Scherbentanz

Buchseite und Rezensionen zu 'Scherbentanz' von Kraus, Chris
4.2
4.2 von 5 (14 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Scherbentanz"

Jesko ist ein Freak, ein junger Modedesigner, der gerne Röcke trägt. Gesellschaftlichen Normen und Zwängen beugt er sich nicht – schließlich hat er Leukämie und nicht mehr lange zu leben. Unter einem Vorwand wird Jesko in die großbürgerliche Villa seiner Familie gelockt. Seine Mutter käme als Knochenmarkspenderin in Betracht. Doch Jesko verweigert sich ihrer Hilfe. Denn einst hat diese Frau ihm und seinem Bruder Furchtbares angetan.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
Verlag:
EAN:9783257071351

Rezensionen zu "Scherbentanz"

  1. Und Scherben und Tanz zusammen?

    „Wenn Du am Boden bist, bist Du auf dem Weg nach oben",
    von William Bourroughs

    So lautet das Motto dieses Romans.

    In diesem Familien- und Generationenroman geht es um tiefe Schatten der Vergangenheit. Wir tauchen ein in Familiengeheimnisse, über die niemals gesprochen wird und die dadurch auch die Gegenwart belasten. Chris Kraus zeigt uns einen Rückblick auf traumatische Kindheitserfahrungen und gibt uns eine Vorstellung von Themen wie Krankheit, Hass, Lügen, Eifersucht und Neid, Intrigen und verletzten Gefühlen, die einzig durch Alkohol, Tabletten oder sonstige Verdrängungsmittel, von denen reichlich im Hause Solm vorhanden ist, zu ertragen sind.

    Inhalt
    Jesko ist jung. Jesko ist schlagfertig. Jesko ist widerborstig. Jesko ist erfolglos. Jesko ist ein Außenseiter. Jesko hat Leukämie und wird bald sterben.

    „Tod ist Nichtsein. Was damit gemeint ist, weiß ich schon lange.“ (S. 7)

    Jesko trägt nur Röcke, er ist Modedesigner, der seine Kleidung selbst näht und gerne Röcke trägt und das krasse Gegenteil seines älteren Bruders Ansgar ist. Sein Bruder ist als Juniorchef in die väterliche Zementfabrik eingestiegen. Er ist ein erfolgloser Modemacher, der Provokateur in der Familie.
    Jesko wird in die Familienvilla gerufen in der Hoffnung, dass seine leibliche Mutter dem kranken Jesko eine lebensverlängernde Knochenmarkspende geben kann. Eine Frau, die Jesko und sein Bruder Ansgar seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Nun liegen sieben lange Tage bis zum operativen Eingriff vor Jesko, und seine Krankheit ist das bei Weitem geringste Problem.
    Seine Mutter, eine verrückte Frau, die immer kurz vor der Einweisung oder vor der Entmündigung. Vor vielen Jahren, als er und sein Bruder noch Kinder waren, hat diese Frau ihm etwas Schreckliches angetan. Das ist der Grund, warum Jesko sich weigert, die Spende seiner Mutter anzunehmen, obwohl er kurz vor dem Tod steht. Er will die Rettung von ihr nicht und weigert sich, mit seiner Mutter zu sprechen. Sein Vater hat Erinnerungen aus dem Krieg, die ihn nicht loslassen. Sein Bruder, der perfekte Sohn seines Vaters, verbirgt seine geheimnisvollen Abgründe.

    „Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, in südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen Nester.“ (S. 59)

    Schreibstil
    Das Besondere des Romans ist die Sprache des Autors, der seine Figuren auf einmalige Art auswählt, um auf einem schmalen Grat zwischen sarkastisch, absurd und auch realistisch seine Geschichte zusammensetzt.
    Jesko berichtet als Icherzähler über die Ereignisse. Kraus' Sprache ist plastisch und bilderstark, die Dialoge sitzen perfekt. Chris Kraus zeigt, dass er mehr kann als gut unterhalten. Sein Erzählstil lässt Emotion zwischen lachen und weinen aufkommen.
    Rückblenden eigener Erinnerungen lassen Fragen beantworten, aber auch diffus offenstehen.

    Fazit
    Das Sprichwort „Scherben bringen Glück“ wird oft zitiert, wenn ein Gefäß zerbrochen ist. Tanzen kann eine Therapieform sein, eine Form sozialer Interaktion oder schlicht ein Gefühlsausdruck. Und Scherben und Tanz zusammen?
    Chris Kraus hat nachdenklich gemacht mit seiner Geschichte um verpasste Chancen, um verfehlte Hoffnungen und Lebensniederlagen. Er erzählt sie realistisch und absurd, so wie das Leben heute manchmal ist.

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  1. Liebevoll wie ein offenes Messer

    Wenn ich nach Bildern für diesen Roman suche, denke ich an Dinge, die verletzen. Messer, Nadeln, Stacheln, Säure, Scherben, Feuer. Oder vielleicht ein Katana – so scharf geschliffen, dass es schon bis auf die Knochen durchs Fleisch gleitet, bevor man den Schmerz registriert.⠀

    Die Diskrepanz zwischen dem, was Familie in der Idealvorstellung bedeuten sollte, und dem, wie Familie sich hier in bitterster Konsequenz präsentiert, tut weh. Ach je, ich denke schon in Klischees, aber: mir blutete das Herz. Der instinktive Versuch, zum Trost wenigstens einen Schuldigen zu entlarven, schlug fehl; die Geschichte ist zu komplex angelegt für eine stumpfe Aufteilung in “gut” und “böse”.⠀

    Es wäre allzu einfach, mit anklagendem Finger auf die misshandelnde Mutter zu weisen: Schande, Schande, Schande. Burn the Witch. Aber das würde die Tragik zu sehr auf das Oberflächliche reduzieren – ich hasse, was Käthe den Kindern angetan hat, aber ich kann SIE nicht hassen. Sie ist in meinen Augen nicht weniger ein Opfer dieser Situation.⠀

    Schon nach wenigen Kapiteln fragte ich mich: wieso hat diese Frau nie Hilfe bekommen, was auch die Söhne beschützt hätte? Ihre Wahnvorstellungen und bipolaren Episoden hätten deutlicher kaum sein können. Sie ist tatsächlich ein großartig geschriebener Charakter, der sich einfachen Erklärungsversuchen entzieht. Der Autor gesteht ihr den nötigen Raum zu, sich ehrlich und ungeschönt zu zeigen, lässt aber auch immer wieder ihr Potential durchscheinen, was sie umso tragischer macht.⠀

    Sie denkt sich die wildesten Geschichten aus, was sie in ihrem Leben schon alles erlebt und getan hat, was erst lächerlich klingt, geradezu armselig. Sie glaubt selber jedes Wort, als Leser*in ist man peinlich berührt – doch im Laufe des Buches klingt an, dass darin auch viel Wahrheit steckt.⠀

    Ich habe mich binnen weniger Zeilen in Jesko verliebt, obwohl ich durchaus auch seine Fehler sehe. Er ist ein kreativer Mensch mit einer Unmenge an Potential, der aber auch ein launischer kleiner Mistkerl sein kann – besonders gegenüber von Krankenschwestern, die er als Berufsgruppe aus Prinzip hasst. Aber ich konnte den Gedanken kaum ertragen, all dieses Potential könnte vom Krebs einfach ausgelöscht werden.⠀

    Jesko ist in meinen Augen eine zutiefst verletzte Seele; er ist mitten im Fall und hat niemanden, der ihn auffängt. Doch sein Sprachwitz ist einfach kostbar, und der Humor ist tatsächlich bitter nötig, um den Schmerz zu lindern, der kontinuierlich aus den Seiten sickert. Der Humor hält die Balance und erlaubt den Leser*innen kurze Verschnaufpausen. Durchatmen, einen Schritt zurücktreten, sich für den Moment lösen von den Figuren. Sich den Anflug von Hoffnung erlauben, dass ein Happy End vielleicht noch möglich ist.⠀

    “Er öffnete die Beifahrertür. Meine Mutter schwappte heraus und fiel in den Regen. Ich erkannte sie daran, dass sie nicht wieder aufstand.”⠀
    (Zitat)⠀

    Sterben will Jesko nicht, ans Leben bindet ihn aber scheinbar auch nichts. Doch sein Vater und Bruder wollen ihn zum Überleben zwingen, und damit zur Konfrontation mit der Mutter, die als Knochenmarkspenderin möglicherweise in Frage käme.⠀

    Damit stehen sich hier zwei Menschen gegenüber, denen der freie Wille genommen wurde – in Käthes Fall: mal wieder. Das ist nicht unbedingt der beste Nährboden für Kommunikation, geschweige denn Vergebung! Aber im erzwungenen Wechselspiel lassen sich durchaus Berührungspunkte und widerwillige Gemeinsamkeiten erkennen. Jesko als Spiegelbild lässt erahnen, wer Käthe mit psychiatrischer Hilfe möglicherweise hätte sein können.⠀

    Die Menschen, die um Käthes Misshandlung von Jesko und Ansgar wussten, legten deren Leid auf die Waagschale – doch der Status Quo wog offenbar schwerer als Striemen und blaue Flecken auf Kinderhaut. Der Vater, der dominante Patriarch im Hintergrund, bleibt dabei seltsam farblos, was ich als bewusste Entscheidung sehe; die zentralen Figuren in diesem Kammerspiel sind Käthe und Jesko.⠀

    Was man über den Vater erfährt, macht ihn aber ohnehin nicht gerade zum Sympathieträger: er hegt und pflegt den Standesdünkel und redet sich die Nazivergangenheit der Familie schön. Jeskos Bruder Ansgar wandelt derweil mit ererbter Arroganz in den väterlichen Fußstapfen, was zwischen den beiden Brüdern steht. Ohnehin ist da anscheinend viel zu Bruch gegangen seit dem gemeinsam durchlebten Trauma – und am Schluss zeigt sich Ansgar auf schlimmste Art als Produkt dieser Kindheit.⠀

    “Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, an südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen ihr Nest.”⠀
    (Zitat)⠀

    Der sympathischste Charakter ist wohl “Zitrone”, wie Ansgar seine Freundin nennt. Sie ist Krankenschwester und damit automatisch Jeskos Nemesis, und sie soll sich um ihn und seine Mutter kümmern, bis diese zur Knochenmarksspende überredet / gezwungen / genötigt werden kann. Sie ist ein Lichtblick, ein Leuchtfeuer der Normalität in dieser kaputten, alles andere als normalen Familie — doch dann zeigt sich, das auch Zitrone Dinge verbirgt.⠀

    Das klingt alles nach einem deprimierenden Trauerspiel… Tatsächlich ist der Roman aber auf ganz eigene Art unterhaltsam und spannend. Die Geschichte funktioniert immer wieder “obwohl” – trotz diverser Stolpersteine, die einen weniger begabten Autor sicher zu Fall gebracht hätten. Es hat mir Spaß gemacht, dieses Buch zu lesen, auch wenn der Tanz über die Scherben oft eine schmerzliche Erfahrung war.⠀

    Beim Lesen habe ich mir einige Notizen zu dieser Geschichte einer dysfunktionalen Familie gemacht. Die erste davon war: “Ich habe mich direkt in den Schreibstil verliebt: tolle Sogwirkung, interessante Bilder, und die Sprache hat auf jeden Fall eine ganz eigene Note. Mehr gute Zitate, als man für eine Rezension gebrauchen kann.” Daher kommt hier jetzt noch ein letztes dieser Zitate:⠀

    “Ich glaube, Heimat kann eine ziemlich endlose Fläche sein, eine bösartige Wüste, durch die du stapfst, ohne jemals anzukommen. Heimat kann überall aufplatzen, egal wo du dich aufhältst. An den Schmerzen erkennst du, ob du zu Hause bist. Nicht am Türschild.”⠀
    (Zitat)⠀

    Fazit:⠀

    Der junge Modedesigner Jesko hat sich bis zu einem gewissen Punkt von seiner toxischen Familie gelöst. Dummerweise stirbt er gerade an Krebs und weder Vater noch Bruder sind als Knochenmarkspender geeignet. Bleibt nur noch seine physisch und psychisch kranke Mutter, die kurzerhand im Auftrag des Vaters von der Straße gekidnappt wurde, wo sie als Obdachlose lebte – von der will Jesko aber nichts annehmen, nachdem sie seine Kindheit zur Hölle gemacht hat. Doch dann findet er sich quasi als Gefangener in der väterlichen Villa wieder und wird genötigt, sich ein Zimmer mit seiner Mutter zu teilen, um diese zu überreden, Knochenmark zu spenden.⠀

    Der Roman nimmt den Leser mit auf eine tragikomische Gratwanderung durch die Abgrunde einer dysfunktionalen Familie, in der nur noch der schöne Schein stimmt – wenn man nicht zu genau hinschaut. Jesko und seine Mutter Käthe sind großartige komplexe Charaktere, die sich binären Vorstellungen von gut oder böse entziehen, und das Buch punktet darüber hinaus mit einem wunderbaren Schreibstil.

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  1. Dancing with tears in my eyes

    Komisch, dieser Titel von Ultravox fiel mir gerade spontan ein, als ich über einen Titel für meine Rezension zu „Scherbentanz“ von Chris Kraus nachdachte. Und je länger ich das sacken lasse, umso mehr fasziniert mich der Titel (das Lied gehört schon lange zum „Soundtrack meines Lebens“) – drückt er doch eigentlich perfekt aus, was ich über das Buch denke. Ich bin nämlich eigentlich selbst traurig darüber, dem Roman kein gutes Urteil zu geben, dass es „zum Heulen“ ist.

    Dabei sind die Zutaten des Debütromans (Erstveröffentlichung: 2002 und jetzt (2020) in einer Neuauflage im Diogenes-Verlag erschienen) des Regisseurs und Autors eigentlich gar nicht so schlecht: (Auto-)biografisch angehauchte Familiengeschichte mit schrägen Figuren, purem Sarkasmus vermengt mit philosophischen Zitaten von Lucius Annaeus Seneca (römischer Philosoph). Also eigentlich alles, was mich interessiert, wenn – ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wär.

    Entweder war es das falsche Buch zum falschen Zeitpunkt in meinem Leben oder aber ich konnte mit der völlig kaputten Familie Solms, in der nichts ist, wie es im ersten Moment scheint, wirklich nichts anfangen. Weder der im Angesicht des Todes verbreitete tiefschwarze Sarkasmus von Jesko (er hat Leukämie und soll von seiner psychisch mehr als labilen Mutter Stammzellen gespendet bekommen) noch die relativ rasant gesetzten Schnitte in Sprache und Handlung (hier kommt anscheinend der Regisseur Kraus durch *g*) konnten mich fesseln oder in ihren Bann ziehen.
    Auch das „Nachwort“ mit einer Episode aus Kraus´ Leben, die in wohl zu „Scherbentanz“ animiert hat, fand ich nicht besonders witzig.

    Ich weiß, ich stehe relativ allein mit meiner Meinung, aber ich konnte und kann dem „Scherbentanz“ nichts abgewinnen und spreche deshalb auch keine Leseempfehlung aus.

    Für die ein oder andere gelungene Passage und die Zitate von Seneca gibt´s jeweils einen Stern; mehr ist für mich nicht drin. So, und jetzt gehe ich wieder tanzen…

    ©kingofmusic

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  1. 5
    03. Jan 2021 

    Großes Erzählkino!

    Wikipedia sagt: "Eine Literaturverfilmung, von der Literatur detaillierter als Filmadaption betrachtet, ist die Umsetzung einer literarischen Vorlage im Medium Film."
    Zuerst kommt also der Roman und danach der Film. Der deutsche Regisseur und Schriftsteller Chris Kraus zäumt das Pferd jedoch scheinbar gern von hinten auf: erst der Film und dann der Roman. Sein erster Film "Scherbentanz" kam 2002 in die Kinos. Erst ein Jahr später veröffentlichte Chris Kraus den gleichnamigen Roman.

    Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans ist Jesko, Anfang 30, Spross der deutschen Zementfabrikanten-Familie Solm, baltische Wurzeln, Mode-Designer mit Hang zum Tragen von Männerröcken, ein Zyniker wie er im Buche steht, das schwarze Schaf der Familie und todkrank.
    Jesko hat nicht mehr lange zu leben, bestenfalls sind es noch Monate. Denn eine Krebserkrankung hat ihm einen Strich durch seine Zukunftspläne gemacht. Die bisherigen Therapieversuche sind gescheitert, eventuell könnte noch die Knochenmarkspende eines Verwandten sein Leben verlängern. Familie hat er reichlich, aber keiner scheint in das nötige Knochenmarkprofil zu passen.

    "'Ein Meter achtzig. Ungefähr siebzig Kilo. Dünn. Schmächtig. Leukämie. Anfang dreißig. Hat Angst, dass sich die ganze Welt, wenn er die Deckung auch nur für eine Sekunde aufgibt, in ein Chaos verwandelt. Trägt Röcke. Aus Wut vielleicht. Von Beruf Schneider. Wäre lieber Coco Chanel oder so. ... Hält nette kleine Beobachtungen für das einzig Wichtige im Leben. Legt sich mit allen an, die anderer Ansicht sind. ...'"

    Die Hoffnung von Jeskos Familie lastet nun auf Käthe, Jeskos Mutter. Die Sache hat nur einen Haken: Käthe ist seit Jahren von dem Familienpatriarchen Gebhard, der Jeskos Vater ist, geschieden. Zudem ist sie geistig nicht ganz auf der Höhe, weshalb ihr Verhalten unberechenbar ist und sie äußerst aggressiv werden lässt. Insbesondere Ex-Mann und Familienoberhaupt Gebhard musste schon einiges einstecken. Auch Jesko und sein älterer Bruder Ansgar hatten in ihrer Kindheit unter den Ausbrüchen von Käthe zu leiden, was nun die Entscheidung für Jesko, die Hilfe von Käthe in Anspruch zu nehmen, nicht einfach macht. Am Ende siegen Jeskos Lebenswille sowie Geld und Einfluss der wohlhabenden Familie, um Käthe auf dem Anwesen der Familie Solm einzuquartieren. Auch Jesko wird für die nächsten Wochen hier wohnen. Schließlich gilt es zu prüfen, ob Käthe überhaupt als Knochenmarkspender geeignet ist. In dieser Zeit des Wartens passiert so einiges in dieser Familie. Der Leser lernt nach und nach die einzelnen Familienmitglieder kennen und solche, die es werden wollen. Dabei stellt sich heraus, dass es Geheimnisse in dieser Familie gibt, über die man nicht sprechen möchte.

    "Das Gehirn meiner Mutter ist einen anderen Weg gegangen. Es hat sich aus einen vielversprechenden mentalen Hyperzyklus in pure Materie zurückverwandelt, in ein heißes, klebriges Stück Teer, aus dem es kein Entrinnen gab für die wenigen Gedanken, die noch hinauswollten."

    "Scherbentanz" ist Kopfkino pur. Denn man merkt diesem Roman an, dass hier ein Filmemacher am Werk war. Ich habe selten einen Roman gelesen, der dermaßen präzise Bilder vor dem geistigen Auge entstehen lässt. Die Geschichte birgt natürlich sehr viel Potenzial für eine Verfilmung: eine verkorkste und reiche Familie, die von ihren Geheimnissen aus der Vergangenheit eingeholt wird, schräge Charaktere, Emotionen, bissiger Humor und Tragik.

    Die Charaktere in diesem Roman sind gewöhnungsbedürftig, teilweise sogar klischeehaft, was ich jedoch mochte, da die Klischees sehr originell rübergebracht werden. Der Protagonist und Ich-Erzähler Jesko ist natürlich besonders, da er sich im Verlauf der Handlung von einem todgeweihten, zynischen Ekel zu einem Charakter entwickelt, der sensibel und verletzlich ist, und völlig andere Seiten von sich zeigt, als man es ihm anfangs zugetraut hätte.

    So schräg die Charaktere in "Scherbentanz" sind, so geradlinig ist der Sprachstil in diesem Roman. Ich mag es, wenn ein Autor nicht lange palavern muss, um Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen. Hier sitzt jeder Satz. Chris Kraus gelingt es, mit wenigen Worten, aber viel Wortwitz das Kopfkino zum Laufen zu bringen. Der schwarze Humor, der dem Leser dabei begegnet, trägt zur Unterhaltung bei. Dennoch verliert dieser Roman nie seine Ernsthaftigkeit.

    Schön sind auch die Überraschungen in diesem Buch, welche häufig klitzekleine Momente sind (bspw. in einem Nebensatz), die jedoch einen umso größeren Effekt auf die Handlung haben. Das sorgt für Spannung, so dass in diesem Buch immer etwas los ist.

    Fazit:
    Eine schräge Geschichte mit schrägen Charakteren in einer geradlinigen Sprache erzählt. Ein unglaublich guter Roman!

    © Renie

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  1. Interessante Familiengeschichte

    Interessante Familiengeschichte

    Scherbentanz von Chris Kraus ist ein eigenwilliger aber dennoch brillanter Roman. Er zeigte mir wieder mal, dass die Fassade von Reichtum trügerisch ist, doch dies zeigt er nicht durch anprangern. Chris Kraus versteckt die Seitenhiebe in einer tragischen wie auch komischen Familiengeschichte, die bis zu den Wurzeln einer Großfamilie zurück reicht.

    Der 33 jährige Jesko Solm kommt nicht gut aus mit seinem Vater Gebhard, der eher solide Ansichten vertritt. Diese harmonieren nicht mit denen des Modeschöpfer, der gern Röcke trägt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Nach außen muss alles perfekt sein bei der Unternehmerfamilie, niemand möchte negative Publicity. Doch als Jeskos Erkrankung an Leukämie einen Spender erforderlich macht, darf die geschiedene Frau, Käthe, gezwungenermaßen auf das Anwesen der Solms, um als möglicher Spender zu fungieren.
    Die aktuelle Freundin von Ansgar, Jeskos Bruder, ist Krankenschwester, und soll gemeinsam mit Jesko nebenan mit Käthe im Gartenhaus wohnen und sie in Schach halten. Jesko will seine Mutter, die geistig verwirrt ist, und den Kindern in der Vergangenheit schreckliches angetan hat, eigentlich nie wieder sehen, doch er beugt sich dem Druck der restlichen Familie.

    Chaos ist natürlich vorprogrammiert, doch zwischen diesem Chaos blitzen Fragmente aus der Vergangenheit ans Licht, die ein gänzlich anderes Licht auf die Familie werfen. Auch Käthes Verhalten wird im Laufe des Romans erläutert, und der Leser bekommt am Ende eine andere Sicht geboten. Wer glaubt schon einer Irren? Dies kam dem Familienoberhaupt Gebhard natürlich gut aus, und ein großes Geheimnis wird am Ende leider nicht geklärt, auch wenns die Gemüter der Familie doch sehr erhitzt hat. Wie im wahren Leben bleiben Dinge offen, die zwar alle interessieren, doch nie offenbart werden.
    Jesko machte in meinen Augen ebenfalls eine beachtliche Transformation durch, denn er entpuppte sich als umgänglicher Mensch, ganz entgegen meiner ursprünglichen Meinung. Jeskos Art und sein Humor lockerten die Handlung für mich enorm auf.

    Am Ende des Romans herrschte zwar ein wenig viel Friede-Freude-Eierkuchen vor, doch es sei Chris Kraus verziehen, denn ich habe mich köstlich amüsiert, und den verqueren Humor sehr genossen.

    Der Roman regte mich zum nachdenken an, und ließ mich auch staunen, denn Kraus hat wirklich eine interessante Art seine Geschichte zu verpacken. Salopp gesagt ist dies wohl einer der kritischsten Romane der humoristisch wiedergegeben wird. Mir hat es gefallen!

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  1. Auf den Punkt

    Jesko von Solm hat Leukämie. Zu seiner Mutter Käthe hat er seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr, seit sie versucht hat Jesko und seinen Bruder Ansgar umzubringen. Nun soll aber die Mutter als Knochenmarkspenderin Jeskos letzte Überlebenschance sein. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Mutter leidet an diversen psychiatrischen Erkrankungen, ist schwere Alkoholikerin und sowieso Persona non grata in der Familie von Solm.

    Es ist eine sehr verstörende Geschichte über eine äußerst dysfunktionale Familie, die der deutsche Autor und Filmregisseur Chris Kraus in seinem Roman „Scherbentanz“ erzählt. Kraus‘ Protagonist Jesko, so wie auch dessen Bruder Ansgar, erlebte eine Kindheit an der Seite einer psychotischen Mutter und eines kaltherzigen Vaters.

    Der Patriarch von Solm etablierte sich in der Baustoffindustrie, ist in zweiter Ehe ganz klassisch mit der ehemaligen Sekretärin verheiratet. Die nationalsozialistische Vergangenheit seiner Herkunftsfamilie trägt Gebhard von Solm als Aushängeschild vor sich her. Ansgar tritt ins Familienimperium ein. Aber der Exzentriker Jesko distanziert sich von der Familie, hebt sich allein schon im Aussehen und Kleidung – er hat ein Faible für Herrenröcke – ab, ist nicht von Beruf Sohn, sondern wurde Modedesigner. Mit der Philosophie Senecas und erstklassigem Zynismus rüstet er sich gegen alles, was ihm nahekommen könnte. Erst seine Erkrankung treibt ihn gezwungenermaßen in den kalten Schoß der Familie zurück.

    „Kaum ein Mensch weiß um die eigene Seele, ihren Geiz, ihre Arroganz, ihre Habgier oder abgrundtiefe Gemeinheit. Wir alle sind blind, wenn es um die andere Seite unseres Mondes geht, auf die kein Sonnenstrahl trifft.“

    Jeskos vordergründige Arroganz beginnt zu bröckeln, als er sich seiner Mutter zu nähern beginnt. Käthe hat einige große Auftritte. Nie kann man sich bei ihr sicher sein, ob diese ihrem Wahnsinn entsprechen oder bewusst in Szene gesetzt werden.

    Die Szenerie beherrscht Chris Kraus, dies ist sicher auch seinem Metier als Filmregisseur geschuldet. Pointiert, bitterböse, voller schwarzem Humor bringt er diese zerbrochene Familie auf den Punkt. Ein Scherbentanz.

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  1. Sehr eigenwillig

    Jesko ist das schwarze Schaf der Industriellenfamilie Solm. Er ist Modedesigner, trägt gerne Röcke und sagt meist sehr direkt, was er denkt. Gesellschaftliche Normen und Zwänge sind ihm ein Gräuel und oft verhält er sich provokant dagegen.
    Eigentlich hat er seit Jahren mit der Familie gebrochen, zu vieles ist passiert, gesagt oder eben nicht gesagt worden. Doch nun hat Jesko Leukämie und seine Mutter käme eventuell als Knochenmarkspenderin in Betracht. Doch auch die Mutter ist eigentlich seit Jahren von der Bildfläche verschwunden gewesen, alkoholkrank und verrückt. Nun hat der Vater die Mutter ausfindig gemacht und im Gartenhäuschen einquartiert. Hier soll auch Jesko wohnen, bis eine medizinische Untersuchung ergibt, ob die Mutter als Spenderin in Frage kommt oder nicht.
    Der Empfang bei der Familie Solms verläuft nicht so, wie man sich das üblicherweise vorstellt. Der Vater ist mit Gästen beschäftigt, das Häuschen muss er zunächst einmal grundreinigen und von Mäusen befreien, um die verrückte und ständig betrunkene Mutter kümmert sich Simone, genannt Zitrone, die Verlobte seines Bruders Ansgar. Dieser hat eigentlich schon wieder eine andere, standesgemäßere Freundin, aber Zitrones Pflegedienste an der Mutter sind eben doch gerade so geschickt....
    ,,Scherbentanz" ist für mich ein schwieriges Buch. Sehr gut gefallen mir Sprache und Stil des Autors, die sich durch einen genialen Wortwitz, Ironie und Sarkasmus auszeichnen.

    So wird z.B die neue Freundin des Bruders so von Jesko beschrieben:
    ,,Ihre Überheblichkeit wäre erträglich gewesen, hätte sie nicht diesen Vorhang aus intellektueller Unterforderung dazugewebt. Sie wirkte, als wolle sie eignentlich Sätze sagen wie : Die Intuition eines Features hasardiert losgelöst von der Wissenschaft , die sich mit mathematischen Schritten baltischen Paradoxons und ostpreußischen Infinitums annähert, denn manchmal macht die Ars longa den sentimentalen Pathfinder der historischen Scientia." (S. 155)
    Allerdings gibt es auch sehr viele merkwürdige Ereignisse oder böse und grausame Situationen, die zwar das bitterböse Familiendrama vor Augen führen, mich aber eher abstoßen als anrühren.
    Auch wenn man sich vorstellen kann, dass Familienbande sehr schwierig, verletzend und teilweise auch gnadenlos sein können, wundert man sich doch, dass Jesko sich auf diese ,,Familienschlacht", wie es im Klappentext heißt, einlässt. Seine Waffe ist sein Zynismus, der teilweise witzig, teilweise aber auch schwer erträglich ist.
    Ein interessanter, aber auch sehr eigenwilliger Roman.

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  1. Leben heißt manchmal jeden Tag zu kämpfen

    "Was auch immer für ein Ende mir das Schicksal bestimmt hat, ich werde es ertragen." (Lucius Annaeus Seneca)
    Der junge Modedesigner Jesko, der ein Faible für Röcke hat, ist an Leukämie erkrankt und braucht dringend einen Knochenmarkspender. Die letzte Möglichkeit scheint seine psychisch kranke Mutter zu sein, auf die er in der elterlichen Villa trifft, wo man ihn heimlich unter einem Vorwand angelockt hat. Doch Jesko weigert sich erst mal, die Mutter als Spenderin anzunehmen. Viel zu präsent sind in ihm noch die Erinnerung an seine Kindheit und das, was er und sein Bruder mit seiner Mutter erleben mussten. Doch hat Jesko überhaupt eine andere Wahl, wenn er nicht sterben möchte?

    Meine Meinung:
    Das Cover fand ich schon ein wenig eigenwillig, ich konnte erst etwas damit anfangen, als ich in die Geschichte eingetaucht bin und erfuhr, das Jesko dieses Faible für Röcke hat. Der Schreibstil ist gut, jedoch empfand ich ihn sehr oberflächlich. Leider wird mir viel zu wenig in die Vergangenheit der Familie und selbst in die des Familienoberhaupts eingegangen. Der Autor beschreibt zwar sprachgewaltig die Familie, die eigentlich schon lange keine Familie mehr ist. Sodass selbst ich als Leser nach und nach mitbekomme, was in dieser Familie schiefgelaufen ist. Zwar werden manche Aussagen nur oberflächlich und größtenteils durch die Blume angedeutet. Was das Lesen der Geschichte nicht gerade einfacher für mich macht. Alle Mitglieder der Familie haben für mich im Grunde ihre ganz eigene Problematik, die sie mit sich herumschleppen. Kein Wunder bei dem, was jeder Einzelne erleben musste. Jesko scheint das schwarze Schaf der Familie zu sein, weshalb er schon recht früh weggegangen ist. Seinen großen Halt findet er in einem blauen Buch von Seneca, das er immer bei sich trägt. Dass man Jesko zu seiner kranken Mutter ins ehemalige Haus der Tanten einquartiert, statt ihn zu sich in die Villa zu nehmen, hat mich ebenfalls ein bisschen verwirrt. Scheint es daran zu liegen, das sie an ihm hängen und sie Jesko helfen möchten? Oder will man ihn nicht zu nahe bei sich haben? Dass er dazu noch als Kranker das komplette Haus putzen muss, fand ich schon recht schräg und ungerecht. Dass er überhaupt an so ein zu Hause zurückkehrt, war für mich unverständlich. Doch vielleicht war es wirklich nur aus Verzweiflung, weil er sich Hilfe von seiner Familie erhofft hat. Doch irgendwie scheint dieses zu Hause wieder seine Erinnerungen an früher zu wecken. Seine Probleme, die er zu Anfang mit Ansgars Freundin Simone hat, konnte ich ebenfalls nicht ganz nachvollziehen, war es aus Eifersucht? Immer stärker wird mir die Unterschiedlichkeit der Brüder klar. Während Jesko doch mehr von seiner Mutter hat, scheint Ansgar dem Vater total hörig zu sein. Doch Jesko scheint nach 20 Jahren Trennung von seiner Mutter zum ersten Mal klar zu sein, das die Probleme von ihr eigenen Ursachen hat. Nie wurde über bestimmte Vorkommnisse gesprochen. Selbst heute noch lässt der patriarchische Vater sich nicht in alle Karten blicken. Für mich war es ein erschreckendes, frustrierendes Familienbild, das hier der Autor beschreibt. So ganz klar bin ich am Ende trotz allem nicht geworden, was der Autor mir damit wirklich sagen wollte. Den ich glaube oder hoffe nicht, dass es so eine chaotische Familie wirklich gibt. Der schwarze Humor dagegen stimmte mich eher traurig, als das ich lachen konnte. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte manche Szenen deutlicher und detaillierter dargestellt. So jedoch blieben bei mir nach dem Buch viel zu viele Fragen unbeantwortet. Ich hatte da doch mehr erwartet anhand des Klappentextes deshalb von mir nur 3 von 5 Sterne.

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  1. 4
    21. Dez 2020 

    Im Angesicht des Todes...

    "Ein Sommer kann sehr kurz sein. Dann kommt ein bisschen Herbst, und im Handumdrehen liegt Laub auf den Friedhöfen." (S. 32)

    Jesko ist todkrank, ja, aber außerdem und vor allem ist er ein Zyniker, der das Leben dadurch versucht erträglich zu gestalten, indem er stets ein Buch des altrömischen Philosophen Seneca bei sich trägt - zu dem er aber, wie sich später herausstellt, ebenfalls eine zynische Einstellung pflegt. Wie überlebenswichtig der Zynismus für Jesko ist, stellt der Leser rasch fest, als er dessen Familie kennenlernt: Vater, Mutter, Stiefmutter, Stiefgeschwister und Bruder samt Freundin. Ausreichend Stoff, der manch anderen in die Verzweiflung getrieben hätte, doch Jesko hat seinen eigenen Weg gefunden, mit den Widrigkeiten des Lebens im Allgemeinen und der Familie im Besonderen umzugehen.

    Die Zement-Dynastie hat Jesko nie gereizt, die aalglatten Verlogenheiten der High-Society ebenso wenig. Sein Bruder dagegen folgt dem Vater nach, wird das Zementwerk Solm dereinst übernehmen, und hält sich auch an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Upperclass. Jesko dagegen ist eher das schwarze Schaf der Familie, interessiert sich für Mode, trägt Röcke statt Hosen und sagt recht unverblümt was er denkt. Doch der Vater will den nahenden Tod seines Sohnes nicht einfach hinnehmen und greift daher nach jedwelchem Rettungsanker.

    Dafür wurde Jeskos Mutter ausfindig gemacht, die seit Jahrzehnten von der Bildfläche verschwunden war. Obdachlos, Alkoholikerin, psychisch krank - für die ach so ehrenwerte Familie Solm definitiv kein Vorzeigekandidat. Und so verbannt der Vater seine Ex-Frau in das 'Tantenhaus', ein kleines Häuschen am See - und Jesko gleich noch dazu. Jesko behagt diese Vorstellung gar nicht. Er mag sich nicht um seine Mutter kümmern, die ihn und seinen Bruder nicht nur im Stich gelassen, sondern als Kinder fast umgebracht hätte. Würde er ihre Dieste als Knochenmarkspenderin tatsächlich in Anspruch nehmen? Wohl kaum.

    Doch Jesko richtet sich ein in dem Sommer in seinem Elternhaus, schläft in den warmen Nächten auf der Veranda, kämpft gegen eine Mäuseplage und stellt sich auf seine zynische Art seinen Erinnerungen wie auch aktuellen Ereignissen, die einige Familiengeheimnisse zu Tage bringen, die manch einer wohl lieber im Verborgenen gehalten hätte. Was für eine Familie! Es ist nicht zu viel gesagt, dass einem Jeskos Mutter im Verlauf der Erzählung fast noch als die zugänglichste und normalste Person erscheint.

    "Und das Leben glich den Kondensstreifen am Himmel, die in alle Richtungen verblassten." (S. 223)

    Diese eigenwillige Familiengeschichte wird in einer verknappten Sprache erzählt, aufs Wesentliche reduziert, dabei aber hinter dem Zynismus voller Emotionen im Hintergrund. Melancholisch aber leicht - große Kunst.

    Mir hat der Roman sehr gut gefallen, allerdings bleiben am Ende einige angerissenen Themen bzw. Fragen offen, was mich doch etwas störte. Deshalb gibt es von mir hier nicht die volle Punktzahl. Aber empfehlen kann ich den Roman dennoch - für jeden, der gerne einmal etwas ganz anderes lesen möchte.

    © Parden

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  1. Hinter den Kulissen des schönen Scheins

    Schande über mein Haupt, aber Kraus war mir bisher weder als Autor, noch als Regisseur bekannt. Vorsichtig tastete ich mich also an diese 220 Seiten dünne Geschichte über einen an Leukämie erkrankten Exzentriker, beziehungsweise Aussteiger und Sohn aus reichem Hause an. Seine leibliche Mutter, längst geschieden und in die alkoholgetränkten Tiefen von Depression und Schizophrenie abgestiegen, scheint der einzige Lichtblick für eine Stammzellenspende zu sein. Aber Jesko zögert. Zuviel hat die Mutter in seiner Kindheit nach der Scheidung von seinem Vater zerstört. Wärend Jesko im Modedesign Abstand gewann, hat sich sein Bruder für Aufstieg und Thronfolge im väterlichen Betrieb entschieden, mit all seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Bewahrung des Scheins.
    Und der Schein trügt! Denn nichts scheint hinter den Kulissen des herrschaftlichen Anwesens zu stimmen und der Showdown der Zusammenkunft aller Familienmitglieder zwecks Rettung von Jeskos Leben, erweckt alle Kellerleichen.

    Sowohl die Mutter, als auch Jesko werden unter einem Vorwand zur Villa gelockt. Sie sollen sich versöhnen und hoffentlich gesunden helfen. Die Freundin des Familienerben Armin(Jeskos Bruder), wird zur privaten Krankenschwester der beiden umfunktioniert, obwohl sie eigentlich schon längst auf der Abschussliste steht, da sie für diese Familie nicht gesellschaftsfähig genug ist. Dieses Außenseitertrio wuppt dann aber auch die Geschichte aus dem Gartenhaus des Grundstücks heraus, lässt alte Erinnerungen gründlich aufkochen und gegen den patriarchischen Widerstand den wirklichen Retter Jeskos aufspüren.

    Das Buch gewinnt durch seine ungewöhnliche, aber zielsichere Wortwahl, die der eigentlich tragischen Familiengeschichte eine fast schon satirische, auf jeden Fall aber ironische Form verleiht. Die Leichtigkeit der bildhaften Vergleiche verleiten zum Lachen, die fehlenden Längen lassen das Bild der dysfunktionellen Familienstruktur umso krasser hervortreten. Das Ende fordert Opfer, findet Überlebende und lässt ein Trümmerfeld als Statement zurück.

    Einfach grandios und subjektiv das Beste an dem Buch aber ist das Nachwort, in dem Kraus in Begleitung von Volker Schlöndorff vom Zusammentreffen mit Günter Grass erzählt. Aus Kraus gescheiterter Lebensaufgabe wurde schließlich die Geburtsstunde des Scherbentanzes. Kraus eigene Syntax bekommt hier ihre ganz besonderen Wiedererkennungswert.

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  1. Ein besonderer Roman

    Der Modedesigner Jesko ist sehr speziell. Er trägt gerne Röcke und gesellschaftlichem Zwang beugt er sich nicht. Doch er hat Leukämie und nicht mehr lange zu leben. Er wird unter einem Vorwand in die Villa seiner Familie gelockt, denn seine Mutter soll als Knochenmarkspenderin in Betracht kommen.

    Ich war sehr gespannt auf diesen Roman, denn die Bücher aus dem Diogenes Verlag sind häufig sehr besonders.
    Das Buch ließ sich sehr gut und zügig lesen. Ich konnte mir die Personen bildhaft vorstellen, und die Szenen liefen wie ein Film vor meinen Augen ab. Mir gefiel dieser besondere Schreibstil sehr gut. Es war eine tolle Mischung aus Tragik und Humor.
    Die Personen wurden sehr gut beschrieben und ihre Besonderheiten prima herausgearbeitet. Sie waren alle sehr unterschiedlich und ihre Entwicklungen teilweise überraschend. Sie waren nicht alle sympathisch, aber dennoch sehr passend in ihren Rollen. Witzig waren einige Bezeichnungen, wie z.B. die Freundin von Jeskos Bruder Ansgar, die Zitrone genannt wurde. Sowas ist schräg.
    Die Geschichte fand ich von Anfang an sehr faszinierend, ich mochte einfach diese besondere Mischung. Einerseits waren es tragische und teils sehr traurige Momente und Szenen, die dann aber durch Feinheiten in den Gedanken oder Dialogen wieder sehr humorvoll untermalt wurden, so dass ich teilweise laut losprusten musste. Dies zog sich durch das gesamte Buch hindurch. Ich liebe solch einen schwarzen Humor. Auch die bösen Szenen haben mir sehr gut gefallen. Sie waren einfach ehrlich und auf den Punkt getroffen.

    Ein wirklich besonderer Roman, dem ich tolle und unterhaltsame Lesestunden verdanke. Ich vergebe 5 von 5 Sternen.

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  1. Eine zerbrochene Familie

    „Sie hatten mich angerufen.
    Und wie.
    Fünf Stunden später kam ich in Mannheim an.
    Mitten in der Nacht.“ (S. 9)

    Der Ich-Erzähler ist Jesko, 33, gelernter Schneider mit Hang zum Modedesign und so schwer an Leukämie erkrankt, dass es keine Heilung zu geben scheint. Er stammt aus der großbürgerlichen Familie Solm, hat der Zement-Dynastie aber schon lange den Rücken gekehrt. Zu groß waren die unterschiedlichen Weltanschauungen zwischen Vater und Sohn. Jesko ist das schwarze Schaf der Familie, der Stachel im Fleisch, der Kritiker. Trotzdem hat Vater Solms ihn in die Familienvilla beordert. Offenbar will er den Sohn nicht aufgeben und ihm helfen. Skurril mutet es an, dass auch Jeskos leibliche Mutter, zu der seit Jahren kein Kontakt besteht und die geistig schwer verwirrt und äußerlich verkommen ist, „eingeladen wurde“. Patriarch Solm plant den großen Coup: Ihre Stammzellenspende soll den Sohn retten -  am besten heimlich, ohne öffentliches Aufsehen.

    Was sich daraus ergibt, ist ein rasantes Buch, wie ich bislang noch keins gelesen habe. Chris Kraus erzählt seine Geschichte sehr bildhaft, spart nicht mit übertriebenen Szenen (immer aus der Sicht Jeskos), bei denen einem jedoch das Lachen oft im Hals stecken bleibt. Er packt viele Überraschungsmomente, Dialoge und Stimmungswechsel in seinen Text.

    Jesko versucht sich innerlich, von seiner Familie zu distanzieren. Viele Verletzungen rühren aus Kindheit und Jugend, die Erinnerungen daran sind krass und dabei sehr berührend geschildert. Dass Jesko schwer krank ist, spürt man an den leisen, eingestreuten Sätzen, die belegen, dass er sich gründlich mit dem bevorstehenden Tod auseinander gesetzt hat:

    „Tod ist Nichtsein. Was damit gemeint ist, weiß ich schon lange. Nach mir wird es genauso sein, wie es vor mir war.“ (S.12)

    „Ein Sommer kann sehr kurz sein. Dann kommt noch ein bisschen Herbst, und im Handumdrehen liegt Laub auf den Friedhöfen.“ (S. 32)

    „Das Schlimmste ist, wenn du zu Pudding wirst, wenn sie dich weglöffeln können, weil du einfach keine Kraft mehr hast.“ (S. 147)

    Jesko ist sowieso bei all seiner Schnoddrigkeit ein sehr nachdenklicher Charakter. Das blaue Buch mit den Weisheiten Senecas ist sein Elixier für alle Lebenslagen.

    Familie Solm ist einigermaßen zersplittert. Vater Gebhard ist zum zweiten Mal verheiratet. Seine Gattin („Stiefi“) wirkt relativ blass und ist um die Erziehung der beiden Kinder bemüht („Saddam“ und „Khomeini“). Jeskos Bruder Ansgar wirkt wie ein oberflächlicher Mustersohn, der bedenkenlos in die Fußstapfen des Vaters tritt. Seine Freundin „Zitrone“, die sich als Krankenschwester um Jesko und die geisteskranke Mutter kümmern soll, scheint ein Lichtblick in dieser maroden Familie zu sein. Die einzelnen Figuren sind absolut nicht frei von Klischees. Komischerweise ist mir das überhaupt nicht aufgestoßen, weil Kraus niemals überdreht. Er besteht den Drahtseilakt aus (tragischer) Komik und Ernsthaftigkeit mit Bravour: Man fühlt sich durch das hohe Erzähltempo mitgezogen und fliegt nur so durch die Seiten. Der überspitzte, sarkastische Tonfall wird mit großer Empathie kontrastiert.

    Auch der Protagonist Jesko hat seine Ecken und Kanten. Auch er hat aus einer gescheiterten Beziehung eine Tochter, um die er sich nur rudimentär kümmert. Trotzdem schließt man ihn ins Leserherz.

    Im Zuge des Buches wird die komplizierte Familiengeschichte bis zur Großvatergeneration aufgedeckt, die ein wenig Verständnis auf die Figuren wirft. Die Schatten der Vergangenheit wirken bis in die Gegenwart. Auch der letzte Satz ist durchaus erwähnenswert:

    „Und das Leben glich den Kondensstreifen am Himmel, die in alle Richtungen verblassten.“ (S. 223)

    Wie Kraus im Nachwort mit viel Humor erläutert, verdankt der vorliegende Roman seine Existenz der Tatsache, dass eine für Anfang der 2000er Jahre geplante Verfilmung unter Volker Schlöndorff scheiterte, weil Chris Kraus´ Drehbuch vom Autor abgelehnt wurde. Die sich daraus ergebende freie Zeit nutzte Kraus zum Schreiben von „Scherbentanz“, das in dieser Neuauflage vom Autor noch einmal komplett überarbeitet wurde.

    Ich bin selbst überrascht, in welchem Maße mich der Roman überzeugt hat und vergebe meine 5 Sterne im Brustton der Überzeugung. Er war für mich ein Highlight zum Jahresende.

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  1. 5
    16. Dez 2020 

    Eine Story in hochverdichteter Sprache

    Chris Kraus’ Roman Scherbentanz wurde in diesem Jahr wiederaufgelegt vom Diogenes Verlag, nachdem er bereits 2003 erschienen war und in dem Jahr auch verfilmt wurde. Chris Kraus ist eigentlich Regisseur und Filmemacher, hat aber inzwischen auch schon eine Reihe von Romanen – meist verbunden mit Filmprojekten – veröffentlicht. Die Entstehungsgeschichte des „Scherbentanz“ erzählt uns Kraus in einer als Nachwort bezeichneten Geschichte über ein desaströses Treffen von ihm mit Volker Schlöndorf und Günter Grass, auf dem ein dann gescheitertes Filmprojekt besprochen wurde. Das Scheitern dieses Projektes dann lieferte die Initialzündung zu „Scherbentanz“.
    Chris Kraus erzählt darin die Geschichte einer kurzzeitig wiedervereinten Familie, die mit viel Dramatik aber vor allem auch Sprachwitz und Humor geschildert wird. In der Villa der Familie, irgendwo an einem See in der Nähe von Mannheim gelegen, treffen nach Jahren vollkommener Funkstille wieder aufeinander:
    - Jesko, Rock tragender Außenseiter der Familie, Modeblogger und -designer, der lebensbedrohlich an Leukämie erkrankt ist;
    - Ansgar, sein älterer Bruder, der an der Seite seines Vaters lebt und darauf hinsteuert, dessen Unternehmen zu übernehmen und in seine gesellschaftlichen Fußstapfen zu treten;
    - der Vater, Unternehmensleiter und herrschendes Oberhaupt der Familie;
    - Käthe, seine Exfrau, die er einst aus dem Haus warf, da sie nicht in der Lage oder gewillt war, die gesellschaftliche Stellung neben ihm einzunehmen. Grund dafür war wohl zumindest teilweise eine psychische Störung, die auch zu einem gefährlichen tätlichen Angriff auf die Söhne geführt hat.
    Auf Initiative des Vaters kommen diese Familienmitglieder nach Jahren, in denen sie nichts voneinander wussten und gehört haben, wieder zusammen. Anlass ist der Versuch, Käthes Rückenmark als Jeskos letzte Chance auf Heilung zu nutzen. Ansonsten bleibt der Vater sehr stark im Hintergrund. Er lässt die anderen Familienmitglieder die dramatischen Figurenkonstellationen und Situationen regeln und gibt sich wohl seinen wichtigeren Geschäften und Verpflichtungen hin.
    Dieses Zusammenkommen der unterschiedlichsten Charaktere mit hochdramatischem Hintergrund aus Vergangenheit und Gegenwart liefert den Stoff für den Roman, den Kraus mit einer ganz besonderen Sprache dem Leser präsentiert. Diese Sprache ist enorm verdichtet und legt durch Sprachbilder und andere sprachliche Mittel oftmals ganze Geschehen in einzelne kurze und knappe Sätze. Als Beispiel mögen hier die ersten Sätze des Buches dienen:

    „Sie hatten mich angerufen.
    Und wie.
    Fünf Stunden später kam ich in Mannheim an.“

    In die zwei kleinen Wörter „Und wie.“ kann der Leser eine ganze Geschichte hineindenken. Die fünf Stunden bis zur Ankunft in Mannheim können sich vor dem geistigen Auge des Lesers ausbreiten.
    Kraus schafft es dabei ungemein gut, eine schwierige Gradwanderung hinzubekommen. Sein ziel- und treffgenaues Erzählen bewegt sich an der Grenze zum Überzogenen, kippt aber nicht, sondern trifft den Leser eher genau ins Herz beziehungsweise ins Hirn, mit dem er dem Geschehen mit großem Genuss, Freude und häufig genug mit einem Lächeln auf den Lippen folgen kann.
    Das sprachliche Gewand dieses Romans ist für mich deshalb auch der eigentliche Held des Romans und ich möchte meinen Hut ziehen vor diesem sprachlichen Können des Autors. Ein Lesegenuss! 5 Sterne!

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  1. Brillant

    „Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, in südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen Nester.“ (Zitat Seite 59)

    Inhalt
    Jesko Solm, ein eigenwilliger Modedesigner, ist das schwarze Schaf einer ohnedies sehr dunklen Familie voller Geheimnisse, die vehement unter dem schönen, öffentlichen Schein der erfolgreichen Unternehmerfamilie verborgen gehalten werden. Nun wird Jesko dringend in die protzige Familienvilla gerufen, ohne den wahren Grund zu kennen. Er leidet unter Leukämie. Die letzte Hoffnung als mögliche Knochenmarksspenderin ist die leibliche, psychisch kranke Mutter. Eine Frau, die Jesko und sein Bruder Ansgar seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben und mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollten. Diese wurde nun vom Vater aufgefunden und heimlich ebenfalls in den Sitz der Familie gebracht. Sieben lange Tage bis zum operativen Eingriff zur medizinischen Abklärung liegen vor Jesko, und seine Krankheit ist das bei weitem geringste Problem.

    Thema und Genre
    In diesem Familien- und Generationenroman geht es um tiefe Schatten der Vergangenheit, Familiengeheimnisse, über die niemals gesprochen wird und die dadurch auch die Gegenwart belasten, zusammen mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Themen sind Krankheit, Konflikte und die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen.

    Charaktere
    Jesko ist Modedesigner, er fühlt sich in Röcken am wohlsten und bevor ihn seine Krankheit aus der Bahn werfen kann, hat dies längst seine Familie getan. Auch Seneca hilft da nicht immer. Beinahe abgeklärt beobachtet und kommentiert er spöttisch-ironisch-böse und immer punktgenau die Menschen in und außerhalb der Familienvilla, die er Festung nennt. Eine Figur, die man von der ersten Zeile an ins Leser*innenherz schließt.

    Handlung
    Jesko berichtet als Ich-Erzähler über die Ereignisse dieser Tage, gibt manchen Personen im familiären Kreis eigene Namen, die er aus den für ihn sichtbaren Eigenschaften ableitet. Rückblicke in Form eigener Erinnerungen und aus den Erzählungen anderer ergänzen und füllen die zunächst diffuse, mit offenen Fragen gefüllte Gegenwart mit Erklärungen. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus der Frage, wer diese Renate und ihr Sohn sind, von denen die stark verwirrte Mutter immer wieder faselt. Der Klappentext lässt eine nachdenkliche, traurige Geschichte erwarten, doch die Sprache des Autors, seine einmalige Art, seine Figuren auszuwählen und dann zu erzählen, auf einem schmalen Grat zwischen sarkastisch, sehr böse und sehr liebevoll, machen diesen Roman definitiv zu einem Leseerlebnis.

    Fazit
    Eine zerrüttete Familie, konsequent dirigiert vom starken Willen des Vaters. Das hohe öffentliche Ansehen der erfolgreichen Unternehmerdynastie muss um jeden Preis gewahrt werden. Wie passt der todkranke zweitälteste Sohn, der sich längst aus allen Zwängen befreit hat, in dieses Bild? Der Autor lässt uns an einer bitterbösen und dennoch überaus positiven, mit feinem Humor erzählten Geschichte teilhaben, einem einfühlsam und facettenreich gemalten Bild unserer Zeit.

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