Was wir scheinen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Was wir scheinen: Roman' von Hildegard E. Keller
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Was wir scheinen: Roman"

Im Sommer 1975 reist Hannah Arendt ein letztes Mal von New York in die Schweiz, in das Tessiner Dorf Tegna. Von dort fliegen ihre Gedanken zurück nach Berlin und Paris, New York, Israel und Rom. Und sie erinnert sich an den Eichmann-Prozess im Jahr 1961. Die Kontroverse um ihr Buch Eichmann in Jerusalem forderte einen Preis, über den sie öffentlich nie gesprochen hat. Mit profunder Kenntnis von Leben, Werk und Zeit gelingt Hildegard Keller ein intimes Porträt, ein faszinierend neues Bild einer der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:576
EAN:9783847900665

Rezensionen zu "Was wir scheinen: Roman"

  1. Überfällig!

    Hannah Arendt, wer bitte? Noch vor einigen Jahren hätte ich das gesagt. Und mich nicht dafür geschämt, dass ich trotz guter Bildung diese Person nicht kannte. Durch Zufall las ich das Buch : Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Hat mich nicht losgelassen. Dazu die Kontroversen, die Hannah Arendt zeit ihres Lebens ausgelöst hat. Sie war der Zeit weit voraus, vor allem, da sie die wissenschafltiche Sicht von der emotionalen trennte. Eine Dokumentation über sie, die aber schön älter war, hinterließ bei mir den Eindruck einer verbitterten kettenrauchenden streitbaren Frau. Um so mehr bin ich von dem vorliegenden Buch begeistert.

    Biografien in Romanform. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Hannah Arendts Beifall gefunden hätte zumal im Bezug auf ihre Person und der vermutlich großen literarischen Freiheit in der Darstellung. Aber ein Leitsatz von ihr war ja auch, andere Sichtweisen und Meinungen aushalten zu müssen. Dieses Buch gibt hier endlich mal den Blick frei auf das ( mögliche ) Leben einer grandiosen Frau, die immer nur auf ihre politische und philosophische, provokante Art reduziert wird, man vergisst zu leicht sie hatte auch ein normales Leben. Die Darstellung ihres Leben wird ja von einem konkreten Rahmen und guter Recherche begleitet und gibt einen guten Einblick, wie es wirklich hätte sein können. Gerade Zitate, Gedichtfragmente und andere orignale Beiträge dokumentieren dies.
    Was ich mir für das Buch wünschte: Ein konkreter Vermerk auf dem Cover, um welche Persönlichkeit es hier geht. Hätte ich nicht durch einen banalen Zufall die Kurzzusammenfassung gelesen, wäre das Buch an mir vorbeigegangen.

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  1. Portrait der Hannah Arendt

    Im Sommer 1975 reist Hannah Arendt ein letztes Mal von New York in die Schweiz. In dem kleinen Tessiner Dort Tegna erinnert sie sich an die Vergangenheit und reist gedanklich an unterschiedliche Stationen: Berlin, Paris, New York, Israel und Rom. Natürlich kommen auch die Erinnerungen an den Eichmann-Prozess im Jahr 1961 hoch und damit an ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“, das bis heute umstritten ist.
    Dier Autorin Hildegard Keller erzählt mit Sachverstand über Hannah Arendt. Ich denke, dass dieses Buch nicht jedermanns Sache ist. Mann muss sich schon für Hannah Arendt und die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren. Der Erzählstil ist anspruchsvoll und nicht ganz einfach zu lesen, so dass ich für das Buch eine Weile gebraucht habe. Ich hatte auch erwartet, mehr über ihre Internierung und den Eichmann-Prozess zu erfahren, doch das wird relativ kurz abgehandelt. Dafür lernt man die lyrische und philosophische Seite von Hannah Arendt besser kennen. Sie hat viele berühmte bekannte Persönlichkeiten kennengelernt und sie erinnert sich an diese Kontakte zurück.
    Sie war eine eigensinnige und kämpferische Frau, die häufig angeeckt ist.
    Dieses Portrait über Hannah Arendt ist ein Roman der ruhigen Töne. Mit hat es gefallen.

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  1. 5
    08. Mär 2021 

    Einfühlsames und lebendiges Portrait

    Hildegard Keller schätze ich als kompetente und sympathische Gesprächspartnerin aus dem Schweizerischen Literaturclub. Sie ist Professorin für Literatur an der Universität Zürich, lehrte zehn Jahre lang in den USA und war von 2009-2019 Jurorin beim Ingeborg- Bachmann- Wettbewerb. Mit „ Was wir scheinen“ hat sie ihr Debut vorgelegt, eine Romanbiographie über Hannah Arendt, eine der bedeutendsten Frauen des 20. Jahrhunderts.
    Es beginnt mit einer Zugfahrt. Die 69jährige Hannah Arendt ist auf dem Weg nach Tegna, einem kleinen Dorf im Tessin und freut sich auf vier Wochen Erholung. Es sollte ihr letzter Sommer sein; Hannah Arendt starb im Dezember 1975 in New York.
    Diese Reise ist der Ausgangspunkt zu einer Reise in die Vergangenheit.
    Hildegard Keller hat ihr umfangreiches Buch in zwei Erzählsträngen angelegt.
    Der eine, die Wochen im Tessin, ist gewissermaßen die Rahmenhandlung.
    Der zweite Erzählstrang beginnt im Jahr 1941, mit Hannah Arendts Ankunft in Manhattan. Hinter ihr, der Jüdin aus Königsberg, liegen Jahre der Flucht. Der Anfang im Exil ist für sie, ihren Mann Heinrich Blücher und ihrer Mutter nicht leicht. Hannah Arendt verdient den Lebensunterhalt mit Artikeln und Essays für diverse Zeitungen, v.a. für das deutsch -jüdische Magazin „ Aufbau“. Nach dem Krieg hatte sie an verschiedenen Universitäten Professuren inne.
    Und im Jahr 1961 reist Hannah Arendt als Journalistin für die Zeitschrift „ The New Yorker“ zum Jahrhundertprozess gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem. Hannah Arendt will auch hier verstehen: „ Wie kommt ein Mensch dazu, sich in einen Massenmord verwickeln zu lassen und pflichtgetreu nur seine grauenhafte Arbeit zu verrichten, ohne sich auch nur eine Sekunde lang auszumalen, was er da tut?“
    Mit ihren Artikeln und dem daraus resultierenden Buch „ Eichmann in Jerusalem“ sorgte sie für heftige Debatten und es gab Anfeindungen, v.a. von jüdischer Seite. Denn Hannah Arendt ging völlig neutral an das Thema heran und sprach danach von der „ Banalität des Bösen“. Sie wollte das Böse nicht dämonisieren, sondern die vermeintliche Größe des Bösen zerstören. Eichmann, „ der Mann im Glaskasten“, erschien ihr als ein völlig gewöhnlicher und durchschnittlicher Mensch, lächerlich in seinem Gehabe und seinem Auftreten. „ Ich war frappiert von der Seichtheit des Täters. Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter - zumindest jene einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand - war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich.“
    Hildegard Keller zeigt Hannah Arendt als freien, selbständigen Geist, der sich „ zwischen den Stühlen richtig fühlt“. Trotzdem haben sie die Vorwürfe, insbesondere von den Freunden, schwer getroffen.
    Freundschaften waren ihr zeitlebens sehr wichtig . Sie pflegte sie mit zahlreichen Intellektuellen ihrer Zeit ( Karl Jaspers, Kurt Blumenfeld, Mary McCarthy u.a.) Gespräche mit ihnen waren essentiell für ihr Denken. Zahlreiche Briefe zeugen von ihrer Verbundenheit.
    Dabei scheute sie nicht die Kontroverse. Der Disput war wichtig, aber die Freundschaft sollte nicht darunter leiden. Denn : „ Menschen sind mehr wert als ihre Meinungen.“
    Hildegard Keller zeigt uns in diesem Buch die private Hannah Arendt, wir erleben sie als Tochter, Geliebte, Ehefrau, Freundin, Professorin und Philosophin. Sie war eine Intellektuelle mit Witz und Humor.
    Um uns ihr Denken nahezubringen, gibt es zahlreiche Dialoge; Gespräche mit ihrem Mann, mit Kollegen und Freunden. Und in einem Hörsaal stellt sich Hannah Arendt den Fragen der Studierenden und erzählt ihren Werdegang. Sie gibt den jungen Menschen Ratschläge auf den Weg wie : „ Stop and think. Denken ist nicht ungefährlich, aber ich halte das Nichtdenken für gefährlicher. Suchen Sie sich‘s aus.“ Oder : „ Carpe die. Nutzen Sie Ihre Zeit in der Welt. Wer zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, merkt nicht, worum es in Wirklichkeit geht.“
    Hildegard Keller bedient sich dabei einer Vielzahl von Originaltexten, die sie sinngemäß oder wortwörtlich zitiert.
    Sie bringt uns dabei auch die lyrische Seite Hannah Arendts näher, indem sie Gedichte und ein Märchen von ihr locker in den Text einbindet. So stammt auch der Titel „ Was wir scheinen“ aus einem Gedicht der Philosophin.
    „ Was wir sind und scheinen,
    ach wen geht es an.
    Was wir tun und meinen,
    niemand stoß sich dran.“
    Doch angeeckt mit ihrem Denken ist Hannah Arendt immer wieder.
    Hildegard Keller hat intensiv recherchiert und unendlich viel Material zu einem geschmeidigen Text verarbeitet. Die Sprache ist leicht verständlich, die einzelnen Ebenen sind elegant miteinander verwoben. Trotzdem ist es keine ganz leichte Lektüre.
    Mit „ Was wir scheinen“ ist der Autorin ein einfühlsames und lebendiges Portrait dieser bedeutenden Philosophin gelungen.
    Allerdings sollte man als Leser gewisse Vorkenntnisse mitbringen. Ansonsten versteht man nicht gleich, wer sich hinter Kurt, Karl, Günther, Mary und Benji verbirgt. Der Verlag hat es leider versäumt, ein sorgfältiges Register der wichtigsten Personen aus Hannah Arendts Umfeld hinzuzufügen.
    So blieb mir anfangs nur die Recherche im Internet.
    Im Anschluss an das Buch empfehle ich den 2012 erschienenen Film „ Hanna Arendt“ von Margarethe von Trotta und auf YouTube das legendäre Interview von Günter Gaus aus dem Jahr 1964 und natürlich die Werke von Hannah Arendt.

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