Rico, Oskar und die Tieferschatten

Buchseite und Rezensionen zu 'Rico, Oskar und die Tieferschatten' von Andreas Steinhöfel
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Rico, Oskar und die Tieferschatten"

Ein bisschen wie den jungen Forrest Gump hat man sich Rico, die Hauptfigur dieses sensationellen und zu Recht mit dem internationalen Buchpreis Corine ausgezeichneten Kinderbuches, vorzustellen: geistig etwas behindert -- „tiefbegabt“, wie Rico sich selbst nennt, was für eine tolle Wortschöpfung! --, aber ungeheuer liebenswert und mit einem großen Talent zum Beobachten und Erzählen gesegnet (der Roman ist in der Ich-Perspektive des Jungen geschrieben). Ricos Welt ist klein: Da ihm immer wieder Dinge „aus dem Kopf herausfallen“ -- wo links und wo rechts ist zum Beispiel --, besteht sein ganzer Kosmos aus der „Dieffe“, der Dieffenbachstraße in Berlin-Kreuzberg, in der er sowohl wohnt als auch das Förderzentrum besucht; und in der er sich nicht verirren kann, weil sie schnurgerade ist. In dieser Miniaturwelt kennt sich Rico umso besser aus, und so verbringt er schon einmal einen Vormittag damit, detektivisch der Herkunft einer „Fundnudel“ nachzuspüren: Welcher der Nachbarn hat eine matschige Rigatoni auf die Straße geworfen? Das sind die Fragen, denen Rico mit heiligem Ernst nachgeht.

Sehr komisch und sehr realistisch ist das alles geschildert. Und man glaubt Rico, dass er trotz seines Handicaps, der damit verbundenen Ängste und der zahllosen „Schwachkopf“-Beschimpfungen kein unglückliches Kind ist. Das liegt vor allem an seiner ihn allein erziehenden Mutter, einer der stärksten Figuren des Buches. Sie ist oft nicht da, denn sie hat einen aufreibenden Job in einem Nachtclub; trotzdem macht sie lauter „kümmerige“ Sachen für ihn und stattet Rico mit dem Selbstbewusstsein aus, das er braucht. Sie ist sein Nest und sein Netz, das ihn immer auffängt, wenn es in seinem Kopf zu sehr drunter und drüber geht.

Rico ist aus dem Häuschen, als er Oskar kennenlernt und dieser sein erster echter Freund wird. Oscar sieht komisch aus: Er ist winzig und trägt aus Angst vor allem Möglichen stets einen Motorradhelm -- und er weiß ganz viel. Als Oskar plötzlich verschwindet, entfaltet sich zwar auch noch eine veritable Krimihandlung (es geht um einen mysteriösen Kindesentführer, mehr sei nicht verraten), doch den Kern des Buches bildet die wunderbare Freundschaft der beiden Außenseiter. Für die legt Steinhöfel Rico so hinreißende Worte in den Mund, dass es fast wehtut und man sich auch als Erwachsener an mancher Stelle fragt, ob es nur Lachtränen sind, die man sich da gerade verstohlen von der Wange wischt. -- Christoph Nettersheim, Literaturanzeiger.de

Format:Taschenbuch
Seiten:224
Verlag: Carlsen
EAN:9783551316035

Rezensionen zu "Rico, Oskar und die Tieferschatten"

  1. 5
    21. Okt 2016 

    Tiefbegabt...

    Rico heißt eigentlich Frederico Doretti und lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter in der langen und geraden Dieffenbachstraße in Berlin. Diese Straße hat seine Mutter vorsorglich für Rico gewählt, denn es fällt ihm schwer, rechts und links außereinanderzuhalten - und da wo er wohnt, muss er nun meistens einfach nur geradeaus gehen. Denn Rico ist tiefbegabt.

    "Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte aber auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem." (S. 11)

    Obwohl Rico ein Förderzentrum besucht, hat sein Lehrer bemerkt, dass der Junge sich gut ausdrücken kann - und nun soll er ein Ferientagebuch führen. Akribisch beginnt Rico die Ereignisse der Ferientage zu notieren - und es werden aufregendere Tage, als er geglaubt hat.

    Als er auf der Straße eine Nudel findet und sich kriminalistisch daran macht herauszufinden, wie diese Nudel dort im Dreck gelandet ist, lernt Rico seinen ersten und einzigen Freund kennen: Oskar. Klein, ängstlich, kaum einmal ohne seinen blauen Schutzhelm unterwegs, bis zum Bersten angefüllt mit Faktenwissen und hochbegabt, ist Oskar das passende Gegenstück zu Rico. Unversehens geraten die beiden dann auch noch auf die Fährte des seit langem gesuchten ALDI-Kidnappers, der erst Kinder entführt und dann für ein erstaunlich geringes, discounterpreisverdächtiges Lösegeld wieder freilässt.

    "Manchmal wacht man morgens auf, öffnet die Augen und es fällt einem sofort etwas Schönes ein. Es ist, als ginge im Bauch eine kleine Sonne auf, die einen innen drin ganz warm und hell macht." (S. 95)

    Ein ungleiches Pärchen sind sie, Rico und Oskar, und doch ergänzen sie sich auf ganz wundersame Weise. Tiefbegabt und frohgemut der eine, hochbegabt und ängstlich verzagt der andere, findet der eine in dem anderen das, was ihm selbst zu fehlen scheint. Doch nicht nur die beiden sind von Andreas Steinhöfel wunderbar skizziert - alle Bewohner des Mietshauses, in deren Wohnungen Rico sich gerne umschaut, sind plastisch gezeichnet, eigen und unverwechselbar. Ein Mietshaus als Mikrokosmos zu wählen, erweist sich hier als gelungener Kunstgriff – dem Autor gelingt hier eine ganz besondere Milieuschilderung, die weder diskriminierend gegenüber den Figuren, noch überfürsorglich pädagogisierend gegenüber seinen jungen Lesern ist, sondern einfach nur treffend und liebevoll.

    "HORIZONT: Die Stelle auf der Welt ganz hinten, wo die Erde und der Himmel aufeinanderstoßen. Oder das Meer und der Himmel. Erde und Meer geht nicht, außer senkrecht, aber das heißt dann garantiert anders. Zum Beispiel Merizont." (S. 70)

    Die Erzählung beinhaltet eine angenehme Mixtur aus Spannung und Humor. Die Suche nach dem Kindesentführer ist dabei gelungen verwoben mit Ricos unverfälschtem und originellem Blick auf seine Mitmenschen, was zuweilen auch recht berührend sein kann. Ein besonderes Vergnügen war für mich dabei die persönliche Fremdwortsammlung Ricos, in der er sich einige Wörter auf eine sehr eigene Art erklärte. So manches Mal musste ich da beim Lesen laut lachen.

    2009 erhielt dieses Buch den Deutschen Jugendliteraturpreis - 2013 erhielt der Autor den Sonderpreis für sein Gesamtwerk im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Von Rico und Oskar gibt es bereits drei Bücher, von denen das vorliegende der erste Band ist. Alle drei Erzählungen sind inzwischen auch schon verfilmt worden.

    In der Jurybegründung zur Preisverleihung heißt es u.a.:

    "Steinhöfels Sprache schließlich vereint Figurendarstellung und Milieuschilderung zu einem modernen Sozialroman für Kinder. Um aus der Perspektive Ricos erzählen zu können, schafft er ein umfassendes und sprachschöpferisch ausgeklügeltes Vokabular für dessen Weltwahrnehmung. Ohne Beschönigung taucht Steinhöfel ein in Ricos innere und äußere Welt, eröffnet uns einen neue kinderliterarische Maßstäbe setzenden Kosmos und legt so einen Roman für Kinder vor, der in Figurenzeichnung, Plotgestaltung, sprachlicher Gestaltung und Aussage nichts zu wünschen übrig lässt – eben ein Roman eines ganz und gar nicht tiefbegabten Autors. "

    Ein Buch, das meiner Meinung nach Kinder wie Erwachsene ansprechen kann und Freude am Lesen vermittelt. Empfehlenswert!

    © Parden

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