Orangen für Dostojewskij

Buchseite und Rezensionen zu 'Orangen für Dostojewskij' von Michael Dangl
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Orangen für Dostojewskij"

Als Fjodor M. Dostojewskij zum ersten Mal Venedig besucht, ist das die Erfüllung eines Kindheitstraums. Doch ist er bereits 40, im Westen unbekannt und in einer beruflichen wie privaten Krise. Die Schönheit und Lebendigkeit Venedigs erreichen ihn nicht. Da widerfährt ihm eine phantastische Begegnung: mit dem Komponisten Gioachino Rossini, 70, weltberühmt, eine Legende. Der barocke Genussmensch, Inbegriff mediterraner Leichtigkeit und Allegria, verzaubert ihn mit Lebensfreude und stellt den grüblerischen, schwermütigen Asketen in drei Tagen sozusagen vom Kopf auf die Beine. Die Gegensätze sind die größten und doch erleben wir die Annäherung zweier hochsensibler Künstlerseelen, in teils grotesken, komischen und an die Grundfragen des Menschlichen rührenden Situationen und Gesprächen. Ich habe Venedig noch mehr geliebt als Russland, findet sich in privaten Notizen Dostojewskijs. Der Roman spürt möglichen Ursachen dieser Liebe nach.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:480
Verlag:
EAN:9783992002979

Rezensionen zu "Orangen für Dostojewskij"

  1. Ein funkensprühendes Zeitbild

    „Doch am meisten beseelte ihn die Anwesenheit des grandiosen Musikers, der auch ein grandioser Mann war und dabei so schlicht, so natürlich mit ihm sprach, als kennten sie einander schon lang.“ (Zitat Seite 112)

    Inhalt
    Anfang August 1862 trifft Fjodor Michailowitsch Dostojewskij mit dem Zug in Venedig ein. Es ist seine erste Auslandsreise nach Europa, die am 7. Juni begonnen hatte. Er kommt aus Florenz und Italien hat ihn bisher enttäuscht. Schon vierzig Jahre alt, hat er nach ersten Erfolgen, Straflager und Strafdienst beim Militär, eine Schaffenskrise, auch wenn er durch seine Reise eine Fülle von neuen Ideen gesammelt hat. Schon überlegt er, aus Venedig früher abzureisen, als er den berühmten Komponisten Gioachino Rossini kennenlernt, der auch mit siebzig Jahren das Leben fröhlich feiert und genießt, hilfsbereit, liebenswert und großzügig. Durch ihn erlebt der zurückhaltende, schwermütige russische Schriftsteller die unvergleichliche Stadt Venedig, wie sie wirklich ist.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um eine Begegnung des Schriftstellers Dostojewskij mit dem Komponisten Rossini. Obwohl die beiden Künstler einander tatsächlich nie getroffen haben, ist diese Geschichte eine so lebendige, geniale Verbindung zwischen intensiver Recherche und einfühlsamer Phantasie, dass man beim Lesen vergisst, dass es sich um keine reale historische Begebenheit handelt.

    Charaktere
    Der lebensfrohe, überschäumend italienische Komponist Rossini ist das genaue Gegenteil des schwermütigen, damals von Selbstzweifeln erfüllten Schriftstellers Dostojewskij. Die gemeinsamen Gespräche sind trotz oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Sichtweisen für beide eine Bereicherung und beeinflussen das weitere künstlerische Schaffen. Auch die Personen im Umfeld sind so typisch italienisch, man hat sie und die teilweise chaotischen Situationen sofort vor Augen, sie werden lebendig, sind liebenswert, ohne je in Klischees abzugleiten.

    Handlung und Schreibstil
    Es sind nur fünf Tage, die Dostojewskij vor seiner Heimreise nach St. Petersburg in Venedig verbringt, doch die Fülle an Erlebnissen und Eindrücken, die uns jeder Tag in diesem auch sprachlich überzeugenden Roman schildert, lässt diese kurze Zeitspanne wie Wochen scheinen. Großartig ist die Szene, in der Rossini und Dostojewskij einander zum ersten Mal begegnen. Auch der Umgang der venezianischen Bevölkerung mit den österreichischen Besatzern ist ein Thema. Spätestens, als Dostojewskij zu einem Treffen im Caffè eilt und zuerst das Quadri betritt, wo er auf das gegenüberliegende Florian verwiesen wird, erkennt er die Zusammenhänge und Viva Verdi bekommt eine völlig neue Bedeutung. Doch während die Erinnerungen an den Strafmilitärdienst die Gedanken des russischen Dichters oft in tiefes Dunkel tauchen, hat sich Venedig die lebensfrohe, südliche Leichtigkeit auch unter der österreichischen Herrschaft erhalten. Spannung erhält diese Geschichte durch eine Idee Rossinis, er macht Dostojewskij einen Vorschlag und man ist neugierig, wie der Autor dies auflösen wird, da auch diese Idee fiktiv ist.

    Fazit
    Ein funkensprühendes Zeitbild, eine Begegnung von zwei großen Künstlern, der schwermütige, ernste Russe trifft auf den fröhlichen italienischen Genussmenschen und lernt die einzigartige Stadt Venedig kennen und lieben. Ein Leseerlebnis, das mich begeistert hat, mich zum Träumen brachte und Erinnerungen an Venedigbesuche lebendig werden ließ. „Italien ist Italien, Venedig ist Venedig. Venedig bleibt Venedig. Immer.“ (Zitat Seite 434)

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  1. Venedig Musik und Poesie

    „Am siebten Juni von Petersburg nach Berlin gekommen. War er erst wie besessen durch Deutschland gerast, jeden Tag in eine andere Stadt, bis sich seine Aufenthalte in Paris, London und Genf verlängerten und er erst vor eineinhalb Wochen Italien betreten hatte. Die Sehnsucht nach Venedig war sein eigentlicher Antrieb, der heimliche Grund dieser Auslandsreise seines Lebens.“ (S.11)

    Mit einem Umweg über Florenz erreicht er schließlich Venedig.
    Hier in Venedig trifft er auf Gioachino Rossini. Zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein können. Dostojewskij, ein grimmiger, mürrischer und schlecht gelaunter Mann, dagegen der Komponist Gioachino Rossini, der das ausschweifende Leben eines Künstlers führt. Dostojewskij ist 40 Jahre alt und Rossini 70, und es kommt zu langen intensiven Gesprächen über Kunst und Kultur. Dostojewskijs Liebe zu Venedig entbrennt, und auch seine dunklen Gemütszustände während Treffen mit Rossini werden in eine positive Richtung gelenkt.

    Schreibstil
    Die Handlung ist ruhig. In den Gesprächen geht es um persönliche Empfindungen und die Vergangenheit. Die Diskussionen der beiden werden philosophisch. Fakten wahrer Begebenheiten lässt der Autor einfließen. Die Dialoge sind humorvoll, tiefsinnig und lassen auch einen politischen Diskurs zu. Poetische Gedanken werden beiden Künstlern in Musik und Dichten gerecht.

    „Die Klänge des die beiden Klaviere umschmeichelnden Harmoniums schienen sogar den Straßenmusiker vor seinem Hotel miteinzubeziehen, und mit ihm kamen Erinnerungen an die Gassen und Brücken und verschlungen Wege seiner rasenden, schmerzlich lebendigen Venedigzeit, und sogar einen Hauch von Oleander glaubte er für einen Moment in der Nase zu spüren.“ (S. 475)

    Fazit
    Fjodor Michailowitsch Dostojewskij unternahm von 1862-63 und 1867-71 ausgedehnte Reisen, die ihn nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Frankreich, England und Italien führten.
    Obwohl Dostojewskij, nie viel über seine Reisen gesprochen oder berichtete hat, schreibt er in seinen privaten Notizen: "Ich habe Venedig noch mehr geliebt als Russland." Ob er doch Gioachino Rossini getroffen hat?

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