Rotula: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Rotula: Roman' von Susanne Röckel
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Inhaltsangabe zu "Rotula: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:230
EAN:9783821861630

Rezensionen zu "Rotula: Roman"

  1. Die Natur vergisst nichts

    "Glücklicherweise sind wir in der Lage, Wasser überall so aufzubereiten, dass wir es nutzen können. Wir sind nicht mehr abhängig von dem Boden, aus dem das Wasser kommt. Wir haben es nicht mehr nötig, alles mögliche in das Erdreich - oder das Wasser - hineinzugeheimnissen, wie unsere armen Vorfahren."

    So spricht Madame Laval, Gattin des Bürgermeisters einer ungenannten, in Mitteleuropa gelegenen Stadt. Einer Stadt, die, wie es im Klappentext heißt, "ihre Seele verloren hat". Die Seele der Stadt war einmal der Fluss Ries, der ein vielfältiges Gewirr von kleinen Schleifen, großen Strömen, Sümpfen und Altwässern bildete. Die Stadt war in hohem Maße abhängig vom mehr oder weniger zufälligen Steigen und Sinken der vielen kleinen Gewässer, man lebte in ständiger Unsicherheit, immer wieder gab es durch Überschwmmung vernichtete Ernten und Hungersnöte. Anfangs des 20. Jahrhunderts begann man also mit Kanalisierung des Stroms und Entwässerung der Flächen - leider mit verheerenden Folgen. Zu Beginn des Romans befinden wir uns im 22. Jahrhundert und die Stadt ist völlig heruntergekommen. Der Mittelstand existiert nicht mehr, die Honoratioren leben aus dem Vollen, die eigentlichen Stadtbewohner im Elend. Seuchen und Verbrechen sind an der Tagesordnung.

    Unser Berichterstatter mit dem unwahrscheinlichen Namen Lancelot Squindo wurde als Leiter eines kleinen wissenschaftlichen Teams in die Stadt geschickt, um zu prüfen, ob und wie sich die Infrastruktur regenerieren und die Stadt neu beleben ließe. Schon auf den ersten Seiten erfahren wir: das Projekt ist gescheitert, man gibt ihm die Schuld. Das ganze Buch ist eine Art Verteidigungsschrift aus seiner Hand. Zum Großteil besteht es allerdings von ihm zitierten Schriftstücken, die er in den Stadtarchiven gefunden hat; vor allem aus dem überlieferten Tagebuch einer Prinzessin Luise, die im neunzehnten Jahrhundert in der Nähe lebte und eifrig Naturforschung betrieb.

    Die Erzählstruktur in "Rotula" ist etwas komplizierter als in Röckels späterem Roman "Der Vogelgott". Wir haben es nicht nur mit ein paar Erzählstimmen zu tun, sondern mit einem ganzen Geflecht. Das Tagebuch der Prinzessin, die bei Ausgrabungen in der Umgebung in einer Lehmschicht seltsame rädchenförmige Abdrücke fand und daraus ein ganzes (im Wortsinn: vor-sintflutliches!) Natursystem folgerte, wird nicht im Original wiedergegeben, sondern mitsamt einem ganzen Apparat erklärender Fußnoten, die ein späterer Erforscher der Stadtgeschichte 2014 hinzufügte mit der Absicht, das Ganze zu veröffentlichen - auch daraus wurde nichts. Durch die Quellen wird langsam klar, dass wir es mit einem periodisch wiederkehrenden Unheil zu tun haben: immer im 14. Jahr jedes Jahrhunderts vollzieht sich in der Stadt irgendeine Katastrophe, begleitet von einem Kultus des "Huntarifestes" (abgeleitet von der Zahl hundert). Doch wie hängen diese periodischen Katastrophen untereinander zusammen, und welche Rolle spielt dabei jener skelettlose rädchenförmige Organismus, den die Prinzessin in ihrem Tagebuch beschreibt?

    Susanne Röckel folgt wie auch im "Vogelgott" einem Prinzip, das man mit einem unvollständigen Puzzlespiel vergleichen könnte. Wir versuchen beim Lesen die Steine zusammenzusetzen, finden Muster, sortieren wieder um, interpretieren das Gesamtbild. Aber egal, wie wir die Teile kombinieren, es bleiben immer einige Ecken unvollständig und einige Steine über. Für mich ist diese Art des Erzählens äußerst reizvoll, man möchte nach Lesen der letzten Seite am liebsten gleich wieder von vorn beginnen, zumal die Szenen in jener Stadt sehr bildhaft geschildert werden und die Persönlichkeitsentwicklung der Prinzessin, abgebildet in ihrem Tagebuch, ein Kabinettstückchen psychologischer Tiefenschärfe darstellt. (Der eigentliche Erzähler Squindo bleibt demgegenüber ziemlich blass.) Man muss sich aber darauf einstellen, dass in diesem Buch nicht alles nahtlos aufgeht, und das Buch als eine Art Umweltdystopie zu bezeichnen, wie einige Rezensenten es tun, greift mit Sicherheit zu kurz. Es ist eine geniale, finstere Parabel aus einer Welt, die unsere sein könnte - Realphantastik vom Feinsten für Liebhaber des Genres.

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