Wolfsegg: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Wolfsegg: Roman' von Keglevic, Peter
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Inhaltsangabe zu "Wolfsegg: Roman"

Ein enges Tal irgendwo in den Bergen: Die 15-jährige Agnes, die so gern ein »Autoschrauber« hätte werden wollen, muss erfahren, wie brutal das Leben sein kann. Wenn die eigene Familie verachtet wird. Wenn jeder jeden kennt und mit jedem eine Geschichte hat. Da stehen dem Missbrauch die Türen weit offen, da wird vertuscht und betrogen, denunziert und getötet, ohne dass der Himmel ein Einsehen hätte. Als der Vater totgeschlagen und die Mutter elendig verreckt ist, hat Agnes nur noch einen Gedanken: Sie muss die »Kleinen«, Bruder und Schwester, vor dem Heim retten, in dem sie einst gelitten hat. Peter Keglevics dramatischer Roman über Agnes und ein namenloses Tal in den Alpen ist eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht – so zärtlich und so brutal erzählt, wie das wohl nur ein Österreicher kann.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783328600985

Rezensionen zu "Wolfsegg: Roman"

  1. Aufrecht gehen, nicht ducken

    Zu Beginn hat mich das Szenario in "Wolfsegg" des Filmregisseurs Peter Keglevic an Monika Helfers empfehlenswerte Frühjahrsnovität "Die Bagage" erinnert. Beide Romane spielen in den österreichischen Alpen und die im Zentrum stehenden armen Familien sind Außenseiter und als asozial Gebrandmarkte, die im hintersten Winkel eines Tals leben. Beide Autoren fangen die beklemmende Atmosphäre einer engstirnigen, missgünstigen, von Machos dominierten Dorfgemeinschaft inmitten einer übermächtigen Natur großartig ein. Allerdings enden damit die Gemeinsamkeiten, denn während Die Bagage autobiografisch geprägt ist und über vier Generationen reicht, ist das wesentlich brutalere, von Beginn an unheilschwangere Wolfsegg auf die ebenso beeindruckende wie schockierende 15-jährige Protagonistin zugeschnitten, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde.

    Ein Mädchen ohne Kindheit
    In sehr jungen Jahren lastet auf Agnes Walder bereits eine ungeheure Verantwortung. Ihr Vater taucht immer wieder tagelang ab, ihre Mutter leidet an Nierenkrebs im Endstadium. So obliegt Agnes die Sorge für die beiden jüngeren Geschwister, den Garten und die wenigen Tiere auf dem bescheidenen Häuslerhof und die Überwachung der Chemotherapie-Termine der Mutter. Agnes liebt ihre Eltern trotz deren offensichtlicher Defizite. Meist verschwindet die Mutter im „Palast des Schweigens“, erst als ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, werden ihre Warnungen vor Agnes‘ neuem Chef konkreter:

    "Wie unterm Laub ein Fangeisen, hatte die Mutter gesagt, plötzlich schnappt es zu! Schlagartig verstand Agnes. Sie kannte die Wirkung des Fangeisens." (S. 53)

    Und im Hinblick auf die Dörfler rät sie Agnes:

    "Nichts wird sein, […], du allein bestimmst, wie sie sich verhalten. Wenn du aufrecht gehst, dann ducken sich die Leut‘, wenn du dich duckst, dann treten sie nach dir.“ (S. 156)

    Der Vater dagegen macht wenig Worte, führt die Tochter aber in sein Handwerk der Waffenkunde, des Schießens und des Weidwerks ein. Vor allem aber zeigt er ihr eine mit Lebensmitteln, Petroleum und einer Solaranlage ausgestattete Berghütte mit Namen Wolfsegg:

    „Niemand weiß, dass es die Hütte gibt, fuhr er fort. Es gibt keine Pläne von ihr, sie ist nirgendwo registriert und in keinem Kataster eingetragen. Auf keiner Karte verzeichnet, keine Wanderkarte führt hierher. Selbst der Name ist längst vergessen. Hier ist man unerreichbar. […] Du bist die Erste, die davon weiß.“ (S. 93)

    Bald wird die Hütte zum Zufluchtsort der Waldner-Kinder, denn so wenig sich Agnes zunächst an die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit erinnern kann, so wild entschlossen stemmt sie sich einer Einweisung ins Kinderheim Maria Hilf! entgegen, wo sie als Neunjährige ein knappes Jahr „Marienkind“ war.

    Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
    Von Beginn an liegt über der Geschichte ein düsteres Geheimnis, das erst mit Agnes‘ allmählich zurückkehrender Erinnerung stückweise gelüftet wird. Die Geschehnisse, nachvollziehbar trotz ihrer Ungeheuerlichkeit und in einer bildgewaltigen Sprache erzählt, sprengten schließlich mein Vorstellungsvermögen. Wer allerdings wie ich den vollen Lesegenuss haben möchte, sollte vorher weder Klappentext noch detaillierte Rezensionen lesen. Ich hatte das Glück, davor gewarnt worden zu sein, und konnte mir die Spannung bis zum dramatischen Ende vollständig erhalten. Auch Tage nach Beendigung lässt mich das Buch nicht los und gehört zu meinen Lesehighlights 2020.

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  1. Von Wolfsegg aus gesehen ist die Welt ein Abgrund.

    Eisenstein irgendwo in einem Alpental. Dort lebt Agnes Walder mit den Eltern und ihren jüngeren Geschwistern. Der Vater hat den Job als Förster verloren. Gestohlen soll er haben, wird behauptet. Die Mutter hat Krebs und nicht mehr lange zu leben. Nach dem Schulabschluss will Agnes gerne etwas „mit Motoren“ lernen. Aber sie landet als Lehrling im örtlichen Lagerhaus und ist dort dem brutalen, besitzergreifenden Vorgesetzten ausgeliefert. Als dieser versucht Agnes zu vergewaltigen, lässt sie sich das nicht gefallen. Es beginnt eine Hetzjagd auf die Familie, bei der Vater umkommt. Als dann auch die Mutter ihrer Krankheit erliegt, flieht Agnes mit den Geschwistern in die Berge zu einer abgelegenen Hütte – Wolfsegg - die man auf keiner Karte findet.
    Peter Keglevic‘ Roman Wolfsegg ist ein zeitloser Roman voller Wucht über Gewalt, Missbrauch und Rache. Die Orte sind fiktiv. Wenn man die Anspielungen versteht, kann man das Geschehen jedoch genau verorten.
    „Eisenstein suchte den Schatten an den Ausläufern des Waldes, der zu beiden Seiten bis zur Baumgrenze hochstieg, dann war der Berg nur mehr Stein. Die Häuser des Städtchens lehnten aneinander wie Eidechsen mit ihren glänzenden Schieferschuppen auf den Dächern.“
    Es ist ein dunkles Durchbruchstal mit schroffen Kalkgipfeln. So schroff wie die Berge sind dort die Menschen und gleich einem Schatten hängt eine unheilvolle Bedrohung über der Geschichte. Es herrscht ein patriarchalisches und sexistisches System in dieser ländlichen Gemeinschaft, bei der Männer das Sagen und Frauen das Nachsehen haben. Ein enges Tal erzeugt engstirnige Menschen. Zwischen Stammtisch und Kirche haben Außenseiter wie die Walders keinen Platz. Mädchen passen allemal nur als Pin-Up in eine Werkstatt. Während Agnes immer mehr dem Dunstkreis der zotigen Aussprüche und der begehrlichen Ansprüche ihres Lehrherren ausgesetzt ist, umso mehr drängen sich ihr auch Erinnerungen an ihre Zeit in einem Kinderheim auf, wo sie einige Zeit untergebracht war.
    Der Vater, der die Zeichen der aufkommenden Gewaltbereitschaft richtig deutet, beginnt Agnes aufs Überleben vorzubereiten, bringt ihr bei zu jagen, schießen, töten und das Wild aufzubrechen. Er wappnet sie gegen das Böse, das jeden Tag näher auf die Familie eindringt.
    „Das Herz müsst‘ man ihm rausreißen, hatte er einmal gesagt, weil da drinnen das Böse wohnt. Und dann müsst‘ man’s einfrieren, damit es bei der Auferstehung nicht mehr in seine Brust passt!“
    Agnes‘ Träume von einer glücklichen Familie und einem guten Ausbildungsplatz werden brutal zerstört. Schock, Trauer und die Bürde der Verantwortung für ihre Geschwister katapultieren Agnes in eine Art Parallelwelt, aus der es kein Zurück mehr gibt.
    Von Wolfsegg aus gesehen ist die Welt ein Abgrund. Die Abgründe menschlicher Bösartigkeit lotet Peter Keglevic mit Präzision aus. Schwer wie ein bleiernes Lot wiegen die begangenen Verbrechen, das Versagen staatlicher Schutzinstitutionen, das Ende mit Schrecken.

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