Rezension Rezension (5/5*) zu Die Falle: Thriller von Melanie Raabe.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Die Handlung:

Die Bestsellerautorin Lisa Conrads hat seit der Ermordung ihrer Schwester Anna vor 11 Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Ihr Leben spielt sich also auf allerkleinstem Raum ab, im immer gleichen Trott, mit dem immer gleichen Ausblick aus dem Fenster. Jahr für Jahr schreibt sie mit schöner Regelmäßigkeit ein neues Buch, auch wenn sie neue Impulse nur noch über Internet und Fernsehen bekommt. Menschlichen Kontakt hat sie kaum noch, abgesehen von ihrer Putzfrau und ihrem Literaturagenten. Sie kann nicht loslassen, denn Annas Mörder wurde nie gefasst - obwohl Lisa das Gesicht des Mannes damals sogar gesehen hat. Und solange sie nicht loslassen kann, kann sie auch nicht wirklich weiterleben.

Doch dann sieht sie IHN eines Tages im Fernsehen: den Mörder ihrer Schwester. Auf einmal hat sie seinen Namen, und nach gründlicher Recherche weiß sie alles über ihn. Sie hat Angst davor, dass die Polizei ihr nicht glauben wird, aber sie kann aufgrund ihrer Panikattacken das Haus nicht verlassen, um den Mörder selber zu jagen und zu stellen.

Also bleibt ihr nur eine Möglichkeit: sie muss den Mörder zu sich locken, ihm die perfekte Falle stellen...

Meine Meinung:

Die Grundidee fand ich schon sehr originell und spannend, gerade weil die Situation für einen Thriller eher ungewöhnlich ist. Normalerweise gibt es in einem Buch dieses Genres viele "Spielfiguren": Polizisten, Gerichtsmediziner, Freunde und Nachbarn des Opfers, diverse Zeugen, vielleicht Leute aus dem Umfeld des Mörders und so weiter. Oft kommt auch der Mörder selbst zu Wort. Aber hier... Hier gibt es erst nur Linda und ihre verquere, klaustrophobische kleine Welt. Sie hatte 11 Jahre Zeit, um über den Mord nachzudenken, und dennoch beherrscht er immer noch ihr ganzes Leben. Sie ist so besessen davon, dass sie keinen Platz mehr hat in ihrem Kopf oder Herzen für "normale" Gefühle.

Und dann ändern wenige Sekunden alles, zerschmettern einfach so das fragile Glashaus von Lindas Realität - Sekunden, in denen sie den Mörder im Fernsehen sieht und sich ihre ganze Obsession darauf richtet, ihn zur Verantwortung zu ziehen und endlich, ENDLICH Antwort auf die eine große Frage zu bekommen: WARUM?

Zitat:
Meine Welt liegt in Schutt und Asche. Ich sitze auf meinem Bett, inmitten der Trümmer, und starre auf den Fernseher. Ich bin eine offene Wunde. Ich bin der Geruch von rohem Fleisch. Ich klaffe weit auf. (...) Dieses Bild, dieses Gesicht, ich ertrage es nicht.

Ich war sehr beeindruckt davon, wie unglaublich geschickt und clever die Autorin einen Thriller aufbaut, der sich zu 90% im Kopf der Hauptfigur abspielt, ohne dass es langweilig wird. Linda begibt sich mit messerscharfem Verstand daran, die perfekte Falle zu konstruieren, mit den Waffen einer Schriftstellerin und ohne ein einziges Mal das Haus zu verlassen.

Das ist alles so ausgefuchst und perfekt durchdacht! Und am interessantesten fand ich, dass man als Leser schnell anfängt zu hinterfragen, inwieweit man Lindas Erinnerungen trauen kann. Immerhin war hier eine schwer traumatisierte Frau mit überbordender Fantasie 11 Jahre lang mit ihren Gedanken eingesperrt. Sie zweifelt selber an sich, spielt Erinnerungen bis ins kleinste Detail durch und fragt sich dann: aber war das wirklich so...?

Insofern ist nicht nur spannend, ob der Mörder in die Falle gehen wird, sondern auch, ob er überhaupt wirklich der Mörder ist! Im Laufe des Buches habe ich meine Meinung dazu bestimmt ein Dutzend mal geändert, und bis zum Schluss war ich mir nicht sicher.

Linda ist in meinen Augen ein großartiger Charakter, denn sie ist zwar eine unzuverlässige Zeugin, aber dabei als Mensch einfach authentisch und glaubhaft. Und ich habe stets mir ihr mitgefühlt und mitgefiebert - egal, ob ich sie jetzt gerade für einen hochintelligenten, knallhart kalkulierenden Rachenengel hielt oder für eine zutiefst verletzte Hinterbliebende, der die Trauer den Verstand geraubt hat.

Und ER, der Mann aus ihren Albträumen: lange Zeit sieht man ihn nur gefiltert durch Lindas verzerrten Blick, und das kam mir ein bisschen so vor wie bei einem dieser holographischen Postkarten, auf denen man zwei unterschiedliche Motive sieht, je nachdem, wie man sie hält... Mal wirkte er auf mich wie ein unschuldiger, aufrichtiger Mann, der völlig ahnungslos in das alles hineingezogen wird, und dann wieder wie ein durchtriebenes, skrupelloses Raubtier, das mit seinem Opfer spielt. Hin, her, hin, her...

Den Schreibstil fand ich wunderbar. Linda erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive und man merkt, dass sie Schriftstellerin ist: ihre Gedanken haben immer etwas Ausgefeiltes. Mal sind sie zart-poetisch, mal wütend und melodramatisch, aber in meinen Augen immer etwas ganz Besonderes.

Fazit:

Eine Autorin mit extremer Agoraphobie schreibt einen Thriller über den Mord an ihrer Schwester - um den Mörder zu sich ins Haus zu locken...

Ich war rundum begeistert von diesem Thriller, sowohl von der vielschichtigen, zwiespältigen Hauptfigur, immer am Rande des Wahnsinns, als auch von dem ungewöhnlichen Schreibstil mit seinen großartigen Bildern. Das Buch spielt damit, dass der Leser sich nie sicher sein kann, was Wahrheit ist und was nur Einbildung, und ich habe noch nie bei einem Buch so oft meine Meinung geändert, wie es wohl ausgehen würde... Und das machte es für mich auch so spannend und interessant!