Wunschloses Unglück

Rezensionen zu "Wunschloses Unglück"

  1. 5
    18. Nov 2019 

    Eine literarische Perle!

    Ein schmales Bändchen. Nur 89 Seiten.
    Aber eine literarische Perle! Eine Perle, die man langsam und konzentriert lesen sollte, damit einem nichts entgeht.

    Peter Handke erzählt vom Leben und Sterben seiner Mutter und stellt gleichzeitig die Gepflogenheiten, Normen und moralischen Einstellungen ihrer Generation dar.

    Es geht um Individualität, bzw. Konformität, Unfreiheit, Anpassung, Unterordnung, Selbstaufgabe, Fassade, Selbstverlust und Entfremdung.
    Es geht um die Bedeutung des Scheins und die Unwichtigkeit des Seins.
    Und es geht, dargestellt am Beispiel seiner Mutter, um die Versuche, sich zu einem eigenständigen Individuum zu entwickeln, sowie um mögliche resultierende Folgen, wie das Absterben jeglicher Lebendigkeit, Resignation, Depression, Suche von Trost in Riten und Religion, sowie Todessehnsucht.

    Vom individuellen Leben zur Gesellschaft.
    Vom Psychogramm zum Sittengemälde.
    Das repräsentative Konkrete als Ausgangspunkt und Anlass für Verallgemeinerung, Reflexion und Abstraktion.

    Im Schweinsgalopp prescht Peter Handke durch das Leben seiner Mutter und das damalige Zeitgeschehen.
    Er schmettert dem Leser präzise und ausgefeilte Sätze entgegen.

    Kein Wort zu viel - keines zu wenig.
    Maximale Verknappung und Verdichtung bei gleichzeitiger präziser Darstellung dessen, was er zum Ausdruck bringen und dem Leser sagen will.

    Der Leser wird mit einer schönen Sprache, bewundernswert treffenden Formulierungen und interessanten Gedanken und Überlegungen verwöhnt.
    Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Armut und Elend?

    Der Autor seziert, was er zu Papier bringen will und findet genau die richtigen Worte, um seine Beobachtungen und Interpretationen auszudrücken.

    Er spielt mit Wörtern und Sätzen - der Ausdruck „Sprachakrobatik“ kommt mir in den Sinn.

    Ein Beispiel/Zitat:
    „Etwas Stoßendes Gestoßenes, Schiebendes Geschobenes, Schimpfendes Beschimpftes“.
    So beschreibt er eine Person in einer Menschenschlange.

    Und noch ein Beispiel/Zitat: „Ruhelos, damit man ruhig blieb, rastlos, um von sich selber los zu kommen.“
    Ist es nicht wunderbar, wie prägnant und poetisch er die psychische Überlebensstrategie der Geschäftigkeit und Ablenkung beschreibt?

    Handke gelingt es, seine Erzählung besonders abwechslungsreich, interessant und spannend zu gestalten, indem er auf Abschnitte, die der Nacherzählung oder Rekonstruktion des Lebens seiner Mutter dienen, Phasen folgen lässt, in denen er reflektiert, verallgemeinert, abstrahiert und assoziiert.
    Als i-Tüpfelchen streut er Absätze aus Briefen seiner Mutter, Gedanken- oder Erinnerungsfetzen ein.

    Der Autor erschafft ein nüchtern-sachliches, pessimistisches, melancholisches, düsteres, zuweilen zynisches, sarkastisches und vielleicht sogar verbittertes Gemälde der Generation der 1920er Jahre.

    Trotz der Schwere der Thematik ist die Erzählung unterhaltsam und fesselnd. In Manchem findet man sich wieder. Manchmal muss man schmunzeln.

    Am Ende der Lektüre fragt man sich, ob es wirklich so schlimm war damals und ob die Generation der einfachen Leute, im Besonderen die Frauengeneration dieser Zeit tatsächlich so tickte, funktionierte und litt.

    Man hat vielleicht eigene Erinnerungen oder Erfahrungen dazu. Man hat Eltern oder Großeltern aus dieser Generation.
    Ein Abgleich mit eigenem Erfahrungswissen drängt sich geradezu auf.

    Darüber hinaus geht es in dem Werk um Themen, die natürlich auch heutzutage eine große Rolle spielen. Themen, die die Menschen mitbringen, wenn sie Beratung oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen.

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