Über Menschen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Über Menschen: Roman' von Juli Zeh
4.3
4.3 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Über Menschen: Roman"

Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht. Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:416
Verlag:
EAN:9783630876672

Rezensionen zu "Über Menschen: Roman"

  1. Es menschelt gewaltig in der Provinz.

    In die Falle der Befindlichkeitsliteratur tappt auch Juli Zeh mit ihrem jüngsten Roman. Wenn sie sich also vorgenommen hat, über Menschen zu schreiben, die sich den obengenannten Krisenerscheinung unserer jüngsten Gegenwart stellen müssen, so beschreibt sie keine allgemeingültiges Verhalten, sondern die Befindlichkeiten der hippen Grosstadt-Mittelschicht. Und das macht diesen Roman mehr als problematisch. Indem er so tut, als erzähle er über "den" Menschen beschreibt er tatsächlich die Befindlichkeit einer kleinen, gut aufgestellten Menschin aus Berlin, die sich zwischen Sinnsuche und Alltagsbewältigung mächtig ins Zeug legt. Frau kauft sich nach unausgesprochener Trennung von ihrem Partner ein Häuschen in der Provinz, um dort ein wenig Abstand von Klimakrise und Pandemietreiben rund um den ersten Lockdown zu bekommen. Hier soll die Läuterung erfolgen, in aller selbstgewählter Einfachheit. Eine Auszeit nehmen, heisst das im Jargon der Wohlstandsverwöhnten. Alles ist anders als in Berlin und in all dem Fremdeln am naziverseuchten dumben Ort versucht Frau Dora sich als Gärtnerin. Die Landbevölkerung ist dabei hilfsbereit. Das Leben plätschert so dahin, Home Office herrscht, Mobilität ist unterbunden, Seite um Seite, Tag um Tag, Betrachtung um Betrachtung langweilt sie uns mit Betrachtungen, die wir ohnehin schon kennen. Mehr als 200 Seiten braucht die Autorin, um zum Punkt zu kommen, um den Knoten der Erzählung so weit zu schürzen, damit wir endlich wissen, worum es im Roman dramatisch gehen mag. Juli Zeh tappt dabei gleich ins nächste Klischee: in das von der faschistischen Provinz. Der Nachbar, der *Nazi vom Dorf*, wie er sich selbst mit Stolz nennt, kuckt mit Brutalo-Charme über die Gartenmauer und feiert mit seinen rechtsextremen Kameraden lautstarke Gartenparties. Seine Tochter verwahrlost nebenan, wäre da nicht der hässliche Hund der Ich-Erzählerin, der Liebe und Zuneigung spendet. Der Nazi aber kuckt dumm über die Mauer und droht, den Hund *platt zu machen*. Gerade in diesen "Anti-Helden" darf sich die sensible Werbetexterin Dora auf eine sehr verquere Weise vergucken: so spielt also das Leben!

    Damit wären die Kontrapositionen definiert: da die linksliberale Werbetexterin aus Berlin mit Hund, dort der dem Untergang geweihte Neonazi mit verwahrloster Tochter: hie Mittelstandskultur, dort Unterschichtkultur. Brückenbauen ist daher angesagt, damit aus dem lädierten und vernachlässigten Land auch gefühlsbereite Mittelstandsoase werden kann. Zumindest wohl fühlen soll man sich dort können. Darauf hat der Mittelstand wohl Anspruch. Deshalb menschelt es auch gewaltig und insbesondere zwischen beiden Protagonisten: manche verwechseln das mit Menschenrechten. Man hört es geradezu knistern. Das Land erfüllt sich mit dem Geist des linksliberaler Unentschlossenheit, ein behütetes Leben wird rege, eine höhere Tochter, welche vom Jaguar fahrenden Vater bürgerlich massvoll unterstützt wird. Kein Anlass zur Sorge, alles nur vorübergehend! Die Klischees füllen das Buch unweigerlich, Seite für Seite, da hat die Autorin kein Erbarmen mit uns.

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  1. Typisch Juli Zeh!

    !ein Lesehighlight!

    Klappentext:

    „Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.“

    Juli Zehs neuer Roman ist eine geniale Zusammenfassung der aktuellen Sichtweise auf die Schicht der Menschen, die in unserem Land, auf unserem Erdball leben. Wer so schreibt und die Menschen analysiert, hat eine enorme Auffassungsgabe! Ihre Wortwahl ist dabei wieder ein Garant für Gedanken zwischen den Zeilen. Zeh‘s Worten darf man niemals eine zu tiefe Bedeutung schenken bzw. sich in ihnen festbeißen, denn dann gerät man ins stocken, ins grübeln, und versteht alles falsch, was es falsch zu verstehen gibt. Hier sollte man auch grundsätzlich den eigenen Verstand ausschalten und nur Zehs !Wortbildern! Bedeutung schenken. Man muss hier zwingend zwischen Zeilen lesen! Juli Zeh geht dabei wieder analytisch vor, und nimmt hier Protagonistin Dora inklusive Hund und ihre Lebenssituation unter die Lupe. Ihre Ankunft im „neuen Heim“ ist so grotesk morbide, das es bildlich wird vor dem inneren Auge, das man genau riechen kann, wie die Landluft schnuppert….Nein, das ist kein Heimatroman sondern eine geballte Analyse. Doras Nachbar gehört definitiv zu einem ganz besonderen braunen Spektrum und anhand von bereits erschienen Rezensionen, hatte ich genau deren Reaktionen darauf hin erwartet. Es wird von vielen Lesern so empfunden, das Zeh hier einen Nationalsozialisten „schön“ redet - wer das denkt, kennt Zeh‘s Schreibstil nicht und wird dieses Buch verteufeln. Juli Zeh wollte das mit Sicherheit niemals, sie wollte nur eines, „Über Menschen“ schreiben, diese Seelen offen legen, egal welche Gesinnung sie haben, sie redet, schreibt einfach nur über Menschen und deren Charakter. Das was sie schreibt über diesen kahlrasierten Typen, ist keineswegs „puppig“ und „nett“, es ist eine reine Betrachtung. Diese Betrachtungen erleben wir durch Dora und tauchen extrem tief in eine Gedankenwelt ab. Juli Zeh wäre nie in der Lage eine Autobiografie über sich zu schreiben, dafür braucht sie immer Charaktere, denn genau so auch hier, wissen wir Leser nie genau, schreibt sie hier Doras Gedankenwelten auf oder ihre eigenen Erfahrungen? Ist alles Fiktion oder doch Realität? Dora wird zum Sinnbild für Sinnsuche in diesem Buch, das über Menschen spricht, wie sie hier leben, wie wir sind, aber dennoch spiegelt hier auch die Gesellschaft unseres Landes sich wieder.

    Ein extrem aktueller Roman, der grandios erzählt wurde, der Witz und Charme an der richtigen Stelle hat, der unheimlich nachhallt, der vor Spannung strotzt und der die Leser spaltet - genau das ist Juli Zeh! 5 von 5 Sterne!

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  1. Bracken, ein kleines Straßendorf

    "Ich bin ohnehin eine Schriftstellerin, die stets versucht, möglichst nah am Puls der Zeit zu schreiben.
    Bei "Über Menschen" ist das noch intensiver geworden. Ich hatte die erste Fassung des Romans schon geschrieben, als sich die Pandemie über die Welt auszubreiten begann. Für mich war es ausgeschlossen, an dem Text weiterzuarbeiten, ohne darauf zu reagieren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrieben und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen. Das war einerseits ein Wagnis, so nah an den täglichen Entwicklungen zu schreiben, andererseits war es aber auch spannend und für mich eine Möglichkeit, Dinge zu verarbeiten, die für uns alle schwer und belastend sind."
    Zitat: Juli Zeh

    Inhalt
    Dora, sechsunddreißig Jahre alt, ist eine erfolgreiche Werbetexterin. Sie lebt mit Robert, ihren überspannten Freund mit Übermotivation fürs Klima, zusammen und befindet sich selbst im Home-Office des Corona-Lockdowns. Doch sie hält es in ihrer WG mit Robert nicht mehr aus. Sie braucht Veränderung, ein Ortswechsel ist die Lösung. Sie zieht mit ihrem Hund in ein kleines brandenburgisches Dorf. Bracken, ein kleines Straßendorf. Schon vorher hat sie heimlich ein altes Gutsverwalterhaus, 4000 qm, renovierungsbedürftig auf einem verwilderten Grundstück mit großen Bäumen, gekauft.
    Sie richtet sich ein und merkt schnell, dass es auch ein neues Leben mit Andersdenkenden wird. Gemeinsam mit ihrem Hund Jochen-der-Rochen entdeckt sie zunehmend eine für sie fremde Welt.

    „In Doras Augen ist Nachbarschaft eine Form von Zwangsehe. Man kann glücklich miteinander werden, aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch.“ (S. 40)

    Sie lernt Gottfried, genannt Gote, kennen, der sich Dora direkt als Dorfnazi vorstellt. Er verfügt über einen Schlüssel zu ihrem Haus. Sie lernt den Handwerker Heini kennen und das Paar Tom und Steffen. Von allen erfährt sie große Hilfsbereitschaft, wie sie es bisher noch nicht kannte. Früher wurde ihr von ihrem Vater, dem berühmten Gehirnchirurgen aus Münster und auch von ihrem Bruder das Weltbild vermittelt, dass „Menschen dazu da sind, sich um ihn zu kümmern. Besonders Dora." (S.111)
    Doch hier in Bracken herrschen andere Regeln. "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht so leicht über die Menschen erheben." (S.128) Es gibt eine Nachbarschaft bei der jeder jedem hilft. Das Fahrrad ist keine Leihgabe, sondern ein Geschenk. Plötzlich liegt ihre Matratze auf einem eigens für sie angefertigten Bett und auf ihrem Lieblingsplatz, dem Treppenabsatz vor dem Haus, stehen eines Tages Küchenstühle.
    Hier, in diesem Dorf mit seinen Menschen verändert sich etwas in Dora vom Nachdenken zum Umdenken. Sie beginnt ihr eigenes Leben neu zu sortieren.

    Stil und Sprache
    „Weitermachen. Nicht nachdenken.
    Dora rammt den Spaten in den Boden, zieht ihn wieder heraus, durchtrennt mit einem Hieb eine hartnäckige Wurzel und wendet das nächste Stück sandiger Erde. Dann wirft sie ihr Werkzeug beiseite und presst die Hände ins Kreuz. Rückenschmerzen. Mit – sie muss kurz rechnen – 36 Jahren. Seit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss sie immer nachrechnen, wenn es um ihr Alter geht.“ (S.7)

    Der Roman hat 50 kleine Kapitel, die sich auf drei große Kapitel aufteilen.
    Juli Zehs Erzählperspektive ist an Dora ausgerichtet. Einfühlsam, intensiv und auch sehr scharfsinnig, manchmal zum Schmunzeln werden Menschen mit ihren Ängsten und Sorgen dargestellt. Das tägliche Leben wird pointiert mit skurrilen, witzigen und nachdenklichen, sehr traurigen Szenen. Trotzdem erscheint an der Oberfläche der Zusammenhalt in diesen herausfordernden Tagen einer modernen, aber unsicher und brüchig gewordenen Gegenwart. Wie ein Bild lässt die Sprache Menschen mit den unterschiedlichsten Facetten entstehen. Dora trotzt allen Spannungen zwischen Pandemie und Rechtsradikalismus auf angenehm pragmatische Weise. Juli Zeh hat es geschafft, eine aktuelle und bewegende Geschichte zu schreiben, hautnah „am Puls der Zeit“.

    „Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrieben und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen.“ Zitat Juli Zeh

    Fazit
    Juli Zeh ist eine sehr aktuelle und bewegende Geschichte gelungen, die zum Nachdenken anregt und unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält. Vorurteile werden in Frage gestellt. Kann man einen Nazi mögen? Man kann. Menschen finden zueinander, die normalerweise in der heutigen Zeit kaum noch zueinander finden würden. Menschen begegnen sich auf Augenhöhe. So scheint alles in Bracken möglich zu sein.

    “Weil du alles einfach haben willst, ist die Welt immer falsch für dich. Deshalb bist du auch so unruhig.” (S.161)

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  1. Blühende Freundschaften

    "Kohls blühende Landschaften gibt es bis heute nicht, die blühenden Freundschaften von Bracken dagegen schon." (S. 346)

    Der neue Romantitel von Juli Zeh ist ein gelungenes Wortspiel: Auf "Unterleuten" (2016) folgt nun "Über Menschen", Anklänge an Friedrich Nietzsche nicht zufällig. Beide Romane spielen in unterschiedlichen fiktiven Dörfern in der Prignitz im nordwestlichen Brandenburg, "Unterleuten" im Jahr 2010, "Über Menschen" im ersten Corona-Frühling und -Sommer 2020.

    Flucht
    Anstatt vieler Perspektiven gibt es dieses Mal nur die Sicht einer Protagonistin: Dora Korfmacher. Die hat mit 36 Jahren ein immer anstrengenderes, zuletzt unerträgliches Leben in Berlin aufgegeben und ist mit ihrer Mischlingshündin Jochen-der-Rochen in ein kurz vor der Pandemie ohne bestimmtes Ziel erworbenes, heruntergekommenes ehemaliges Gutsverwalterhaus mit grauer Stuckfassade und verwildertem Grundstück gezogen. Aus 80 Quadratmeter saniertem Altbau mit Balkon in Kreuzberg wird Dorfrandlage von Bracken, bröckelnde Straßen, efeuüberwucherte ehemalige Kneipen und komplett fehlende Infrastruktur. Vordergründig hat die Wende ihres Lebenspartners Robert vom überzeugten Klimaschutzaktivisten zum fanatisch-selbstgefälligen Corona-Apokalyptiker den Ausschlag gegeben, es ist aber auch eine Flucht vor der Überforderung im sich immer schneller drehenden Projekte-Hamsterrad einer Werbeagentur für nachhaltige Produkte.

    Neue Nachbarn
    Nicht dass Dora nicht gewarnt gewesen wäre:

    "In die Prignitz? Was willst du denn bei den ganzen Rechtsradikalen?" (S. 45)

    Unverblümt stellt sich der kahlgeschorene neue Nachbar jenseits der Mauer, Gottfried Proksch, genannt Gote, vor:

    „Angenehm“, sagt Gote, „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ (S. 45)

    Gote lebt in einem Bauwagen im eigenen gepflegten Garten neben seinem Haus, beherbergt die wegen Corona vorübergehend bei ihm untergebrachte zehnjährige Tochter Franzi und entpuppt sich als ebenso hilfsbereit wie radikal.

    Da es bei 285 Einwohnern keine Anonymität gibt, keine Möglichkeit für Dora, sich in der eigenen Blase zu bewegen, kommt sie den 27 Prozent AfD-Wählern zwangsläufig nah:

    "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich daran gewöhnen müssen." (S. 128)

    "Über Menschen" ist eine wohlkalkulierte Zumutung für die Leserinnen und Leser. Kaum hat man sich angesichts der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft und väterlichen Zuneigung von Gote leicht entspannt, pöbelt er über „Pflanzkanacken“, erzählt von Pyrotechnik vor Flüchtlingsheimen, beschimpft eine indische Ärztin oder grölt mit Kumpanen das Horst-Wessel-Lied. Heini, ebenso handwerklich begabt wie Gote, würzt seine selbstlosen Hilfseinsätze mit rassistischen Sparwitzchen. Sadie, alleinerziehende Mutter in Dauernachtschicht, mit einer Wirklichkeit, „in der es um Dinge geht, von denen in Prenzlauer Berg niemand etwas ahnt“ (S. 216/217), beklagt ungerechtfertigte Unterstützung für „die Ausländer“. Das schwule Pärchen Tom und Steffen hat einen AfD-Sticker neben der Klingel („Geht ja nicht anders.“ S. 126), obwohl Steffen in seinem Kabarettprogramm Rechte aufs Korn nimmt.

    Leicht zu lesen, schwer zu verdauen
    Juli Zeh lässt uns Dora, die mit Youtube-Videos gärtnernde Städterin, beim Erlernen der Dorfregeln und beim Aushalten der Ambivalenzen ihres neuen Lebens zuschauen:

    "Eine Bedrohung des lebenswichtigen Irrtums, man könne das Gute und das Böse spielend leicht auseinanderhalten." (S. 194)

    Dora muss, will sie bleiben, Klischees auflösen, lernen, miteinander – statt wie in Berlin übereinander – zu reden und den Glauben an die eigene Überlegenheit aufgeben.

    Sehr gelungen sind die oft entlarvenden Dialoge voller sprachlicher Missverständnisse und Doras automatisch anspringendem Werbetexter-Hirn.

    Ob wir diesen Roman auch noch in zwanzig oder dreißig Jahren lesen werden? Ich bin mir nicht sicher. Aber ein interessanter, lesenswerter Diskussionsbeitrag zu aktuellen deutschen Befindlichkeiten ist er auf jeden Fall.

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  1. Am Ende sind wir alle. nur Menschen

    Inhalt: 2020 - Dora beschließt ihren persönlichen Lockdown und flieht zusammen mit ihrer Hündin Jochen der Rochen aus Berlin hinaus aufs Land. Doch statt ruhiger Landidylle zieht es sie in ihr neu erworbenes Domizil mitten im Nichts nach Bracken in Brandenburg. Sie hofft auf Abstand und Ruhe nach der Enge einer komplizierter werdenden Beziehung, die immer stärker von Klima- und Pandemieaktivismus durchdrungen wird. Doras innere Zerrissenheit will trotz allem nicht zur Ruhe kommen. Erst als die Dorfbewohner mehr Raum in ihrem Leben einnehmen und ihre vorgefertigten Schubladenraster nicht mehr passen wollen, kann sie sich ihren Ängsten stellen und gewinnt eine neue Sicht auf sich und die Menschen.
    Juli Zeh gibt mit Covid 19 nur den Zeitrahmen vor, nicht die Handlung. Es geht um unsere Gegenwart, den Umgang miteinander, das Vergessen von kleinen wunderbaren Dingen, Ängsten und deren Bewältigung und um Stärke im richtigen Moment zu handeln.

    Bracken, ein fiktiver Ort in Brandenburg, ist so beschrieben, wie man sich als Außenstehender ein ostdeutsches Dorf mit schwacher Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und desillusionierten, wortkargen Menschen vorstellt. Hier möchte man nicht tot über den Zaun hängen. Aber genau an diesen Ort zieht es die 36-jährige Werbetexterin Dora. Nur weg aus Berlin und aus der Beziehung. Sie stört sich weder an dem maroden Zustand ihrer erworbenen Immobilie, noch an fehlenden Möbeln. Plan- und ahnungslos widmet sie sich ihrem Garten in der Hoffnung, einmal Freunde einladen zu können, sie sie gar nicht besitzt.

    "Inzwischen kennt sie eine Menge Formen von Unruhe, Furcht und Aufregung. Sie hat die verschiedenen Zustände beobachtet, analysiert und katalogisiert. Sie ist eine Archivarin der Nervositäten."
    Wer Dinge gerne nach Schwarz und Weiß sortiert, sollte sich auf ein Leseabenteuer gefasst machen. Juli Zeh ist es glaubhaft gelungen, einem "Dorf-Nazi", wie sich Doras Nachbar Gote selbst vorstellt, ein fast schon liebenswertes Profil zu verpassen. Der anfänglich grobe Nachbar, der sich hinter einer Mauer von Doras Grundstück abgrenzt, zeigt mehr und mehr raue, liebenswürdige Facetten. Heimlich wandern Möbel von ihm in Doras Haus, er organisiert einen weiteren Nachbarn, um dem Unkraut den Garaus zu machen. Aber gleichzeitig lernt man seine Vergangenheit kennen: eine Messerattacke, Nazigesänge und offen gezeigte Fremdenfeindlichkeit. Doras anfängliche Abneigung Gote gegenüber bröckelt, weiß sie doch die guten Seiten zu schätzen. Fragen und Ängste türmen sich dennoch in Dora auf. Darf man einfach wegschauen? Sollte man etwas unternehmen?

    "Das Gehirn gewöhnt sich an die Vorgaben der Angst, integriert sie ins Denken und verwischt die Spuren. Man leidet nicht unter der Angst, man praktiziert sie."
    Vorbei ist es mit der selbst gewählten Einsamkeit, denn das brandenburgische Dorfleben schwappt ungefragt in Doras Leben. Trotz aller Gesellschaftskritik fließt auch eine Welle Humor durch die Handlung. Nachbar Heini schreckt vor keinem zu platten Witz zurück und zwei schräge Unternehmer, die anfangs als Drogenanpflanzer verdächtigt werden, stellen sich als blumensträußchenbindende AfD'ler und Comedian heraus. Zu lange darf man sich aber nicht an den unterhaltsamen Stellen aufhalten. Denn wie so oft im Leben wendet sich das Blatt und die Angst gewinnt wieder die Oberhand.

    "Auf der Rückseite dieser Liebe wohnt die Angst, einander zu verlieren. Ebenso grenzenlos, ebenso abgrundtief. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann."
    Mich hat dieser Roman überraschend in seinen Bann gezogen. Nicht nur die besonders gut herausgearbeiteten Charaktere, sondern auch die politische Grundstimmung dieser Zeit ist deutlich spürbar. Die Handlung regt an vielen Punkten zum Nachdenken und Hinterfragen an und macht deutlich: Es geht hier nicht um Rollen, Schubladen oder Kategorien. Am Ende sind wir alle nur Menschen.

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  1. 4
    05. Apr 2021 

    Jochen der Rochen

    Der erste Lockdown in der Corona-Pandemie läuft. Die Menschen sind alle irgendwie seltsam geworden. Jeder hat Recht und es wird nicht miteinander geredet. Robert, Doras Freund ist besonders überzeugt, dass das Klima gerettet werden muss und die Corona-Maßnahmen einzuhalten sind. Dora hat vor einiger Zeit ein heruntergekommenes Haus in Brandenburg erworben und nun nimmt sie ihren kleine Hündin Jochen und zieht aufs Land. Auch dort sind die Menschen seltsam, aber anders. Will Dora dort bleiben? Immerhin kann sie jederzeit in die Stadt, wenn sie denn irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel findet. Erstmal fängt sie an, ein Gemüsebeet anzulegen und dann wird sie weitersehen.

    Das Landleben in Brandenburg hat nicht so einen guten Ruf. Zu oft liest man von den Rechten, die dabei sind dort die Oberhand zu gewinnen. Doch lauert wirklich an jeder Ecke ein Rassist? Eines merkt Dora schnell. Eine verschlossene Tür bedeutet hier nicht viel. Sie müht sich auf ihrem viertausend Quadratmeter Grundstück ab. Und plötzlich muss sie sich fragen, ob sie unter die Heinzelmännchen geraten ist. Der Garten wird gerodet, ein Bett wird gebaut. Etwas beängstigend. Froh ist Dora, dass ein Nachbar die Straße runter sie nach dem Einkaufen mitnimmt. Sie beginnt zu verstehen, wieso in ländlichen Gegenden die meisten Leute ein Auto haben.

    Der neue Roman beginnt mit einer Beschreibung des Lebens in der heutigen Pandemie-Zeit. Die Lektüre nimmt dabei etliche Stunden in Anspruch, weil man dasitzt und denkt: eher nicht, vielleicht oder stimmt, stimmt genau. Man ist im positiven Sinne gezwungen zu reflektieren und nicht nur über die Pandemie, sondern auch über den Umgang der Menschen untereinander. Das Bild ist trostlos und die Frage, wie man wieder zu einer zugewandten Kommunikation kommen könnte, kann nicht einfach beantwortet werden. Doch als Dora so langsam von dem Dorf und seinen Menschen auf- und eingenommen wird, wird man beim Lesen auch in die Handlung hineingesogen. In der Anonymität der Stadt kann man sich seine Freunde aussuchen. Die Nachbarn im Dorf sind einfach da und man sollte versuchen, sie zu nehmen. Wie schwierig das sein kann, merkt man an Doras Beispiel. Auch wenn das Buch die Welt nicht ändert, so wäre es doch ein guter Ansatz sich selbst zu ändern.

    4,5 Sterne

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  1. Über Menschen

    „Meistens besteht das Leben aus Trial and Error, und der Mensch kann viel weniger begreifen und kontrollieren, als er glaubt. Auf dieses Dilemma kann weder Nichtstun noch Aktionismus die richtige Antwort sein.“ (Zitat Seite 28)

    Inhalt
    Dora, sechsunddreißig Jahre alt, ist eine erfolgreiche Werbetexterin, als ihr im Home-Office des Corona-Lockdown nicht nur die gemeinsame Wohnung in Berlin, sondern auch das Leben mit Robert endgültig zu eng wird. Bereits im Dezember hatte sie heimlich das renovierungsbedürftige, alte Gutsverwalterhaus auf dem verwilderten Grundstück mit den großen Bäumen gekauft, in Bracken, einem kleinen Straßendorf irgendwo in Brandenburg. Jetzt, drei Monate später, ist sie emdgültig hierher übersiedelt. Mit ihrer Hündin Jochen, ohne Möbel, aber mit einem Nachbarn, der sich ihr als Gote, wie Gottfried, ich bin der Dorf-Nazi vorstellt, was zu seiner sauber geschorenen Glatze passt. Doch plötzlich liegt ihre Matratze auf einem eigens für sie angefertigten Bett und auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Treppenabsatz vor dem Haus stehen eines Tages Küchenstühle. Hier, in diesem Dorf mit seinen Menschen verändert sich etwas in Dora, vom Nachdenken zum Umdenken.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Menschen, ihre Ängste, Sorgen, aber auch den Zusammenhalt in diesen herausfordernden Tagen einer modernen, aber unsicher und brüchig gewordenen Gegenwart.

    Charaktere
    Dora muss in Bewegung sein, um sich ruhig zu fühlen. Sie hat eine eigene Meinung zu vielen Themen unserer Zeit, doch hier in Bracken erkennt sie rasch, wie sehr sie sich irrte, als sie überzeugt davon war, man könne doch Gut und Böse ganz einfach auseinanderhalten. Denn hier lernt sie alle möglichen Zwischenschattierungen in unterschiedlichster Form kennen.

    Handlung und Schreibstil
    Dieser Roman spielt in der Gegenwart in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Dora zieht sich aus ihrem Leben in Berlin zurück, um mit ihrer Hündin Jochen eine völlig andere Art Leben zu probieren, denn Home-Office geht überall. Einkaufen ohne Auto, mit einer Busverbindung mit hohem Seltenheitswert, Gärtnern mit theoretischen Anleitungen über YouTube. Dazwischen freie Zeit, auch das muss sie lernen, mit dieser freien Zeit umzugehen, die Natur in ihrer wunderbaren Vielfalt hilft ihr dabei. Doch jeder Tag bringt neue Herausforderungen und manchmal wünscht sich Dora weit weg von allem, am besten auf die Raumstation ISS, um Abstand zu gewinnen und Ruhe. Die Autorin erzählt einfühlsam, intensiv, bindet die drängenden Themen der Gegenwart mit ein, schafft unterschiedliche Figuren mit völlig unterschiedlichen Sichtweisen, beleuchtet die Standpunkte, lässt sie ruhen, nimmt sie in einem neuen Zusammenhang wieder auf. Sie lässt ihre Figuren nachdenken, umdenken und uns beim Lesen mit.

    Fazit
    Dies ist tatsächlich ein Roman über Menschen, ihre Ängste, Probleme, das tägliche Leben mit skurrilen, witzigen Szenen und nachdenklichen, sehr traurigen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man miteinander umgeht, wenn die Meinungen stark auseinanderdriften. Es sind Figuren auf der Suche und man schließt jede einzelne der Figuren ins Herz, obwohl oder gerade weil jede so ihre Eigenheiten hat, authentisch, Menschen eben, und oft anders, als die anderen denken.

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