Melnitz

Buchseite und Rezensionen zu 'Melnitz' von Charles Lewinsky
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5 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Melnitz"

Nachdem man ihnen endlich das volle Bürgerrecht gegeben hat, hoffen die Meijers darauf, gewöhnliche Schweizer werden zu können. Ihr Weg führt sie hinaus aus dem Dorf, erst in die kleine Stadt Baden, dann nach Zürich. Janki versucht sein Glück im Tuchgeschäft, Arthur wird Arzt, bald gibt es sogar einen Landwirt. Aber trotz aller Bemühungen stoßen sie immer wieder gegen eine unsichtbare Wand – so wie es ihnen der unsterbliche Onkel Melnitz vorausgesagt hat.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:896
Verlag:
EAN:

Rezensionen zu "Melnitz"

  1. Vom Leben und Überleben

    In der Schweiz im Jahr 1871: Die jüdische Familie Meijer lebt in Endingen. Unumstrittenes Familienoberhaupt ist der Viehhändler Salomon. Seine Frau Golde immer bescheiden im Hintergrund, die Tochter Miriam, von allen Mimi genannt, manieriert und launisch und die Ziehtochter Chanele, ohne deren dienstbare Hand im Haushalt Meijer alles liegen bliebe. Der gleichförmige Alltag der Meijers wird durch das Erscheinen eines jungen Mannes - Janki Meijer, entfernte Mischpoche – gehörig durcheinandergebracht.

    So beginnt Charles Lewinsky seinen Familienroman „Melnitz“. Von 1871 bis 1945 geht die epochale Geschichte der Meijers. Wir lesen vom Leben und Sterben. Vom wirtschaftlichen Fortkommen und Traditionen. Vom Politischen und Privaten. Von kleinen Querelen und großen Kriegen. Wir verabschieden uns von lieb gewonnen Charakteren und begrüßen die neu geborenen.

    Auch wenn das Buch in der Neuauflage im Diogenes Verlag über 900 Seiten stark ist, gibt es bei Lewinskys Erzählfreude keine Längen. Alles hat seine Zeit und seinen Platz. Lewinskys Sprache ist pointiert, voller Wortwitz und Ernsthaftigkeit gleichermaßen. Die traditionelle jüdische Lebensweise findet genauso ihren Platz wie die politischen Ereignisse, die das Leben jüdischer Menschen aus der Bahn wirft. So wurde schon vor über hundert Jahren über das Schächten diskutiert und Tierschutz war damals wie heute nie wirklich der Grund für die Debatte. Selbstverständlich hat die Leserin einen Wissensvorsprung, was Juden im 20. Jahrhundert bevorstand. Doch wie Lewinsky nun diese Hürde des Erzählens meistert ist überraschend wie gelungen. Wir haben in diesem Roman keinen auktorialen Erzähler, der alles weiß, und sich so in den Vordergrund spielt. Wir haben Onkel Melnitz.

    „Immer wenn er gestorben war, kam er wieder zurück……Er musste den Weg nicht sehen, um seinen Platz zu finden. Sein Stuhl stand bereit…Er setzte sich hin und war wieder da. War die ganze Zeit da gewesen.“

    Melnitz ist der ungeladene Gast beim Seder, der von vergangen Pogromen erzählt, der weiß was war, was ist, was kommen wird. Der Ezzes gibt, provoziert, mahnt und sich erinnert.

    Und so wird aus einem großartigen Familienroman ein großartiges Buch gegen das Vergessen, ein Buch vom Leben und Überleben.

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  1. Großartige Familiengeschichte

    „Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück.“ (S. 11)

    Die Bedeutung dieses Einleitungssatzes, der in der Geschichte öfter wiederholt wird, erschließt sich den Leserinnen und Lesern von „Melnitz“ des Schweizer Autors Charles Lewinsky erst im Lauf der Lektüre. Für mich steht „Onkel Melnitz“ stellvertretend für all die Gräueltaten gegenüber den Juden im Laufe ihrer mehr als 4000-jährigen Geschichte. Er ist das Allwissen, dass seine Familie mit Witz und Verstand im Laufe von knapp acht Jahrzehnten immer wieder „aufsucht“, um sie auf (jüdische) Traditionen, auf Fehler in ihrer Denkweise usw. hinweist.

    Die Familie Meijer will eigentlich nur ein ruhiges (jüdisches) Leben in der Schweiz führen. Doch immer wieder treffen sie auf Spuren des tief verwurzelten Antisemitismus der Eidgenossen, die an den Haaren herbeigezogenen Lügen die über die Juden im Umlauf sind und die damit einhergehende „Stimmungsmache“. Auch die ach so neutrale und „weltoffene“ Schweiz wimmelt so von Antisemiten. Erbärmlich…

    In mehreren zeitlich voneinander getrennten Abschnitten bekommt die Leserschaft einen umfassenden Überblick über 5 Generationen der Familie Meijer; jede Generation mit ihren eigenen Traditionen, Marotten, Eigenarten und Fehlern ausgestattet. Ja, Lewinsky hat keine „perfekte“ Familienidylle erschaffen, sondern beschreibt schlicht und ergreifend das L E B E N. Eingebettet darin immer Ereignisse der jüngeren Geschichte und ihre Auswirkungen auf das jüdische Volk. Manches hat man schon mal irgendwie gehört oder gelesen, manches war mir aber auch neu und hat mich dank der Leserunde auch zu neuer Lektüre gebracht.

    Auf über 900 Seiten entwirft Charles Lewinsky eine grandiose (Familien-)Geschichte, die kaum Längen aufweist und von der ersten bis zur letzten Seite zu begeistern weiß. Immer wieder blitzt der knochentrockene Humor des Autors durch und am Ende will man als Leser eigentlich gar nicht in die „Welt“ entlassen werden, sondern noch bei Salomon, Golde, Pinchas usw. bleiben und ihre Traditionen pflegen oder auch darüber diskutieren.

    Mit einem umfassenden (9 Seiten) Glossar mit jüdischen Begriffen endet ein Buch, das für mich zu den absoluten Highlights in diesem Jahr zählt und welches einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek bekommt, um es spätestens im (Un-)Ruhestand wieder zu lesen *g*.

    Meisterhafte 5* und absolute Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

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  1. 5
    09. Sep 2021 

    Jüdische Mischpoche

    Wäre Charles Lewinsky ein Leistungssportler, würde ich behaupten, dass er mit seinem Roman "Melnitz", den er bereits 2006 erstmalig veröffentlicht hat, Olympiaform bewiesen hat.

    In dem über 900 Seiten starken Roman erzählt er die Geschichte der jüdisch-schweizerischen Familie Meijer über vier Generationen. Die Handlung beginnt im Jahre 1871 und endet 1945.

    Die Familie kommt aus dem gutbürgerlichen Milieu. Familienoberhaupt Salomon, mit dem die Geschichte beginnt, ist Viehhändler. Mit den nächsten Generationen werden die Meijers ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel verdienen. Sie haben Erfolg bei dem, was sie machen. Der Erfolg sorgt für Wohlstand, mal mehr, mal weniger bescheiden. Die nachfolgenden Generationen werden davon profitieren. Es wird Nachkommen geben, die das Vermächtnis ihrer Eltern fortführen, genauso wie es Nachkommen geben wird, die einen eigenen beruflichen Weg einschlagen werden.

    Die Ehen in dieser Familie werden anfangs weniger aus Liebe, denn aus Vernunft geschlossen. Erst über die Jahre wird es zu Verbindungen kommen, die aus Liebe entstanden sind.

    Bei den Meijers wird gemenschelt und gejüdelt. Denn die jüdische Familie lebt nach den Regeln des Talmud. Ob aus Frömmigkeit oder Tradition, der jüdische Glaube bestimmt das Leben der Meijers.

    Charles Lewinsky lässt in diesem Roman Schweizer Geschichte stattfinden, denn er bettet die Handlung in einen historischen Rahmen. Erzählt wird die Geschichte des Judentums in der Schweiz, vom 19. Jahrhundert bis hin zum 2. Weltkrieg am Beispiel der Meijers.

    Der Roman "Melnitz" ist ein großes Lesevergnügen, was nicht zuletzt an dem Sprachstil des Schweizer Autors liegt. Mit großer Fabulierlust und viel Ironie schildert Charles Lewinsky die großen und kleinen Probleme und Ereignisse aus dem Familienlebens der Meijers. Die Charaktere werden von ihm überspitzt dargestellt. Persönliche Macken und Eigenheiten werden dabei genüsslich ausgeschlachtet. er Autor lässt nur wenig Spielraum, um sich ein eigenes Bild von den Figuren zu schaffen. Dafür sind seine Beschreibungen viel zu akribisch, aber dafür gestochen scharf, so dass sie ein stimmiges Bild des jeweiligen Charakters ergeben.

    Und dieser Roman ist unverkennbar jüdisch. Denn die Sprache ist von jiddischen Begriffen, Aussprüchen und Lebensweisheiten durchsetzt, die aber in einem mehrseitigen Glossar am Ende des Buches für den nicht-jiddisch sprachigen Leser übersetzt werden.

    Namengebende Figur dieses Romans ist übrigens ein Verwandter - Onkel Melnitz -, um wieviele Ecken er mit den Meijers verwandt ist, lässt sich schwer sagen. Doch irgendwie scheint er zur Mischpoche dazuzugehören. Und wie das häufig mit Verwandten ist, taucht der Onkel meistens dann auf, wenn man nicht mit ihm rechnet und sorgt für verstörende Unruhe. Aber Verwandtschaft kann man sich bekanntlich nicht aussuchen.

    Fazit:

    Über 900 Seiten jüdische Familiengeschichte und keine Seite zuviel. Der Geschichtenerzähler Lewinsky hat wieder Höchstform bewiesen und mich mit seinem Roman verzaubert. Meine Begeisterung für diesen Autor hält an.

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  1. 5
    25. Aug 2021 

    Ein Meisterwerk!

    Der Roman „ Melnitz“ ist bereits 2006 erschienen, im Schweizer Verlag Nagel& Kimche. Nun hat der Diogenes-Verlag, die neue Heimat von Charles Lewinsky, das Buch erneut aufgelegt. Es ist zu hoffen, das die schön gemachte Ausgabe viele Leser anspricht, denn es erwartet sie ein unvergleichliches Lesevergnügen.
    Der Schweizer Autor Charles Lewinsky erzählt hier am Beispiel einer weit verzweigten Familie die Geschichte der Juden in der Schweiz über mehr als sieben Jahrzehnte und über fünf Generationen hinweg.
    Die Dörfer Endingen und Lengnau im Aargau waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die einzigen Ortschaften, in denen sich Schweizer Juden niederlassen durften. Das änderte sich zwar mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1866, doch auch danach gab es dort eine große, lebendige jüdische Gemeinde.
    In Endingen lebt Salomon Meijer, ein ehrbarer Viehhändler mit seiner Frau Golde, der gemeinsamen Tochter Mimi und der Pflegetochter Chanele. Eines Nachts klopft ein abgerissener Soldat an der Tür und bittet um Unterschlupf: Janki, ein weit entfernter Verwandter aus dem Elsass. Um Mischpoke kümmert man sich und drei Monate später kann Janki, mit Hilfe der Familie, einen Laden für französische Stoffe in der benachbarten Kleinstadt Baden eröffnen.
    Den beiden Töchtern gefällt der zielstrebige, junge Mann und Janki entscheidet sich in letzter Minute gegen die kapriziöse Mimi und für die zupackende Chanele. Mimi gibt daraufhin dem Werben eines anderen nach und bald wird im Dorf eine Doppelhochzeit gefeiert.
    Nun folgt das, was Familie ausmacht und zusammenhält. Es wird gefeiert und getrauert, gestritten und geliebt, falsche und richtige Entscheidungen getroffen und der Leser ist immer ganz nah dabei. Wir sitzen Schiwe mit der ganzen Familie , um dem verstorbenen Salomon zu gedenken, wir feiern gemeinsam Pessach, stehen mit Chanele im Geschäft, sitzen mit Mimi im Café , usw. Dabei bekommt man einen sehr lebendigen Einblick in jüdisches Leben, in Religion, Riten und Brauchtum.
    Lewinsky schafft unvergessliche Figuren; auch Nebenfiguren wie z.B. der Heiratsvermittler Abraham Singer werden liebevoll und anschaulich gezeichnet. Und der Autor entwirft Szenen, die im Gedächtnis bleiben, wie jene z.B. in der ein Vater seinen Sohn aus den Kriegswirren in Galizien rettet.
    Der Roman ist in fünf Teile gegliedert; in die entscheidenden Jahre 1871, 1893, 1913, 1937 und in einen knappen Epilog im Jahr 1945.
    Immer wieder wirft die große Politik ihre Schatten auf das Familienleben.
    Als die Meijers es mit ihren Geschäften zu einigem Wohlstand bringen, versuchen sie , sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Doch auch in der Schweiz gibt es Antisemitismus, einer, der ausgrenzt, benachteiligt und demütigt. Man kann sich noch so sehr anpassen, man bleibt doch Bürger zweiter Klasse. Francois, ein Sohn von Janki und Chanele, lässt sich sogar taufen - zum Entsetzen der ganzen Familie- doch: „ Auch ein getaufter Jude ist immer noch ein Jude.“
    Das Schächtverbot von 1893, ein aus antisemitischen Ressentiments entstandenes Gesetz, zwingt Mimis Mann zur Aufgabe seines Berufes.
    Der im selben Jahr stattfindende Sozialistenkongress verschafft Hinda , Tochter von Janki und Chanele, einen politisch engagierten Ehemann.
    Und der Erste Weltkrieg fordert ebenfalls von der Familie seinen Tribut.
    In einem Enkel findet der Zionismus einen glühenden Anhänger.
    Schließlich bringt der Nationalsozialismus in Deutschland eine Flut von Flüchtlingen in die Schweiz, die von den Gräueln berichten.
    Das alles lässt Lewinsky ganz dezent und unaufdringlich ins Geschehen einfließen. Trotzdem ist klar, dass der anfangs eher leichte Ton eine immer dunklere Note annimmt.
    Für diesen dunklen Ton sorgt auch der titelgebende Onkel Melnitz. „ Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück.“ Er ist der ewige Wiedergänger, das jüdische Gedächtnis. Er hält die Erinnerung an die Toten wach, an die jahrhundertelange Verfolgung, an Ausgrenzung, an Mord. Er tritt als Mahner und Deuter auf. „ Vielleicht, sagt Onkel Melnitz, vielleicht gibt es uns Juden ja überhaupt nur noch, weil wir so viele Feinde haben. Sie sorgen dafür, dass wir nicht vergessen, wer wir sind.“
    Lewinsky hat mit diesem Familienroman ein opulentes Meisterwerk geschaffen. Er hat vielschichtige und glaubhafte Charaktere entworfen, mit Ecken und Kanten. Es gibt liebenswerte Figuren, wie Arthur, einer, der immer für andere da ist. Dann Mimi, launisch und ichbezogen oder Francois, immer auf seinen Vorteil bedacht. Doch alle machen im Verlauf der Handlung eine Entwicklung durch, das Leben hinterlässt bei allen seine Spuren. Die Sprache ist bilderreich und sinnlich; der Autor erzählt mit viel Liebe zum Detail, voller Humor und Ironie. Außerdem vermag er großartige Dialoge schreiben und versteht es, Spannung aufzubauen. Ein grandioser Geschichtenerzähler!
    Am Ende dieses knapp über 900 Seiten starken Romans ist man so verbunden mit dieser Familie, dass man sich garnicht trennen mag von ihr.
    Unbedingte Leseempfehlung!

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  1. Grandios erzählte jüdische Familiensaga

    Das Original dieses Romans erschien bereits 2006 bei Nagel und Kimche. Mittlerweile werden sämtliche Romane von Charles Lewinsky bei Diogenes veröffentlicht, so dass der Verlag nun auch die älteren Werke neu auflegt. Das Opus Magnum Melnitz ist nun in handlicher, in dunkelblaues Leinen gebundener Hardcoverauflage erschienen, die das bibliophile Herz höher schlagen lässt.

    Der vorliegende Roman erzählt eine Familiengeschichte über fünf Generationen und einen Zeitraum von rund 75 Jahren. Eingesetzt wird 1871 in Endingen in der nördlichen Schweiz, wo der jüdische Viehhändler Salomon Meijer mit seiner Frau Golde, der Tochter Mimi sowie der Ziehtochter Chanele lebt. Das beschaulich-ländliche Leben wird durch die Ankunft des entfernten Verwandten Janki Meijer aufgemischt, der offenbar verwundet aus dem Deutsch-Französischen Krieg zurückkehrt. Weil Jüdische Mischpoche zusammenhält, unterstützt Salomon den jungen Veteran bei der Eröffnung eines Stoffgeschäftes. Auch die beiden jungen Frauen der Familie, Mimi und Chanele, werfen bald ein Auge auf Janki - jedoch kann ihn nur eine heiraten… Nach einigen amourösen Wirrungen findet im Hause Meijer schließlich eine Doppelhochzeit statt, die die Grundlage für die nächsten Generationen legt. Eines der Ehepaare wird drei Kinder bekommen, das andere bleibt lange kinderlos. Die Zeiten verändern sich, das jüdische Leben ist auch in der Schweiz nicht einfach. Man ist permanent Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Fürsprecher gibt es wenige, Ressentiments existieren sowohl auf christlicher wie auch auf jüdischer Seite. Die Juden müssen einiges erdulden, halten aber zusammen und setzen sich mitunter klug zur Wehr.

    Der Roman begleitet die Familie in zeitlichen Etappen, die einzelnen Teile sind mit den entsprechenden Jahreszahlen überschrieben. Die zahlreichen Figuren werden differenziert beschrieben. Sie haben Ecken, Marotten und Kanten. Es gibt Juden und Nicht-Juden, gute und weniger gute. Manche Figur wird auch etwas überzogen dargestellt, so dass der Humor nicht zu kurz kommt. Über die Jahre vergrößert sich die Familie, teilt Freud und Leid miteinander. Natürlich gibt es auch Spannungen und Meinungsverschiedenheiten. Die jüngere Generationen kämpft um den eigenen Lebensweg. Wie nebenbei werden die Leser in jüdische Gebräuche und Riten eingeführt. (Ein Register der jiddischen Begriffe am Ende des Buches bietet Übersetzungen an, notwendig ist dies aber nicht, fast alles ergibt sich aus dem Kontext.)

    Die extrem kurzweilige Familiensaga gibt Einblick in die jüdische Schweizer Gesellschaft, auch werden wichtige politische, wirtschaftliche und soziale Ereignisse, die für die Menschen von Bedeutung sind, in die Handlung einbezogen. Die schaurigen Jahre des Zweiten Weltkriegs werden am Ende nur gestreift, man springt vom Jahr 1937 direkt zum Kriegsende. Gerade das lässt den Leser innehalten, das Ungesagte wiegt manchmal schwerer als das Gesagte. Schließlich hat man die furchtbaren Bilder des Nationalsozialismus im Gedächtnis, so dass die Leerstellen problemlos gefüllt werden können.

    Mich hat dieses Buch begeistert. Bei diesem Roman stimmt einfach alles. Es ist die Mischung aus Wortwitz, zuweilen Komik, aber auch großer Ernsthaftigkeit, die die Geschichte prägt. Die Tragik um das Schicksal der Juden, das dem Leser bekannt ist, lässt bei aller Alltäglichkeit auch die tiefere Bedeutung mancher Szene im Raum stehen. Spannend ist die Figur des titelgebenden Onkel Melnitz, der immer wieder auftaucht, um seinen Verwandten ins Gewissen zu reden, sie zu mahnen oder zu erinnern. Onkel Melnitz ist allwissend, er kennt Vergangenheit und Zukunft – mit dieser Figur ist dem Autor ein außergewöhnlicher, faszinierender Kunstgriff gelungen. Überhaupt ist der komplette Roman erstklassig konstruiert und hat inhaltlich unglaublich viel zu bieten. Handlungsfäden werden konsequent weitergesponnen. Man spürt, dass Lewinsky Freude am Fabulieren hat, er ist ein Sprachmagier, der nicht nur vor Ideen sprüht, sondern sie auch wunderbar stimmig in seine Geschichte einbinden kann – egal ob nachdenklich, metaphorisch, humorvoll oder ironisch: Lewinsky kann es einfach. Dabei behandelt er völlig unterschiedliche Themen, die Inspirationen gehen ihm hoffentlich noch lange nicht aus.

    Langeweile oder Längen gibt es in diesem Roman nicht. Melnitz ist einfach eine großartig erzählte Familienchronik. Man lebt, liebt und leidet mit den Schicksalen der einzelnen Figuren und ist traurig, sobald die Geschichte zu Ende ist und man die Meijers verlassen muss.

    Eigentlich reichen 5 Sterne nicht aus für diesen brillanten Roman. Dringende Lese-Empfehlung von mir!

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  1. 5
    17. Aug 2021 

    Prallvolles Erzählen

    Die Familie Meijer (Meijer mit Jud) ist eine jüdische Familie, die über Generationen hinweg in der Schweiz lebt und sich dort ständig zwischen jüdischer Tradition und Anpassung an die schweizerische Gesellschaft verbunden mit beruflichen bzw. geschäftlichem Erfolg bewegt. Das ist eine tagtägliche Gradwanderung, in der die Familienmitglieder immer wieder in unterschiedlicher Form und Intensität an die Grenzen der schweizerischen Toleranz stoßen und von antisemitischer Normalität und den Entwicklungen im so nah gelegenen Deutschland begleitet werden.
    Charles Lewinsky erzählt die Familiengeschichte in verschiedenen Zeitabschnitten. Es beginnt im Jahr 1871, als es einen fernen Verwandten der Meijers durch die Kriegswirren aus Frankreich kommend zu ihnen in die Schweiz verschlägt. Und es endet im Jahr 1945, als wieder einmal ein Krieg die Gesellschaft und ihre Ordnung genauso wie die Familie Meijer ordentlich durcheinandergewirbelt hat. Über diesen Zeitraum von mehr als 70 Jahren europäischer Geschichte lernen wir die Familie in 5 Generationen kennen. Die Veränderungen sind erheblich und doch bleiben viele Dinge unverändert und immer bestehen. Das ist einerseits die Verflechtung mit den jüdischen Traditionen, die Frauen- und Männerrollen genauso bestimmen wie berufliches und gesellschaftliches Handeln; da ist auf der anderen Seite aber auch das ständig über ihnen schwebende Damoklesschwert der Diskriminierung und Verfolgung. Auf die ein oder andere Weise trifft das jeden in der Familie und wenn man es sich mal für eine kurze Zeit zu gemütlich gemacht haben sollte oder sich zu sicher ist in seiner gesellschaftlichen Stellung und Perspektive, dann lässt der Autor in der ansonsten ganz in einem realistischen Erzählstil gehaltenen Handlung Onkel Melnitz auftauchen. Dieser Ahn der Familie (bzw. sein Geist), der zu Beginn des Buches gerade zu Grabe getragen wurde, steht immer wieder als Mahner an der Seite der Familienmitglieder, um sie daran zu erinnern, dass Judenverfolgung ein Dauerthema ist und keiner von ihnen ihr entkommen kann.
    Die prallvolle Erzählweise von Charles Lewinsky in diesem Roman bringt dem Leser sowohl Gesellschaft als auch Geschichte und Hintergrund der handelnden Personen sehr nahe. Man lernt beim Lesen eine ganze Reihe von durchaus sehr unterschiedlichen Personen gut kennen und entwickelt ein Verständnis für ihre Handlungsweisen und Entscheidungen. Das jüdische Leben und seine besonderen Gewohnheiten und Riten wird dabei en passant mit erzählt und vermittelt. Das mitgelieferte Glossar zu jüdischen Begriffen bleibt so nicht reines Beiwerk, sondern viele Begriffe können im Roman zum Leben erweckt werden und dem Leser sicher in Erinnerung bleiben. Aus dieser gekonnten Erzählweise und den randvollen, lebendig werdenden Details zieht dieser Roman seine besondere Qualität und Güte. Ein tolles Leseerlebnis! Ein Buch zum Ein- und Abtauchen! 5 Sterne!

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  1. 5
    14. Aug 2021 

    Grandiose Familiengeschichte

    1871 – eigentlich sind die Meijers eine ganz normale Schweizer Familie – aber nur eigentlich. Denn sie sind Juden und obwohl sie das volle Bürgerrecht bekommen haben, sind sie weiterhin Außenseiter in der Schweizer Gesellschaft. Über fünf Generationen hinweg bis 1945 schildert Charles Lewinsky das Schicksal dieser Familie und vergisst dabei nicht die Geschehnisse der Weltgeschichte mit einzubinden, die sich auch im Leben der Familie Meijers widerspiegeln.

    Salomon, der Viehzüchter und seine Frau Golde leben mit ihrer Tochter und einer Art Pflegetochter in dem kleinen Dorf Endingen, einem der beiden Dörfer in der Schweiz, in dem sich Juden niederlassen dürfen. Als der entfernte Verwandte Janki unerwartet bei ihnen auftaucht, wird es unruhig in der Familie. Ein Jahr später ist er verheiratet und eröffnet einen Laden in der nahegelegenen Kleinstadt Baden, wie alle Meijers getrieben von dem Wunsch, ein anerkannter und geachteter Bürger der Schweiz zu werden. Doch selbst der nächsten Generation, die es teilweise bis nach Zürich treibt, bleibt dieser Wunsch verwehrt.
    Stets im Hintergrund dabei ist Onkel Melnitz, der als mahnender Geist die Familienmitglieder begleitet und ihnen immer wieder deutlich macht, wie fragil ihr Status ist und wie weit entfernt sie davon sind, anerkannte SchweizerInnen zu sein.

    Charles Lewinsky ist ein außergewöhnlich guter Erzähler, der seine Romanfiguren so lebendig werden lässt, dass es einem schwer fällt, sie nach über 900 Seiten zu verlassen. Auch die vielen Geschichten der Familie Meijer sind so gekonnt zwischen Witz und Tragik angesiedelt mit jeder Menge überraschenden Wendungen, sodass man trotz der Dicke des Buches keine einzige Seite missen möchte, ebensowenig wie das im Anhang befindliche neunseitige Glossar mit jüdischen Begriffen. Obwohl im Text weitestgehend Alles erklärt ist, bleibt es eine wunderbare hilfreiche Ergänzung, die ich immer wieder gerne zu Rate zog.

    Eine durchweg großartige Lektüre!

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  1. Mischpoche und Risches

    Seit 2019 verlegt der Verlag Diogenes die Romane des 1946 geborenen Schweizers Charles Lewinsky. Nun ist dort auch sein ursprünglich 2006 bei Nagel & Kimche erschienenes, mehrfach preisgekröntes Hauptwerk "Melnitz" erschienen, in einer hochwertigen, trotz der über 900 Seiten gut in der Hand liegenden Ausgabe im typischen Diogenes-Format und auf nicht durchscheinendem, stabilem Dünndruckpapier.

    Ein Mehrgenerationenroman
    In fünf Teilen, überschrieben mit 1871, 1893, 1913, 1937 und 1945, erzählt Charles Lewinsky vom Leben der schweizerisch-jüdischen Familie Meijer. Der Roman setzt 1871 ein, fünf Jahre nach der Gleichberechtigung jüdischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die fortan nicht mehr an die aargauischen Gemeinden Endingen und Lengnau gebunden waren. Trotzdem leben der solide, ehrliche Viehhändler Salomon Meijer, seine Frau Golde, die kapriziöse Tochter Mimi und die zupackende Pflegetochter Chanele weiter in Endingen. Überraschend kommt der ehemalige Soldat Janki Meijer zu ihnen, entfernte elsässische Mischpoche, der die Schlacht von Sedan zwar nicht miterlebte, aber sein Leben lang darüber fantasieren und eine „Kriegsverletzung“ pflegen wird, die ihm einen Gehstock aufzwingt. Janki wird Tuchhändler im nahen Baden, sein ältester Sohn François eröffnet das erste Warenhaus in Zürich. Er und sein Bruder Arthur, ein Arzt und Wohltäter, sind die letzten „echten“ Meijers.

    Ein Wiedergänger
    Wie ein roter Faden und als I-Tüpfelchen auf die sonst traditionell erzählte Familiensaga bewegt sich der titelgebende Onkel Melnitz durch den Roman:

    "Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück." (S. 11 u.a.)

    Er ist der Geist und ewige Mahner, der in den Köpfen seiner Mischpoche weiterspukt. Im Nachwort sagt Charles Lewinsky über Melnitz:

    "Erst nach einiger Zeit habe ich verstanden, welche zentrale Funktion er in dieser Familiensaga erfüllt: Indem er alle Erinnerungen auf Progrome und Verfolgungen auf sich konzentriert, ermöglicht er es den anderen Figuren, ein gewöhnliches Leben zu führen." (S. 923)

    Im letzten, sehr kurzen Teil, 1945, reißt Melnitz die Erzählerrolle ganz an sich. Sein Pessimismus hat sich bewahrheitet.

    Jüdischsein in der Schweiz
    Da ich in der Regel kürzere Romane bevorzuge, stand ich der Lektüre dieses opulenten Wälzers zunächst skeptisch gegenüber - völlig grundlos allerdings. Die Verbindung zwischen europäischer Geschichte und Alltagsleben einer jüdischen Familie in der Schweiz, ihren Traditionen, Gebräuchen, Festen, und dem stets lauernden „Risches“, dem Antisemitismus, ist genial gelungen. Viele Figuren wuchsen mir sehr ans Herz. Zwar nimmt der hintergründige Humor mit zunehmender Nähe zur Katastrophe des 20. Jahrhunderts spürbar ab, doch bleibt Charles Lewinskys Erzählton auch in düsteren Zeiten ohne Pathos und dadurch umso eindrücklicher – sei es beim Massaker an den Juden in Galizien, bei den Anfängen der zionistischen Bewegung, dem Erstarken der Fröntler oder gar beim Holocaust, der nicht direkt, sondern nur in seinen Auswirkungen auf die Familie thematisiert wird.

    Obwohl Charles Lewinsky in einem Interview 2016 mit swissinfo.ch die Überzeugung vertrat, die Schweiz sei in Bezug auf Antisemitismus heute fast ein Paradies, war das nicht immer so: 1893 stimmte die Bevölkerung für ein Schächtverbot, was nicht nur die Familie Meijer als antijüdisches Statement verstand. Salomon und Janki kämpften ihr Leben lang um Teilhabe und gegen Ausgrenzung, François änderte vergeblich seinen Namen und ließ sich und seinen Sohn Alfred taufen:

    „Aber wissen Sie, lieber Herr Meijer: Auch ein getaufter Jude ist immer noch ein Jude.“ (S. 493)

    Ein jüdisches Glossar und ein Stammbaum, den man sich zum Erhalt der Spannung nicht zu früh anschauen sollte, runden diesen großartigen Roman ab, der einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal bekommt.

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  1. Einfach großartig!

    Ein 900-Seiten-Familien-Epos-Wälzer schreckt schon ein wenig ab, aber mit Melnitz war bald jedes Zeitgefühl im Hier und Jetzt verschwunden.

    Ich begab mich ins Jahr 1871 und besuchte die schweizer Familie Meijer. Salomon und Golde geht es recht gut, so dass sie neben ihrer eigenen Tochter Mimi auch noch die Ziehtochter Chanele in ihrem Haushalt aufnehmen können. Noch leben und arbeiten sie in Endingen, einem kleinen Dorf und neben Lengnau, die einzigen Orte, an denen Juden seit der Pest im 14. Jahrhundert in der Schweiz siedeln durften. 1866 bekamen sie die Bürgerrechte und damit auch die Niederlassungsfreiheit zugesprochen, doch es dauerte noch ein Weilchen, bis es auch in den Köpfen der Dorfgemeinschaften ankam.

    Als eines Nachts Janki Meijer, ein entfernter Verwandter, an Salomons Tür klopft und um Aufnahme bittet, beginnt eine turbulente Zeit für die Familie. Natürlich fühlt man sich für seine Mischpoche verantwortlich und so wird nach einigem Hin und Her Hochzeit gefeiert, Auskommen gesichert und Kinder in die Welt gesetzt. Atemlos sitzt man am Abendbrottisch und schaut zu, wie die Verwandtschaft für die Verfehlungen der Jugend Lösungen findet, wie mit Tradition und Witz das Beste aus dem Leben herausgeholt, und mit Argwohn auf die politischen Entwicklungen in Frankreich und Deutschland geschaut wird.

    Die ersten dunklen Wolken ziehen auf, als 1893 in der Schweiz eine Volksinitiative zum Verbot des Schächtens angenommen wird. Die antijüdische Stimmung im Land wird durch die französiche Dreyfuss-Affaire ein Jahr später weiter angeheizt. Die Versuche der Familie Meijer, weiterhin gute Beziehungen zur Geschäftswelt zu unterhalten, namentlich Francois Meijer (Sohn von Chanele), der sich sogar zusammen mit seinem Sohn Alfred taufen lässt, können weitere Repressalien nicht verhindern. Vorläufiger Höhpunkt der Fehlentscheidungen bleibt Alfred Meijers Einzug in den 1. Weltkrieg.

    Aber auch danach ist kein Hass verpufft, keine Genugtuung erreicht. Europa ist in Aufruhr, Flüchtlinge sind allenthalben unterwegs. Die Situation, vor allem in Deutschland bleibt für die Juden fatal. Das bekommen auch die Meijers zu spüren und versuchen zu helfen, wo es möglich scheint.

    Nun, wir wissen alle, welch schlimme Zeit dann anbrach, die boshafte Fratze des Holocaust schaut schon durch den Vorhang auf die Bühne. Lewinsky hat aber keinen weiteren Schreckensroman über die Vernichtung der Juden im Dritten Reich geschrieben, sondern vielmehr seine Familie Meijer an einem Nebenschauplatz, der neutralen Schweiz, ein typisches jüdisches Leben führen lassen, gezeichnet von Tradition und dem Bemühen, sich anzupassen, nicht aufzufallen, sich zu integrieren. Dabei zeigt er sehr schön, dass Juden eben auch nur Menschen sind und ihre Fehler haben, aber auch Witz und Geschick. Nur der tote Onkel Melnitz mischt sich in die Gespräche der Familie und mahnt vor dem Unverständnis der Welt gegen das jüdische Volk.

    Lewinsky beginnt seine Geschichte voller Witz und Poesie. Seine Leichtigkeit verführt, mutet wie eine süffige Soap-Opera, voller Liebesdramen, pikanten Lebensentwürfen und geschäftlicher Raffinesse an. Mit seinen leisen Untertönen aber zieht er den Leser nach und nach auf die dunkle Seite Europas im 19. und 20. Jahrhundert und nur sein Melnitz darf aussprechen, was alle wissen, aber zu verdrängen versuchen.

    Schon mit "Der Halbbart" hat mich Lewinsky von seiner Erzählkunst überzeugt, aber mit Melnitz hat er seiner Profession eindeutig die Krone aufgesetzt. Er weiß seine Protagonisten ins Licht zu setzen, verleiht jedem einzelnen Tiefe, verliert im Laufe der Erzählung keine einzige aus den Augen und bettet sie behutsam und überzeugend in den Lauf der Geschichte. Einfach großartig!

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  1. Erschütternd gut

    Eigentlich ist es fast anmaßend, eine Rezension für dieses Buch zu schreiben, das einfach in einer ganz anderen Liga anzusiedeln ist als andere Bücher. Gut möglich, dass mir hier die Superlative ausgehen.

    Dies ist die Geschichte einer jüdischen Familie aus der Schweiz, die über drei Generationen, von 1871 bis 1945 erzählt wird. Janki Meijer eröffnet einen Stoffladen und begründet damit eine Kaufhauskette. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg steht der Name Meijer für Qualitätskleidung. Und auch wenn sie in der neutralen Schweiz leben, erfahren sie immer wieder Ausgrenzung und Diskriminierungen wegen ihrer Religionszugehörigkeit. Wie es ist Jude zu sein, erlebt man hier eindrucksvoll mit.

    Der Erzählstil ist zum Niederknien, hier sitzt jedes Wort, köstlich so manch jüdisch-schweizerische Wortschöpfung. Diesen Text kann man genüsslich schlürfen und sich an erstaunlichen Formulierungen und einem wunderbaren Humor erfreuen.

    "Chanele hatte sich für dieses Gespräch Francois` Lächeln ausgeliehen, unerbittlich höflich und auf höfliche Weise unerbittlich."

    „Kommen Sie“ sagte sie, und ihre Freundlichkeit saß schon nicht mehr passgenau.“

    So etwas ist doch einfach erschütternd gut und lässt mich vor Ehrfurcht erschauern.

    Dieses Buch hat alles, was ein gutes Buch braucht, höchst originelle Figuren, die mit all ihren Schrullen liebenswert sind, Witz, Poesie, Herz und Weisheit. Es macht Spaß und berührt auch sehr. Noch nicht einmal Schweizer Juden kommen ungeschoren durch zwei Kriege.

    Es hat mir sogar noch besser gefallen als „Der Halbbart“.
    Ich bin schwer begeistert und empfehle dieses Buch dringend.

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  1. Der Walfisch taucht. Früher oder später.

    Kurzmeinung: Ohne Frage eine Meisterleistung.

    In der Schweiz lebt die jüdische Gemeinde geschützt, aber doch auch beengt, denn für die Juden gilt ein Sonderstatus, der ihre Wohnorte auf die beiden Dörfer Endingen und Lengnau im Aargau begrenzt. Deshalb ist dort das Ballungsgebiet jüdischen Lebens auch dann noch als 1866 das Gleichberechtigungsgesetz Freizügigkeit und Gleichberechtigung zusichert.

    Charles Lewinsky lässt die Geschichte der jüdischen Familie Meijer 1871 genau in diesen beiden Dörfern einsetzen, also schon fünf Jahre nach dem Gleichberechtigungsgesetz. Gleichberechtigung als schweizerischer Staatsbürger de jure, nicht de facto. Das wird im Gange der Familiengeschichte immer wieder deutlich. Papier ist geduldig und Paragraphen kann man drehen und wenden.

    In fünf Zeitabschnitten 1871, 1893, 1913, 1937, 1945 leben und wirken, lieben und sterben die tüchtigen Meijers. Sie sind im Viehhandel und in der Schlachterei, im Fleischverkauf tätig, sie handeln schließlich mit Stoffen, dann mit Lebensmitteln und bauen endlich ein richtiges Warenhaus auf. Sie leben in strengem Brauchtum mit für die christliche Umgebung unverständlichen Riten, die ihre eigene Schönheit haben und Vertrautheit und Geborgenheit vermitteln, aber auch einengen und individuelle Freiheit verhindern; generationenlang versuchen die Meijers vorwärtszukommen und aufzusteigen und es gelingt auch. Aber da sind immer die Vorurteile der anderen. Da sind immer wieder Nadelstiche, Hänseleien und handfeste Nachteile, die die jüdische Bevölkerung erlebt. Anfeindungen. Sie sind und bleiben die Fremden, die Anderen.

    Wie alle anderen Schweizer leben die jüdischen Frauen in einer ausgeprägt patriarchalischen Struktur zu jener Zeit. Und das Judentum verstärkt ihre untergeordnete Rolle noch einmal um ein Vielfaches. Ihre kleinen Freiheiten müssen sie sich erkämpfen. Die Meijerschen Frauen setzen sich aber jeweils gemäß den herrschenden Verhältnissen durch. Sie machen das maximal Mögliche aus minimalen Chancen. Dabei ist die Wahl ihrer Mittel unterschiedlich. Mimi kriegt die Männer mit Manipulation, mit Schmollen und ihrer Schönheit rum, das Chanele ist eine pragmatische Persönlichkeit. Von Generation zu Generation wird die Emanzipation leichter.

    Wenn das alles wäre … .

    Die Juden kämpfen mit der Geschichte. Es gibt eine Legende, die mündlich weitergegeben wird: Auf einem Riesenfisch mitten im Ozean, so wird erzählt, befindet sich ein Grüppchen Menschen, die die graue Fläche des Walfischrückens für Festland halten und anfangen, es sich gemütlich zu machen, man macht ein Feuerchen, spielt Familie, richtet sich ein. Doch der Fisch bewegt sich irgendwann, taucht ab in die Unergründlichkeit des tiefen Ozeans. Und reißt alle mit! Genauso ist jüdisches Leben, sagt Melnitz, der ewige Mahner. Melnitz gibt es gar nicht, er ist ein Geist, der ewige jüdische Weltgeist, der Mahner. Mach es dir nur nie zu gemütlich, denn eines Tages schwimmt der Wal wieder los, schlägt mit seiner Schwanzflosse und taucht ab. Das ist sein Wesen.

    1914 schwimmt der Fisch. Und 1933. Und immer wieder mal dazwischen.

    Die Meijers bleiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel bei einer dramatischen Rettungsaktion in Galizien und einem tragischen Tod in Frankreich, mit den Lesern in der Schweiz. Melnitz sagt dazu lakonisch, er hätte ihnen, den in der Schweiz gebliebenen Juden nach 1945 neue Geschichten mitgebracht: „Neue Geschichten hatte er mitgebracht, sechs Millionen neue Geschichten, ein dickes Buch, aus dem man eine Generation lang vorlesen könnte, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Geschichten, die nicht zu glauben waren, schon gar nicht hier in der Schweiz, wo man all die Jahre wie auf einer Insel gelebt hatte, auf trockenem Boden mitten in der Überschwemmung.“

    Der Kommentar:
    Der historische Kontext ist meist dezent. Aber er ist da. Manchmal sogar sehr informativ. Die Entstehung Israels wird angerissen. Es geht um Volksentscheide in der Schweiz, die Schächtung betreffend; es geht um Auswanderung, es geht ums Rabbinertum, es geht um Konversion. In der Ferne immer drohend, unausgesprochen, die rauchenden Schlote der Konzentrations –und der Vernichtungslager.

    Der historische Kontext und die Thematisierung des Antisemitismus selbst in der friedlichen Schweiz, ganz zu schweigen vom Rest der Welt, hebt den Familienroman über die Meijers über all die anderen, ebenfalls spannenden Familiengeschichten anderer Autoren hinaus. Der schweizerische Blick erspart dem Leser vieles, aber nicht alles. Die schweizer Perspektive zeigt, dass Antisemitismus in den verborgensten Ritzen sitzt und die schweizerische Neutralität genau solche Löcher hat wie ihr berühmter Käse. Auch die besten Gesetze scheitern an der Boshaftigkeit der Leute.

    Sehr fein heraus gearbeitet hat Charles Lewinsky die jeweilige Konfliktsituation der für das Wohlergehen der Sippe verantwortlichen Männer. Wie weit können sie überhaupt noch persönlich für die Familie da sein, wenn der Beruf ihnen alles abverlangt. Was ist wirklich wichtig im Leben. Da sind die Ansprüche der Synagoge, die Ansprüche Gottes und was sagen die Leute? Wem kann man, wem soll man, wem muss man wie gerecht werden? Es werden gute und schlechte Entscheidungen getroffen, je nach Weltlage, je nach Charakter und Wesensart.

    FAZIT: Ein ausgezeichneter, wenngleich fast zu weit ausgezogener Roman, der fein beschreibt, lakonisch aufzeigt, was aufzuzeigen ist, in dem besondere Charaktere wohnen und der wieder nicht von denen gelesen werden wird, die ihn lesen sollten. Möge der Antisemitismus aussterben! Bald. Gleich. Jetzt!

    Verlag: Diogenes, Neuauflage 2021
    Kategorie: Historischer Roman

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