Rezension Rezension (4/5*) zu Straße der Wunder von John Irving

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Straße der Wunder von John Irving
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Irving in Top-Form
Müllkippenkinder, Geistliche, Transvestiten, Löwenbändiger und ein Mädchen, das Gedanken lesen kann .... Dies sind nur einige der Charaktere aus John Irving's Roman "Straße der Wunder".
Schräge Typen findet man in all seinen Romanen und sind mit ein Grund, warum ich Irving's Geschichten mag. Wenn dann noch Sarkasmus und ein großes Maß an Situationskomik in einem Irving-Roman zu finden sind, bin ich eine glückliche Leserin. "Straße der Wunder" hat mich glücklich gemacht. Zwar nicht berauschend glücklich, doch immerhin ziemlich glücklich ;-)

Worum geht es in diesem Roman?
Juan Diego und seine Schwester Lupe wachsen auf einer Müllkippe in Oaxaca, Mexiko, auf. Die beiden sind ungewöhnliche Kinder. Juan Diego konnte sich selbst das Lesen und Schreiben beibringen. Unterrichtsmaterial hatte er genug: Bücher und Zeitungen, die auf dem Müll gelandet sind. Lupe hat eine Sprachstörung und spricht daher in einem Kauderwelsch, der nur von Juan Diego verstanden werden kann. Er ist ihr Dolmetscher, wenn es darum geht, mit anderen zu kommunizieren. Lupe besitzt die Gabe, Gedanken zu lesen und die Zukunft vorauszusagen. Nachdem sie einige Jahre in einem katholischen Waisenhaus verbracht haben, schließen sie sich irgendwann einem Zirkus an. Denn ihr Gefühl sagt ihnen, dass ihnen der Zirkus die einzige Möglichkeit bietet, aus ihrem Leben etwas zu machen.

Die Geschichte wird aus der Sicht von Juan Diego, der Jahre später - mittlerweile ist er Mitte Fünfzig - als Schriftsteller in Amerika lebt. Juan Diego ist gesundheitlich angeschlagen. Aufgrund einer Herzschwäche muss er Medikamente nehmen, die ihn sehr müde machen. Jedesmal, wenn er ein Nickerchen macht (und das macht er häufig ;-)), driftet er in seinen Träumen in Kindheitserinnerungen ab. Und so erfährt der Leser, was damals in Mexiko geschehen ist, was aus Lupe und den Freunden aus der Kindheit geworden ist, und warum Juan Diego der Mann ist, der er heute ist.

"Dass ein Müllkippenkind sich ein so anspruchsvolles Vokabular aneignen konnte, war kaum vorstellbar; abgesehen von der schmeichelhaften Zuwendung, die dem Jungen durch Bruder Pepe zuteil wurde, hatte Juan Diego nie eine Schulbildung genossen. Dennoch war es ihm nicht nur gelungen, sich selbst das Lesen beizubringen, er drückte sich auch sehr gewählt aus und sprach sogar Englisch - dabei war er ausschließlich über die amerikanischen Touristen mit gesprochenem Englisch in Kontakt gekommen." (S. 69)

Ein zentrales Thema in diesem Roman sind die Lehren der katholischen Kirche sowie die teilweise fanatische Marienverehrung, die in manchen Ländern betrieben wird. Irving läuft zur sarkastischen Höchstform auf, wenn es darum geht, den Hype, der um die Jungfrau Maria betrieben wird, breit zu treten.
Die beiden Kinder Juan Diego und Lupe verbringen einen Teil ihrer Kindheit unter der Obhut von Jesuiten, so dass sie mit den Geschichten um die Jungfrau Maria mehr als vertraut sind. Und doch können sie die uneingeschränkte Begeisterung für diese Figur nicht teilen: Pilgerstätten und Kirchen geraten zu Schauplätzen von kommerziellen Massenspektakeln; je lauter und schriller das Gebet, desto "gläubiger" ist der Betende. Trotz des Einflusses der Kirche auf ihre Erziehung schaffen es Juan Diego und Lupe, sich ein gewisses Maß an Zweifeln zu bewahren und stehen der Kirche sowie ihrer Marienverehrung mehr als kritisch gegenüber.

"Tatsächlich fehlte es Juan Diego nicht am Glauben. Die meisten Müllkippenkinder sind auf der Suche nach Wundern. Wenigstens wollte Juan Diego an das Wunderbare glauben, an alles mögliche Unerklärliche, doch er zweifelte die Wunder aus der kirchlichen Mottenkiste an, die mit der Zeit immer unglaubwürdiger wurden. Was dem Müllkippenleser gegen den Strich ging, war die Kirche insgesamt: ihre Politik, ihre Eingriffe in die Gesellschaft, Geschichte und Sexualität." (S. 296)

Mit Juan Diego hat Irving eine Figur geschaffen, die einen tiefen Einblick in die Seele eines alternden Schriftstellers gewährt. Mittlerweile in den Fünfzigern geht Juan Diego ein wenig unbeholfen durchs Leben. Er benötigt immer jemanden, der sich um ihn kümmert, für ihn organisiert und ihn durch den Alltag manövriert. Juan Diego hat etwas an sich, was bei anderen Menschen ein Helfer-Syndrom auslöst. Und so trifft er auf Miriam und Dorothy - Mutter und Tochter, die durch die Weltgeschichte reisen. Miriam und Dorothy sind zwei überaus mysteriöse Charaktere in diesem Buch. Man weiß nicht genau, wo sie herkommen und welche Pläne sie haben. Juan Diego fühlt sich zu beiden hingezogen. Und beide vereinnahmen ihn mit Haut und Haaren - mal die Eine und mal die Andere. Doch die beiden haben etwas Übersinnliches an sich. Man fragt sich immer wieder, ob diese Figuren real sind. Doch da Miriam und Dorothy auch von anderen Charakteren wahrgenommen werden und in die Handlung eingreifen, gehe ich davon aus, dass sie mehr als eine Fantasieerscheinung von Juan Diego sind - auch wenn gewisse Zweifel bleiben.

In diesem Roman haben die Frauen das Sagen. Irving scheint seinen weiblichen Protagonisten eine gehörige Portion Dominanz zuzugestehen.
Angefangen bei Lupe, die zwar jünger als ihr Bruder, aber trotzdem die Reifere und Entschlossenere von beiden ist. Ihren Entscheidungen hat Juan Diego alles zu verdanken.
Miriam und Dorothy natürlich, die Juan Diego bemuttern und ihm alle Entscheidungen abnehmen - ob er will oder nicht.
Sogar die Kirche wird von Frauen dominiert. Denn Lupe meint:

"'Was hat Gott schon zu melden?', fragte ihn Lupe. 'Die Jungfrauen haben das Sagen - nicht dass sie wirklich Jungfrauen wären, nicht dass wir überhaupt wüssten, wer sie sind.'" (S. 466)

Einer meiner Lieblingssätze in diesem Roman ist folgender:
"An dem Tag, an dem Frauen aufhören zu lesen, an dem Tag stirbt der Roman!" (S. 59)
Ich frage mich, ob dies als Irvings Verbeugung und Dankeschön an seine größtenteils weibliche Leserschaft zu verstehen ist. Zumindest schmeichelt es der geneigten Leserin doch ungemein;-)

Der Grund, warum Irving aus mir nur eine "ziemlich glückliche Leserin" machen konnte, ist übrigens folgender:
Zum Ende bekommt in dieser Geschichte das Übersinnliche einiges an Raum. Die geheimnisvollen Miriam und Dorothy sowie Geister, die auf Hoteltoiletten und in Kirchen auftauchen sind Mysterien, gegen die sich mein gesunder Menschenverstand aufs Heftigste zur Wehr setzt. Ich bin froh, dass diese "Störfaktoren" erst in den letzten 150 Seiten auftauchen, denn so ist mein Lesegenuss erst zum Ende hin geschmälert worden.

Fazit:
Ich bin ein großer John Irving Fan und habe fast jedes Buch von ihm gelesen. Ich liebe an seinen Büchern, dass man nie weiß, wo die Lesereise hingeht. Irvings Bücher stecken voller Überraschungen. Die Handlungen in seinen Büchern nehmen gern Wendungen an, die selten vorhersehbar sind.
Wenn Irving in Topform ist, sind seine Romane großartig und zeichnen sich durch viele Dinge aus, die ich an einem Irving-Roman so sehr schätze: skurrile Charaktere, Ironie und Sarkasmus, Situationskomik und Überraschungseffekte. Bei "Straße der Wunder" ist Irving fast wieder zur Topform aufgelaufen. Die ersten 600 Seiten waren für mich ein Hochgenuss, bei dem ich aus dem Grinsen nicht mehr herausgekommen bin. Und auch wenn mich Irving mit den verbleibenden 150 Seiten abgehängt hat - mit Übersinnlichem kann ich einfach nichts anfangen - , hat mir dieser Roman großartige Lesestunden beschert.

© Renie
 
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