Straße der Wunder

Buchseite und Rezensionen zu 'Straße der Wunder' von John Irving
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Straße der Wunder"

Juan Diego und seine für alle anderen unverständlich sprechende Schwester Lupe sind Müllkippenkinder in Mexiko. Ihre einzige Überlebenschance: der Glaube an die eigenen Wunderkräfte. Denn Juan Diego kann fliegen und Geschichten erfinden, Lupe sogar die Zukunft voraussagen, insbesondere die ihres Bruders. Um ihn zu retten, riskiert sie alles. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: zwei junge Migranten auf der Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur.

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Rezensionen zu "Straße der Wunder"

  1. Ein wahrhaft wunderbarer Roman

    Inhalt

    "Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarzustellen: `Ich bin Mexikaner - ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.´ In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: ´Ich bin Amerikaner - ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.´ (...) Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. (S.11)

    Gleich der erste Satz des Romans verdeutlicht, dass sich der Protagonist nicht in eine Schublade stecken lässt, keinem Stereotyp entspricht, sondern ein Individuum mit einer ganz außergewöhnlichen Geschichte ist.
    Ein Mann, der

    "zwei Leben geführt [hat] - getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich." (S.11)

    Juan Diego wächst gemeinsam mit seiner Schwester Lupe Ende der 1950er auf einer Müllkippe in Mexiko, Oaxaca auf. Sie sind Müllsammler, ihre Mutter Esperanza arbeitet als Putzfrau bei den Jesuiten und verdingt sich nachts als Prostituierte.

    "So wenig Hoffnung sie ins Leben ihrer Kinder brachte, war ihr Name der reine Hohn. "Desesperanza" (Hoffnungslosigkeit) nannten die Nonnen sie hinter ihrem Rücken, oder gar "Desesperación" (Verzweiflung)." (S.192)

    Ihre Väter kennen die Kinder nicht, Rivera, el jefe, der "Chef" der Mülldeponie kümmert sich um die beiden. Der außergewöhnliche 14jährige Junge, der sich selbst das Lesen und sogar Englisch mit den auf der Deponie gefundenen Büchern beigebracht hat und von den ortsansässigen Jesuitenpatern Alfonoso und Octavio daher Müllkippenleser genannt wird, fungiert als Übersetzer seiner Schwester. Diese kann die Gedanken der Menschen lesen, spricht jedoch aufgrund einer ungewöhnlichen Veränderung des Kehlkopfes völlig unverständlich. Manchmal wirft sie auch einen Blick in die Zukunft. Dabei läuft sie Gefahr von allen als "geistig behindert" zu gelten, da keiner sie versteht.

    Aufgrund eines tragischen Unfalls hinkt Juan Diego, sein rechter Fuß steht permanent auf "zwei Uhr", die Kinder werden daraufhin im jesuitischen Waisenhaus, dem "Heim für verlorene Kinder", aufgenommen. Bruder Pepe, Lehrer an der Jesuitenschule, ist mit seinem großen Herzen ein wahrer Menschenfreund und kümmert sich um das ungewöhnliche Geschwisterpaar. Er versorgt Juan Diego mit Büchern - auch schon vor dessen Unfall - und lenkt sein Leben am entscheidenden Wendepunkt in eine andere Richtung.

    Im Jahr 2010 ist Juan Diego ein erfolgreicher Schriftsteller und aufgrund seines hohen Blutdrucks hat ihm seine Ärztin und Freundin Dr. Rosemary Stein Beta-Blocker verschrieben, die seine Träume unterdrücken und verhindern, dass er in seine mexikanische Vergangenheit eintauchen kann.
    Auf einer Reise zu den Philippinen, die er unternimmt, um einem amerikanischen Wehrdienstverweigerer, einem Freund aus seiner Zeit in Mexiko, einen Gefallen zu tun, gerät seine Medikamenteneinnahme außer Kontrolle, so dass die chronologischen Träume des Vergangenen zurückkehren.

    Der Roman pendelt zwischen diesen Erinnerungen Juan Diegos an seine Kindheit in Mexiko und seiner Reise, die ein ehemaliger Student seiner Schreibseminare, Clark French, für ihn organisiert hat.

    "Und ehe er sich´s versah, war aus seine Mission in Manila eine Philippinen-Rundreise geworden, mit diversen Abstechern und abenteuerlichen Ausflügen." (S.37)

    Kurioserweise lernt er auf dem Flughafen Miriam sowie deren vermeintliche Tochter Dorothy kennen, die alle seine Romane kennen und die auf einmal da sind. Mit beiden erlebt er sexuell anregende Stunden - nacheinander - und wer sie wirklich sind, bliebt vage. Geister, wundersame Begleiterinnen, Fantasien Juan Diegos? Anlehnungen an die heiligen Jungfrauen, die das Leben des Schriftstellers begleiten?
    Sein erster Roman "Eine von der Jungfrau Maria in Gang gesetzte Geschichte" deutet auf dieses zentrale Thema in "Straße der Wunder" hin. Seine Schwester Lupe hat in Bezug auf die religiösen Jungfrauen eine Obsession, ausgelöst von einem Madonnenladen in Oaxaca:

    "Inzwischen hatte man es allerdings nicht mehr nur mit Maria zu tun; das war Lupe in den vielen Kirchen Oaxacas aufgefallen, doch nirgends in der Stadt fand man so viele rivalisierende Jungfrauen wie in dem kitschigen Madonnenladen an der Avenidea de la Independencia. (...) die Gottesmutter Maria, aber auch Unsere Liebe Frau von Guadalupe und, versteht sich, Nuestra Senora de la Soledad. La virgen de la Soledad war die Madonna, die Lupe abschätzig als Ortsheilige bezeichnet hatte." (S.46)

    In der Jesuitenkirche in Oaxaca, in der Esperanza, die Mutter der Kinder, putzt, findet sich eine riesige Statue der Mutter Gottes, das "Monster Maria", die den Schrein von Lupe favorisierten Guadalupe, nach der sie benannt ist, in den Schatten stellt. Die Geschichte der mexikanischen, indogenen Jungfrau Guadalupe, die dem Bauer Juan Diego (!) erschienen ist, wird ebenso erzählt, wie die Ursprünge der heidnischen Göttin Coatlicue. Beide kämpfen von Lupe dirigiert als Figuren gegeneinander - der katholische Glaube der spanischen Konquistadoren gegen den Glauben der indianischen Bevölkerung.

    Der Kampf um den Glauben setzt sich in Juan Diegos Leben als Schriftsteller mit seinem Studenten Clark French fort, der vorbehaltlos die Lehren der katholischen Kirche vertritt.

    "Juan Diego war kein Atheist - er hatte schlicht Vorbehalte gegenüber der Kirche." (S.345)

    Neben Lupe, Rivera und Bruder Pepe ist es ausgerechnet der amerikanischer Jesuitenpater Edward Bonshaw, der sein letztes Studienjahr in Oaxaca verbringt und auch einen Doktortitel in englischer Literatur besitzt, der den größten Einfluss auf das Leben Juan Diegos nehmen wird. Ihre erste Begegnung findet unmittelbar nach dessen tragischem Unfall statt:

    "Doch während der Deponiechef Rivera auf ein Wunder der Sorte hoffte, wie es seiner Meinung nach nur die Jungfrau Maria bewirken konnte, sollte der neue amerikanische Missionar zum zuverlässigsten Wunder in Juan Diegos Leben werden - ein Wunder von einem Menschen, kein Heiliger, und mit menschlichen Schwächen." (S.113)

    Der behandelnde Arzt Juan Diegos bringt die Kinder auf die Idee sich dem Zirkus der Wunder anzuschließen, da Lupe die Gedanken der Menschen lesen kann und ihr Bruder als Übersetzer fungieren könnte. Doch es stellt sich heraus, dass der Löwenbändiger Ignacio - ein "Mädchenschänder" - wissen will, was seine drei Löwendamen und sein Löwenmännchen Hombre denken. Der Zirkus der Wunder erweist sich als Wendepunkt im Leben der Kinder.
    Das Wunder des Zirkus sind die Hochseilartisten, und zwar immer ein junges Mädchen, das die Himmelsleiter erklimmt - ohne Netz und Sicherheit. Es ist der Traum Juan Diegos eben dieses Wunderkind zu sein, denn er träumt immer wieder den selben Traum, davon, wie er

    "am Himmel entlangspazierte. Von unten, vom Boden aus, schien der Junge ganz vorsichtig kopfüber durch die Luft zu gehen." (S.29)
    "Es ist ein Todestraum." Mehr ließ sich Lupe zu dem Thema nicht entlocken. (S.30)

    Am Ende des Romans erweist sich der Traum als Vorhersehung seiner Schwester, die ihm mit ihrem Opfer ermöglicht, ein anderes Leben abseits von Mexiko, dem Zirkus und der Mülldeponie zu leben - mit Hilfe des abgefallenen Jesuiten Edward und dessen großer Liebe.

    Bewertung
    Ich hätte noch so viel mehr über den Roman schreiben können, der so voller Leben, schräger Figuren und auch Wunder ist.
    Allein die Auseinandersetzung Irvings mit den heiligen Jungfrauen, deren wundersamen Geschichten, mit der Rolle der spanischen Eroberer, die den katholischen Glauben und die Dogmen der katholischen Kirche nach Mexiko gebracht haben, sind sehr interessant und auch spannend zu lesen. Ebenso wie Juan Diegos Abrechnung mit der Kirche, mit ihrer Marienverehrung und ihrem Umgang mit Wundern - das vermeintlich einzig echte (?) Wunder wird bezeichnenderweise tot geschwiegen.

    Der fließende Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist manchmal etwas verwirrend, obwohl innerhalb der Handlungsstränge die zeitliche Abfolge weitestgehend eingehalten wird. Dazu bemerkt der Protagonist:

    "Als Romanschriftsteller war er etwas eigen, was die korrekte zeitliche Abfolge betraf- ein wenig altmodisch." (S.57)

    Was Fantasie und Realität anbetrifft, sind die Grenzen fließend, so bleibt die Identität der geheimnisvollen Frauen Miriam und Dorothy offen, auch in der Vergangenheit Juan Diegos finden sich viele wundersame Ereignisse. Irving spielt regelrecht mit den "Wundern", die vermeintlichen entpuppen sich dabei als große Enttäuschungen, wie die "Straße der Wunder" in Mexico City, die zum Schrein der Guadalupe führt, der sich als Touristen- und Pilgerfalle entpuppt und Lupe desillusioniert.
    Ob religiöse oder artistische Wunder, wunderbare Liebe und Güte, das Wundersame beherrscht den Roman, doch das eigentliche Wunder sind die Kinder, ist die Opfergabe Lupes, ist Juan Diegos Aufstieg vom Müllkippenleser zum Schriftsteller:

    "Vergiss nie", flüsterte Lupe Juan Diego ins Ohr, "wir sind das Wunder - du und ich. Sie sind es nicht. Nur wir. Wir sind die Wundersamen." (S.83)

    Ein schöner Satz zum Abschluss, den Juan Diego im Roman äußert:

    "An dem Tag, an dem Frauen aufhören zu lesen, an dem Tag stirbt der Roman" (S.58)

    Und damit er nicht stirbt ;), werde ich auch weitere Romane von Irving lesen!

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  1. 4
    20. Mai 2016 

    Der neue Irving - Außenseiter mit grandiosen Fähigkeiten

    Durch und durch ein echter Irving

    Seit vielen Jahren bin ich ein Fan von John Irving, und sein neuestes Buch Straße der Wunder hat mich im Großen und Ganzen nicht enttäuscht. Im Mittelpunkt stehen der zu Beginn 14-jährige Mexikaner Juan Diego Guerrero und seine ein Jahr jüngere Schwester Lupe. Sie wachsen auf einer Müllkippe in Oaxaca auf und leben bei Rivera, dem Chef der Müllhalde.

    Mexiko 1970: brennende Müllhalden und Bücher>

    Juan Diego und Lupe sind nur auf den ersten Blick typische Müllkippenkinder, wie es sie noch heute in Mexiko gibt. Rivera, el jefe, kümmert sich um die Geschwister und behandelt sie wie seine eigenen Kinder; und das, obwohl es nur bei Juan Diego den Hauch einer Chance gibt, dass er dessen Sohn sein könnte. Ihre Mutter Esperanza spielt im Leben der beiden Jugendlichen keine große Rolle: Sie ist Prostituierte und außerdem Putzfrau in der Kirche und im Waisenhaus der Jesuiten. Die Pater haben ihr diesen Job in der Hoffnung gegeben, dass sie so wieder auf den rechten Weg zurückfindet. Nur sporadisch lässt sich Esperanza bei Rivera und ihren Kindern sehen.

    Im Kloster von Oaxaca misten die Jesuiten von Zeit zu Zeit ihre Klosterbibliothek aus und bringen Bücher zum Verbrennen auf Riveras Müllkippe. Dort rettet sie Juan Diego aus dem Feuer und liest sie gründlich. Er ist Autodidakt und hat sich selbst das Lesen beigebracht. Mithilfe der vom Kloster entsorgten Bücher hat er auch Englisch gelernt.
    Seine Schwester Lupe wirkt auf die, die sie nur oberflächlich kennen, geistig zurückgeblieben: Sie spricht völlig unverständlich und oft so, als stünde sie kurz vor einem emotionalen Ausbruch. Nur ihr Bruder versteht sie und ist darum ihr Dolmetscher. Alle, die sie besser kennen, wissen aber, dass Lupe Gedanken lesen kann und oft in der Lage ist, in die Zukunft zu sehen.

    Ein Roman mit einem Blick auf sich selbst>

    Die Jesuiten legen Wert auf Bildung und werden auf Juan Diego aufmerksam. Vor allem Pater Pepe setzt sich dafür ein, dass die Geschwister nach dem Tod ihrer Mutter ins katholische Waisenhaus umziehen. Doch das Waisenhaus ist keine Lösung, und letztlich finden sich die beiden im nahegelegenen Zirkus wieder. Doch auch der Aufenthalt dort soll nicht von Dauer sein, was vor allem daran liegt, dass Lupe wegen ihrer Hellsichtigkeit weiß, wie ihre und die Zukunft ihres Bruders aussehen würden, wenn sie dort blieben. Da entschließt sie sich zu einem gravierenden Schritt, der ihrer Ansicht nach die einzige Chance ist, Juan Diego eine Zukunft zu ermöglichen, die seinen Fähigkeiten entspricht.

    Tatsächlich wird er den Beruf ergreifen, den Lupe in ihm gesehen hat: Der mittlerweile zu einem bekannten Schriftsteller avancierte Juan Diego blickt in Straße der Wunder 40 Jahre später während einer Lesereise auf die Philippinen auf sein Leben zurück. Lupes selbstloser Plan hat tatsächlich dazu geführt, dass sein Leben eine Wendung genommen hat, die unter normalen Umständen kaum möglich gewesen wäre. Edward, ein ihm freundschaftlich verbundener amerikanischer Jesuit und dessen Freundin Flor, eine transsexuelle mexikanische Prostituierte, adoptieren ihn und nehmen ihn mit in Edwards Heimat Iowa. Dies ist für Juan Diego die Eintrittskarte in ein besseres Leben.

    Das Leben unter dem Einfluss von Betablockern und Viagra

    Juan Diego ist wegen einer Herzschwäche auf die regelmäßige Einnahme von Betablockern angewiesen. Sie führen jedoch dazu, dass er ein Leben führt, dass er als "reduziert" bezeichnet: Er leidet unter Müdigkeit, die oft schon narkoleptische Züge hat, und Erektionsstörungen. Die haben ihn mangels einer Partnerin bislang wenig gestört, doch auf seiner Reise begegnet er mit Miriam und Dorothy zwei seiner Fans, die vor allem eines tun wollen: sich "liebevoll" um ihn kümmern. Dass es sich bei den beiden um Mutter und Tochter handelt, macht es nicht wirklich einfacher. Um im Bett nicht zu versagen, nimmt es der Schriftsteller mit der Einnahme der Betablocker nicht mehr so genau und greift immer öfter zu Viagra. Doch er wird aus den beiden Frauen nicht schlau: Sie scheinen immer um die Welt zu reisen und tauchen so plötzlich an seinen Reisestationen auf, wie sie anschließend wieder verschwinden. Bereitwillig lässt er es zu, dass sie ständig in seine Reiseplanung eingreifen, die ursprünglich von seinem ehemaligen Studenten Clark French, der jetzt ebenfalls Schriftsteller ist, ausgearbeitet worden ist. Juan Diego wirkt wie das Klischee eines alternden Romanautors: immer etwas neben sich stehend, kaum lebenstüchtig und ein wenig durch sein Leben irrlichternd. Am Ende kommt es mit ihm, wie es kommen muss.

    Leseempfehlung?

    Wie schon erwähnt bin ich bei John Irving im positiven Sinn voreingenommen. Ich mag die skurrilen Charaktere und Wendungen, wie es sie auch in Straße der Wunder reichlich gibt. Mich haben auch die dezenten Verweise auf andere Bücher von ihm amüsiert. Immer wieder baut er auch Kritik am "American Way of Life" und dem Selbstverständnis der US-Amerikaner ein: Er kritisiert indirekt die Folgen des Vietnamkriegs und macht deutlich, dass es oft mit Chancengleichheit und Toleranz nicht weit her ist.
    Etwas ermüdend fand ich allerdings das unglaubwürdige Dreiecksverhältnis zwischen Juan Diego sowie Miriam und Dorothy, dass sich - immer schön abwechselnd - fast nur in der Horizontalen abspielte und um ein Haar noch um eine weitere Person erweitert worden wäre.
    Als gegen Ende der Handlung die Identität der beiden Frauen buchstäblich nebulös wurde, wurde es mir mit den Mysterien zu viel. Letzten Endes bleibt es für den Leser unklar, ob es die beiden Damen nur in Juan Diegos Vorstellung gegeben hat. Auch andere geisterhafte Wesen tauchen im letzten Fünftel des Buches auf; inwieweit sie für den Fortgang der Handlung wichtig sind, erschließt sich mir nicht.
    Insgesamt ist meine Kritik an diesem Buch jedoch so gering, dass ich es auf jeden Fall empfehlen kann. Die Hinweise, die John Irving auf seine vorangegangenen Romane gibt, sind für das Verständnis des Buches nicht wichtig, sodass auch Leser, die zum ersten Mal einen Titel von ihm lesen, an Straße der Wunder Freude haben werden.

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  1. 4
    18. Mai 2016 

    Irving in Top-Form

    Müllkippenkinder, Geistliche, Transvestiten, Löwenbändiger und ein Mädchen, das Gedanken lesen kann .... Dies sind nur einige der Charaktere aus John Irving's Roman "Straße der Wunder".
    Schräge Typen findet man in all seinen Romanen und sind mit ein Grund, warum ich Irving's Geschichten mag. Wenn dann noch Sarkasmus und ein großes Maß an Situationskomik in einem Irving-Roman zu finden sind, bin ich eine glückliche Leserin. "Straße der Wunder" hat mich glücklich gemacht. Zwar nicht berauschend glücklich, doch immerhin ziemlich glücklich ;-)

    Worum geht es in diesem Roman?
    Juan Diego und seine Schwester Lupe wachsen auf einer Müllkippe in Oaxaca, Mexiko, auf. Die beiden sind ungewöhnliche Kinder. Juan Diego konnte sich selbst das Lesen und Schreiben beibringen. Unterrichtsmaterial hatte er genug: Bücher und Zeitungen, die auf dem Müll gelandet sind. Lupe hat eine Sprachstörung und spricht daher in einem Kauderwelsch, der nur von Juan Diego verstanden werden kann. Er ist ihr Dolmetscher, wenn es darum geht, mit anderen zu kommunizieren. Lupe besitzt die Gabe, Gedanken zu lesen und die Zukunft vorauszusagen. Nachdem sie einige Jahre in einem katholischen Waisenhaus verbracht haben, schließen sie sich irgendwann einem Zirkus an. Denn ihr Gefühl sagt ihnen, dass ihnen der Zirkus die einzige Möglichkeit bietet, aus ihrem Leben etwas zu machen.

    Die Geschichte wird aus der Sicht von Juan Diego, der Jahre später - mittlerweile ist er Mitte Fünfzig - als Schriftsteller in Amerika lebt. Juan Diego ist gesundheitlich angeschlagen. Aufgrund einer Herzschwäche muss er Medikamente nehmen, die ihn sehr müde machen. Jedesmal, wenn er ein Nickerchen macht (und das macht er häufig ;-)), driftet er in seinen Träumen in Kindheitserinnerungen ab. Und so erfährt der Leser, was damals in Mexiko geschehen ist, was aus Lupe und den Freunden aus der Kindheit geworden ist, und warum Juan Diego der Mann ist, der er heute ist.

    "Dass ein Müllkippenkind sich ein so anspruchsvolles Vokabular aneignen konnte, war kaum vorstellbar; abgesehen von der schmeichelhaften Zuwendung, die dem Jungen durch Bruder Pepe zuteil wurde, hatte Juan Diego nie eine Schulbildung genossen. Dennoch war es ihm nicht nur gelungen, sich selbst das Lesen beizubringen, er drückte sich auch sehr gewählt aus und sprach sogar Englisch - dabei war er ausschließlich über die amerikanischen Touristen mit gesprochenem Englisch in Kontakt gekommen." (S. 69)

    Ein zentrales Thema in diesem Roman sind die Lehren der katholischen Kirche sowie die teilweise fanatische Marienverehrung, die in manchen Ländern betrieben wird. Irving läuft zur sarkastischen Höchstform auf, wenn es darum geht, den Hype, der um die Jungfrau Maria betrieben wird, breit zu treten.
    Die beiden Kinder Juan Diego und Lupe verbringen einen Teil ihrer Kindheit unter der Obhut von Jesuiten, so dass sie mit den Geschichten um die Jungfrau Maria mehr als vertraut sind. Und doch können sie die uneingeschränkte Begeisterung für diese Figur nicht teilen: Pilgerstätten und Kirchen geraten zu Schauplätzen von kommerziellen Massenspektakeln; je lauter und schriller das Gebet, desto "gläubiger" ist der Betende. Trotz des Einflusses der Kirche auf ihre Erziehung schaffen es Juan Diego und Lupe, sich ein gewisses Maß an Zweifeln zu bewahren und stehen der Kirche sowie ihrer Marienverehrung mehr als kritisch gegenüber.

    "Tatsächlich fehlte es Juan Diego nicht am Glauben. Die meisten Müllkippenkinder sind auf der Suche nach Wundern. Wenigstens wollte Juan Diego an das Wunderbare glauben, an alles mögliche Unerklärliche, doch er zweifelte die Wunder aus der kirchlichen Mottenkiste an, die mit der Zeit immer unglaubwürdiger wurden. Was dem Müllkippenleser gegen den Strich ging, war die Kirche insgesamt: ihre Politik, ihre Eingriffe in die Gesellschaft, Geschichte und Sexualität." (S. 296)

    Mit Juan Diego hat Irving eine Figur geschaffen, die einen tiefen Einblick in die Seele eines alternden Schriftstellers gewährt. Mittlerweile in den Fünfzigern geht Juan Diego ein wenig unbeholfen durchs Leben. Er benötigt immer jemanden, der sich um ihn kümmert, für ihn organisiert und ihn durch den Alltag manövriert. Juan Diego hat etwas an sich, was bei anderen Menschen ein Helfer-Syndrom auslöst. Und so trifft er auf Miriam und Dorothy - Mutter und Tochter, die durch die Weltgeschichte reisen. Miriam und Dorothy sind zwei überaus mysteriöse Charaktere in diesem Buch. Man weiß nicht genau, wo sie herkommen und welche Pläne sie haben. Juan Diego fühlt sich zu beiden hingezogen. Und beide vereinnahmen ihn mit Haut und Haaren - mal die Eine und mal die Andere. Doch die beiden haben etwas Übersinnliches an sich. Man fragt sich immer wieder, ob diese Figuren real sind. Doch da Miriam und Dorothy auch von anderen Charakteren wahrgenommen werden und in die Handlung eingreifen, gehe ich davon aus, dass sie mehr als eine Fantasieerscheinung von Juan Diego sind - auch wenn gewisse Zweifel bleiben.

    In diesem Roman haben die Frauen das Sagen. Irving scheint seinen weiblichen Protagonisten eine gehörige Portion Dominanz zuzugestehen.
    Angefangen bei Lupe, die zwar jünger als ihr Bruder, aber trotzdem die Reifere und Entschlossenere von beiden ist. Ihren Entscheidungen hat Juan Diego alles zu verdanken.
    Miriam und Dorothy natürlich, die Juan Diego bemuttern und ihm alle Entscheidungen abnehmen - ob er will oder nicht.
    Sogar die Kirche wird von Frauen dominiert. Denn Lupe meint:

    "'Was hat Gott schon zu melden?', fragte ihn Lupe. 'Die Jungfrauen haben das Sagen - nicht dass sie wirklich Jungfrauen wären, nicht dass wir überhaupt wüssten, wer sie sind.'" (S. 466)

    Einer meiner Lieblingssätze in diesem Roman ist folgender:
    "An dem Tag, an dem Frauen aufhören zu lesen, an dem Tag stirbt der Roman!" (S. 59)
    Ich frage mich, ob dies als Irvings Verbeugung und Dankeschön an seine größtenteils weibliche Leserschaft zu verstehen ist. Zumindest schmeichelt es der geneigten Leserin doch ungemein;-)

    Der Grund, warum Irving aus mir nur eine "ziemlich glückliche Leserin" machen konnte, ist übrigens folgender:
    Zum Ende bekommt in dieser Geschichte das Übersinnliche einiges an Raum. Die geheimnisvollen Miriam und Dorothy sowie Geister, die auf Hoteltoiletten und in Kirchen auftauchen sind Mysterien, gegen die sich mein gesunder Menschenverstand aufs Heftigste zur Wehr setzt. Ich bin froh, dass diese "Störfaktoren" erst in den letzten 150 Seiten auftauchen, denn so ist mein Lesegenuss erst zum Ende hin geschmälert worden.

    Fazit:
    Ich bin ein großer John Irving Fan und habe fast jedes Buch von ihm gelesen. Ich liebe an seinen Büchern, dass man nie weiß, wo die Lesereise hingeht. Irvings Bücher stecken voller Überraschungen. Die Handlungen in seinen Büchern nehmen gern Wendungen an, die selten vorhersehbar sind.
    Wenn Irving in Topform ist, sind seine Romane großartig und zeichnen sich durch viele Dinge aus, die ich an einem Irving-Roman so sehr schätze: skurrile Charaktere, Ironie und Sarkasmus, Situationskomik und Überraschungseffekte. Bei "Straße der Wunder" ist Irving fast wieder zur Topform aufgelaufen. Die ersten 600 Seiten waren für mich ein Hochgenuss, bei dem ich aus dem Grinsen nicht mehr herausgekommen bin. Und auch wenn mich Irving mit den verbleibenden 150 Seiten abgehängt hat - mit Übersinnlichem kann ich einfach nichts anfangen - , hat mir dieser Roman großartige Lesestunden beschert.

    © Renie

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