Leserunde zu "Widerfahrnis" von Bodo Kirchhoff - ab 31.10.

Helmut Pöll

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Moin, ihr Lieben,

ich habe hier ja von Beginn an ganz interessiert mitgelesen. Und eben gerade bin ich über einen Link bei FB gestolpert, dessen Beitrag euch vielleicht interessiert:

Keine gute Wahl: Deutscher Buchpreis für Bodo Kirchhoff | BR.de
Danke @Tiram . Ich bin auch schon vor ein paar Tagen über diesen Artikel gestolpert. Die Meinungen zur Auszeichnung von Kirchhoff schwanken zwischen heller Begeisterung und empörter Ablehnung. Vermutlich hat man das bei jedem Preis (siehe auch unsere Nobelpreisdiskussion ;))
 
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Helmut Pöll

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"Rotweingetränkt" (ein Ausdruck aus obigem Artikel) - da musste ich lachen. Aber irgendwie trifft der Begriff tatsächlich zu, aber vermutlich nicht nur auf die Figur Reither, sondern eben auch für viele andere Werke mit ähnlichem Hintergrund. Wenn ich es mir so überlege, fallen mir auf Anhieb ein paar Leute ein, die ich persönlich kenne, auf die diese Beschreibung anwendbar wäre - und das meine ich nicht negativ.
Ich versuche mal ein Profil ;) männlich, Mitte 60, arbeitet in den Medien, eventuell als Rechtsanwalt, politisch und kulturell interessiert, gut situiert, Bildungsbürger, diskutiert gerne bis vier Uhr morgens über Sinn und Unsinn des Lebens - bei gutem Rotwein, und bis vier Uhr morgens kommt halt was zusammen... :D
 

Helmut Pöll

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Wenn ich mir den Umgang von Reither mit dem Flüchtlingsthema ansehe, dann wirkt er für mich irgendwie aus der Zeit gefallen. MIr ist ein Film eingefallen, bei dem ein Mann aus dem 18. Jahrhundert durch ein Zeitloch ins 20. Jahrhundert katapultiert wurde und dementsprechend verunsichert und irritiert war. So kam mir Reither vor. Mich stören aber auch enige Dinge an Widerfahrnis. @Atalante, @Querleserin , @Sassenach123 , @Renie
Die Sprache finde ich klasse, das hatte ich ja schon mehrfach geschrieben.
Die Darstellung des Flüchtlingsthemas gefällt mir nicht. Ich erinnere mich an eine Szene im Buch, in der Reither sich verletzt und ein Afrikaner ihn sofort verarztet. Er hat natürlich auch alles Notwendige sofort zur Hand. Das war mir zu unglaubwürdig, zu konstruiert, zu dick aufgetragen, zu schmalzig, eine Portion zuviel Pathos.
Zweitens fehlen mir in diesem Buch die Emotionen. Sie sind schon da, aber man muss nach ihnen suchen wie nach Stecknadeln im Heuhaufen. Da macht mich aber nichts wirklich betroffen oder bewegt mich. Vielleicht bewegt mich dieses hilflose Bemühen von Reither auch deshalb nicht, weil er aufgrund seiner Kopflastigkeit auch nie wirklich herzlich und sympathisch rüberkommt. Man hat eher respektvolle Gefühle für ihn, so ähnlich wie wenn man seinen alten Mathematiklehrer nach 20 Jahren im Restaurant im Urlaub trifft.
 

Sassenach123

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Wenn ich mir den Umgang von Reither mit dem Flüchtlingsthema ansehe, dann wirkt er für mich irgendwie aus der Zeit gefallen. MIr ist ein Film eingefallen, bei dem ein Mann aus dem 18. Jahrhundert durch ein Zeitloch ins 20. Jahrhundert katapultiert wurde und dementsprechend verunsichert und irritiert war. So kam mir Reither vor. Mich stören aber auch enige Dinge an Widerfahrnis. @Atalante, @Querleserin , @Sassenach123 , @Renie
Die Sprache finde ich klasse, das hatte ich ja schon mehrfach geschrieben.
Die Darstellung des Flüchtlingsthemas gefällt mir nicht. Ich erinnere mich an eine Szene im Buch, in der Reither sich verletzt und ein Afrikaner ihn sofort verarztet. Er hat natürlich auch alles Notwendige sofort zur Hand. Das war mir zu unglaubwürdig, zu konstruiert, zu dick aufgetragen, zu schmalzig, eine Portion zuviel Pathos.
Zweitens fehlen mir in diesem Buch die Emotionen. Sie sind schon da, aber man muss nach ihnen suchen wie nach Stecknadeln im Heuhaufen. Da macht mich aber nichts wirklich betroffen oder bewegt mich. Vielleicht bewegt mich dieses hilflose Bemühen von Reither auch deshalb nicht, weil er aufgrund seiner Kopflastigkeit auch nie wirklich herzlich und sympathisch rüberkommt. Man hat eher respektvolle Gefühle für ihn, so ähnlich wie wenn man seinen alten Mathematiklehrer nach 20 Jahren im Restaurant im Urlaub trifft.

Ich verstehe was du meinst. Sympathie empfinde ich für Reither auch nicht. Dennoch gefällt mir, wie ich unterschwellig, und sei es auch nur durch seine Handlungen, oder das unterlassen einiger Handlungen, Schlüsse ziehen kann. Diese deute ich für mich persönlich so, dass Reither einfach nur verbittert ist. Er bereut dieses Kind von Christine verstoßen zu haben, ihm keine Chance eingeräumt zu haben. Deshalb lässt er die Palm ein Stück weg gewähren, sich um das Mädchen zu kümmern. Eine kurze Zeit das Gefühl zu haben, es richtig zu machen, um gleich darauf wieder zu zweifeln. Und das ist für mich auch Gefühl, auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird.
Aber das ist meine Meinung, meine Eindrücke und Gefühle beim lesen. Es ist ja nicht verwunderlich, dass jeder es anders wahrnimmt.
 

Atalante

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Ich sehe es ähnlich wie @Sassenach123 .

Für mich ist "Widerfahrnis" ein Roman voller Emotionen, sie sind sogar sein Gegenstand. Reither als äußerlich distanzierte, aber auch vernünftig abwägende Figur - wer von euch hätte denn ein solches Mädchen einfach mitgenommen?- besitzt viel Gefühl. Nur wird dies nicht offen gezeigt. Schon gar nicht wird die Zerrissenheit dem Leser erklärt. Das finde ich auch gut.

Hmm, das Flüchtlingsthema hätte für mich nicht sein müssen, das Mädchen aber schon. Dieses ist auch nicht unbedingt ein Flüchtling. In Rom sind Ende der Achtziger Jahre solche Taschendiebgrüppchen von, damals sagte man, Zigeunerkindern gezogen, an ein solches Kind hat sie mich viel eher erinnert.

Natürlich gibt es streng betrachtet einige Ungereimtheiten, dazu gehört auch der Afrikaner mit dem Miniverbandskasten, aber es ist eben Fiktion. Mich stört allerdings auch etwas
und das ist das Ende. Muss die Palm an Krebs sterben und müssen ihr ausgerechnet in Triest die Haare ausgehen? Warum schickt sie ihm noch irgendetwas, nachdem Reither ja schon mit seiner ausbleibenden Antwort am Bahnhof den Test nicht bestanden hat.
Für mich wäre es ein plausibleres Ende gewesen, wenn er dieses Hintenüberkippen aufs Pflaster nicht überlebt hätte.
 

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Er bereut dieses Kind von Christine verstoßen zu haben, ihm keine Chance eingeräumt zu haben. Deshalb lässt er die Palm ein Stück weg gewähren, sich um das Mädchen zu kümmern.

Meiner Meinung nach hat er der Palm aus Liebe nach gegeben. Er hatte Angst wieder wegen eine Entscheidung gegen ein Kind seine Liebe aufs Spiel zu setzen. Ihm ging es eher um die Frau als um das Kind
Der Schluss ist auch insofern kitschig, weil er seine vermeintliche Schuld gegenüber der Palm - die meiner Meinung nach keine ist- durch die Aufnahme der Afrikaner abarbeitet. Aber spannend wurde die Geschichte dadurch schon.
 
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Ich fand am Ende hat die Novelle an Fahrt aufgenommen, was sich positiv ausgewirkt hat. Mich hat
die Erkrankung nicht gestört. Sie erklärt das Verhalten der Palm und lässt keine Fragen offen. Das allerdings ist ein bisschen schade.
Das Hauptthema sind für mich die Vergangenheitsbewältigung und die damit verbundenen Emotionen . Das wird gerade in der Szene mit dem Afrikaner deutlich.
Befremdet hat mich die Szene auf der Fähre.
 

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Was ist mit der Kette des Mädchens?

Ich hatte den Eindruck, daß der Anhänger nie als Schmuck gedacht war, sondern von Anfang an der Selbstverteidigung dient.
 

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Wenn die Palm
nicht todkrank wäre, wären mehr Fragen offen geblieben. Das hätte ich auch nicht schlecht gefunden. Außerdem stellt es ihr Verhalten gegenüber dem Mädchen wieder sehr in Frage.
 
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Puh, also dieser latente Alltagsrassismus... musste das sein, oder ist der Autor echt so unreflektiert?

Ich finde übrigens bisher passt Widerfahrnis nicht so recht. Klar, dem Erzähler passiert etwas, aber nicht im Sinne von etwas, dass er nicht beeinflussen kann. Er entscheidet nur einfach, keinen Einfluss zu nehmen, passiv zu sein und die Palm einfach gewähren zu lassen. Er feuert sie ja teilweise regelrecht an.
 
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z.B. als er überlegt wie das Mädchen heißen könnte. Stereotyper geht es schon gar nicht mehr.
 

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Fatima, Djamila, Zuleika.:rolleyes:

Ich fand da sind einige Stellen die sehr herablassend wirken. Nicht böse gemeint, einfach völlig unreflektiert.
"Ich weiss ja nicht, woran sie glaubt, an Allah, oder an wen glaubt sie?", oder "Japaner oder Chinesen[...], wer kann das schon unterscheiden..."
 

Sassenach123

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Ich fand da sind einige Stellen die sehr herablassend wirken. Nicht böse gemeint, einfach völlig unreflektiert.
"Ich weiss ja nicht, woran sie glaubt, an Allah, oder an wen glaubt sie?", oder "Japaner oder Chinesen[...], wer kann das schon unterscheiden..."
Vielleicht wollte der Autor auch nur ein verbreitetes Klischee aufgreifen. Beim lesen hab ich da nicht an Rassismus gedacht
 
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Atalante

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Warum nicht? Wenn ich die Namen meiner syrischen Nachbarn erraten sollte, und auf Hans, Franz oder Otto typen würde, hätte ich keine hohe Quote.

Abgesehen davon sind es die Gedanken Reithers, die ja nicht die Einstellung des Autors wiedergeben müssen.
 

Sakuko

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Also rätst du bei deutschen Menschen zuerst Fritz, Hans und Franz?

Da Reither der Erzähler ist und sonst nicht viel gesagt wird ist es schwer zu sagen, ob nur Reither rassistisch sein soll, oder der Autor es selbst ist.
 

Atalante

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So mache ich es. ;)

Ich käme nicht auf die Idee die Hauptfigur eines Romans als alter Ego des Autors zu betrachten. Sicherlich spiegeln sich Erfahrungen und Eigenschaften eines Schriftstellers in seinen Werken, aber doch nur in Teilen.
 
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Sakuko

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Der Kirchhoff schreibt einfach völlig wertfrei, neutral. Als geht ihn seine eigene Geschichte gar nichts an.
Bei anderen Autoren, wenn da rassistische Tendenzen drinne sind, dann weiss man ob der Autor oder der Charakter rassistisch ist. Hier kann ich das nicht sagen, weil Kirchhoff keine Stellung bezieht. Könnte beides stimmen.