in der Hackordnung weit oben stehen. Der Nachwuchs muss sich noch bewähren und hat sich demnach unterzuordnen. Das Gruppenleben wird von klaren Regeln bestimmt. Auch wenn Heiko zum Nachwuchs gehört, nimmt er doch eine Sonderstellung innerhalb der Gruppe ein. Schließlich wird er als derjenige gehandelt, der früher oder später die Nachfolge seines Onkels antreten wird.
Heiko ist früh von zuhause ausgezogen. Man kann es ihm nicht verdenken. Er kommt bei Arnim unter, einem durchgeknallten Ex-Knacki, der sich in einem heruntergekommenen Haus eingenistet hat und hier illegale Tierkämpfe veranstaltet.

Heikos Familienersatz sind seine Freunde aus der Hooligan-Gruppe. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verhältnissen: Kai – Kind reicher Eltern und Student; Jojo – Jugendtrainer, seine Familie kommt dem Begriff einer „normalen“ Familie am nächsten; Ulf – Familienvater. Heikos Freunde haben eines gemeinsam: Sie haben eine Perspektive außerhalb der Hooligan-Szene und dadurch die Möglichkeit, jederzeit auszusteigen. Heiko fehlt diese Perspektive. Er setzt auf die Hools, macht diese Gruppe zu seinem Lebensinhalt. Seine Perspektive besteht darin, bei der nächsten Schlägerei, den Gegner richtig aufzumischen und "Geschichte zu machen" - was auch immer das bedeuten mag.

"'... ich habe null', ich forme mit den Fingern einen Kreis, ,nichts. ... Das hier habe ich. Mehr nicht. Ich beschwer mich nicht darüber. Und weißt du, warum? Weil ich für das hier lebe. Weil ich dafür eintrete und dazu stehe. ..." (S. 234)

Wie bereits erwähnt, stellt Winkler seine Charaktere als Teil einer Masse dar. Ich hatte zu Beginn Schwierigkeiten, die einzelnen Personen zu unterscheiden. Aber mit der Zeit kristallisieren sich die Charaktere aus der Masse heraus. Sie erhalten ein Profil, einen Hintergrund und ein Schicksal. Auf einmal hat man als Leser einen ganz anderen Zugang zu diesem Buch. Die Personen werden einem vertraut und man entwickelt Mitgefühl für die einzelnen Charaktere. Plötzlich nimmt man die Schlägereien als gegeben hin. Man beginnt die Beweggründe der Charaktere zu verstehen. Man wird diese Beweggründe jedoch niemals gutheißen.

Philipp Winkler entführt den Leser in eine völlig fremde Welt. Dies macht sich allein schon in seinem Sprachstil bemerkbar, der diesen Roman sehr authentisch wirken lässt. Er lässt seine Charaktere in einer sehr derben Sprache miteinander kommunizieren. Ist das verwendete Vokabular typisch für die Jugendsprache oder für das Milieu, indem die Handlung angesiedelt ist? Wahrscheinlich von beidem etwas. Zumindest tauchen Begriffe auf, die auf mich (50+) fast schon exotisch wirken. Das macht das Lesen für mich zu einem besonderen Erlebnis, da ich bisher noch nichts gelesen habe, das diesem eigenwilligen Sprachstil auch nur annähernd ähnelt.

Es gibt besondere Momente in diesem Buch, in denen das Geschehen sehr bildhaft dargestellt wird. Winkler versteht es, den Leser in diesen Momenten in ganz besondere Stimmungen zu versetzen. Da sind auch viele Wohlfühl-Momente dabei. Zum Beispiel schildert er den Augenblick, als Heiko seine schlafende Freundin beobachtet. Ein sehr berührender Moment, der allerdings von jetzt auf sofort mit nur einem einzigen Wort zerstört wird:

"Von der Tür aus kann ich ihre Rippen zählen und deutlich den Knochen des Schlüsselbeins unter der Haut schimmern sehen. Ich atme ganz flach. Die Katze schnurrt hinter mir im Flur. Sie hat sich die Haare geschnitten. Eine Strähne ihres Ponys ist rot getönt. Ihre Lider sind geschlossen. Sie schläft wie eine Leiche." (S. 274)

Die Stimmung kippt und auf einmal wird aus einem Wohlfühl-Moment etwas Hässliches. Und insbesondere wenn Heiko diese Szenen erlebt, bestätigt sich einmal mehr seine Perspektivelosigkeit. Sein Leben kann nicht schön sein. Menschen wie er sind chancenlos.

Aber sind sie das wirklich? Winkler lässt das Ende der Geschichte offen. Er bietet Heiko die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Was er am Ende daraus macht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.

Fazit:
Hool“ ist ein Roman, der in diesem Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden war und allein durch seine Thematik herausstach. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich für einen Roman mit diesem Thema begeistern könnte. Aber genau das ist eingetreten. Indem Winkler seinen Fokus auf die einzelnen Charaktere seines Buches legt, bekommt die Geschichte etwas Tiefgründiges, das ich bei diesem Thema nicht erwartet hätte. Der Leser arrangiert sich mit der Gewalt in diesem Buch. Stattdessen gerät die Entwicklung der Charaktere in den Mittelpunkt. Diese krasse Verbindung aus hohler Gewalt und Tiefgründigkeit machen dieses Buch daher für mich zu einem der ungewöhnlichsten und besten Bücher in 2016.