Mann im Dunkel

Buchseite und Rezensionen zu 'Mann im Dunkel' von Paul Auster
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5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mann im Dunkel"

Der 72-jährige August Brill, ehemals Literatur–kritiker und Lebemann, liegt morgens um drei in einem dunklen Zimmer. Schlaflos, von seinen Erinnerungen und Phantasien getrieben, spinnt er sich eine Geschichte zusammen: Ein junger Mann erwacht in einem tiefen Erdloch. Schließlich befreit ihn ein Uniformierter und gibt ihm nebst einer geladenen Pistole den Auftrag, jenen alten Mann zu erschießen, dessen Kopf diese wundersam verkehrte Welt entspringt: ein Amerika im Krieg gegen sich selbst, ein Land, in dem der 11. September ein Tag ist wie jeder andere ...

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:224
EAN:9783499248306

Rezensionen zu "Mann im Dunkel"

  1. Düstere Kriegsparabel

    Inhalt
    Der 72-jährige August Brill liegt nachts in seinem Bett und kann wieder einmal nicht schlafen. Er lebt nach einem Unfall im Haus seiner 47-jährigen Tochter Miriam, die vor fünf Jahren von ihrem Mann verlassen wurde. Auch deren Tochter Katya liegt wach. Sie studiert an der Filmakademie in New York, hat aber aufgrund eines traumatischen Ereignisses, das mit dem Tod ihres ehemaligen Freundes Titus Small zusammenhängt, ihr Studium unterbrochen. Ein Ereignis, das auch der alte Mann nicht vergessen kann.

    "Ich denke oft an Titus´Tod, die entsetzliche Geschichte dieses Todes, die Bilder dieses Todes, seine verheerenden Folgen für meine Enkelin, aber dorthin will ich jetzt, kann ich jetzt nicht gehen, ich muss ihn so weit von mir fernhalten wie möglich." (S.10)

    Statt dessen flüchtet sich August in eine selbst erdachte Geschichte, die einen Großteil des Romans ausmacht. Es ist eine Parabel über den Krieg.

    Der junge Owen Brick, von Beruf Zauberer erwacht im Jahr 2007 in einem zylindrischen Erdloch, aus dem er nicht entkommen kann - keine Szene für Klaustrophobiker*innen. Er weiß nicht, wo er sich befindet und wie er in diese Situation geraten ist. Im Hintergrund hört er Kriegsgeräusche und plötzlich taucht ein Sergeant auf, befreit ihn und teilt ihm mit, dass sich die USA im Bürgerkrieg befänden. Statt dessen stehen die Twin Towers noch und im Irak herrscht kein Krieg.

    "Bürgerkrieg, Brick. Weißt du denn gar nichts? Er geht schon ins vierte Jahr. Aber jetzt, wo du aufgetaucht bist, wird es bald vorbei sein. Du bist der Mann, der das Ende bringt." (S.17)

    Seine Aufgabe besteht darin, den Mann zu töten, der sich diese Geschichte ausdenkt, die dann zur Wirklichkeit wird. Der Autor als Erfinder von Realitäten, von parallelen Welten, die neben der unseren existieren.
    (Diese Theorie der parallelen Welten, formuliert von Giordano Bruno im 16. Jahrhundert, liegt auch der Fantasy-Reihe von Philip Pullman zugrunde.)

    Ausgerechnet seine Jugendliebe, die einst unerreichbare Virginia Blaine, hat ihn in jene Welt geholt. Zurück in seiner eigenen soll er "August Brill" töten, damit der Krieg in der parallelen Welt beendet ist. Der Literaturkritiker Brill taucht in seiner eigenen Geschichte auf, er ist es, der getötet werden muss, damit der erdachter Krieg in der parallelen Welt beendet werden kann.
    Eine Parabel darauf, dass Kriege von Menschen verursacht werden, in den Gedanken der Mächtigen entstehen? Auch in der parallelen Welt herrscht Krieg, sogar im Land selbst. Und der Autor der Geschichte sieht "schwarz" - es wird keine Hoffnung geben.

    Parallel zu der erdachten Geschichte denkt der Schlaflose über die gemeinsamen Filmnachmittage mit seiner Enkelin nach, in die er sich flüchtet, weil er seit dem Tod seiner Frau Sonia nicht mehr in der Lage ist, an seiner Familiengeschichte weiterzuschreiben.

    "Sich in einen Film zu flüchten ist etwas anderes, als sich in ein Buch zu flüchten. Bücher zwingen einen, ihnen etwas zurückzugeben, den Verstand und die Phantasie zu gebrauchen, wohingegen man einen Film im Zustand geistiger Passivität sehen und auch genießen kann." (S.25)

    In den Filmen sind es die Frauen, die "die Welt auf ihren Schultern tragen." (S.33)
    Im Gegensatz zu den Männern, die die Kriege verantworten und darin kämpfen?

    Eine weitere nächtliche Beschäftigung, um die Gedanken an Sonia zu vertreiben, ist, Miriams Manuskript zu lesen, die sich mit der Autorin Rose Hawthorne beschäftigt. Einer mittelmäßigen Dichterin, die jedoch eine Zeile geschrieben hat, die August gefällt:

    "Und die wunderliche Welt dreht sich weiter." (S.59)

    - trotz der Kriege, der Grausamkeiten, die sich die Menschen einander antun. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen.

    "Das Thema diese Nacht ist der Krieg" (S.146)

    So denkt August an seine letzte Europareise zurück, an die Geschichten über den Krieg, die ihm begegnet sind.

    Eine Literaturlehrerin, die sich in Belgien im 2.Weltkrieg einer Widerstandsgruppe angeschlossen hat und im KZ exekutiert wurde.

    Eine Szene, nach der ich den Roman aus der Hand legen musste und die aufsteigenden Bilder am liebsten verbannt hätte.

    Die Rettung einer jüdischen Familie als positivem Gegenentwurf zur vorherigen Erinnerung.
    Eine Geschichte über einen Doppelagenten aus dem Kalten Krieg.

    "Kriegsgeschichten. Kaum verlässt man für einen Augenblick seine Deckung fallen sie über einen her, eine nach der anderen..." (S.146)

    Bevor August sich wieder mit dem grausamen Tod Titus im Irak-Krieg beschäftigt, erzählt er seiner Enkelin Katya, die auch nicht schlafen kann, die Geschichte seiner Liebe zu Sonia, von ihrer ersten Verliebtheit, der Trennung - er hatte Sonia für eine andere verlassen - und ihrer zweite Beziehung, bis diese lange Nacht vorüber ist.

    Bewertung
    Paul Auster erzählt mehr als eine Geschichte in diesem Roman. Neben der Parabel auf den Krieg, die erdachte Geschichte seines Protagonisten, reflektiert der Ich-Erzähler über sein eigenes Leben. Im Fokus steht seine große Liebe Sonia, der Verlust ihrer Ehe und sein Werben um die Frau, mit der er alt werden will. Er verschweigt die Tücken des Ehelebens - das Auseinanderleben, der Wunsch, wieder Neues zu entdecken - und des Alterns dabei nicht.
    Ein wohltuende Episode in dem ansonsten düsteren Roman, der viele grausame Bilder aufsteigen lässt und ein dunkles Bild unserer Gesellschaft zeichnet.

    Die Kriegsszenerie, die Unausweichlichkeit des Krieges, der die Geschichte durchzieht und auch in der parallelen Welt herrscht (vielleicht einer von vielen), ist das, was nach dem Lesen bleibt und wach rüttelt. Jeden Tag bestimmen Kriegsbilder die Nachrichten, man nimmt sie oftmals gar nicht mehr wahr. Indem Auster jedoch einzelne Personen ins Rampenlicht stellt und ihr furchtbares Schicksal schonungslos erzählt, führt er uns die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges brutal vor Augen.

    Bisher habe ich von Auster nur die schöne Hundegeschichte "Timbuktu" gelesen, doch dieser Roman hat mich davon überzeugt, noch weitere von ihm lesen zu wollen.

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  1. 5
    18. Jun 2017 

    220 Seiten vollgepackt mit Geschichten

    Nur eine Nacht umfasst die Rahmenhandlung dieses Buches, doch die Geschichten die darin erzählt werden, würden locker für eine ganze Woche ausreichen.
    August Brill, 72jähriger verwitweter Literaturkritiker, lebt seit einem Unfall der ihn zum Krüppel machte, bei seiner geschiedenen Tochter Miriam, die ebenso unglücklich ist wie er. Zu den Beiden gesellt sich noch Augusts Enkelin Katya, Miriams Tochter, die sich die Schuld am Tod ihres Ex-Freundes gibt und deren Lebensenergie gerade noch dazu ausreicht, sich gemeinsam mit ihrem Großvater Filme anzuschauen. Wie in fast jeder Nacht kann Brill nicht schlafen und so beginnt er, sich eine Geschichte auszudenken um möglichen Erinnerungen (und ganz besonders einer bestimmten) aus dem Weg zu gehen. Owen Brick lebt mit seiner Frau ein normales kleines Leben bis er sich eines Morgens in einer Grube wiederfindet, gekleidet in eine Soldatenuniform. Nach und nach wird ihm klar, dass er sich in einer Parallelwelt befindet - aber noch immer in der gleichen Zeit und im gleichen Land. Dort herrscht ein Sezessionskrieg, der schon Tausende Menschen das Leben gekostet hat. Und Owen wurde dazu ausgewählt, diese Barbarei zu beenden. Doch dafür muss er einen Menschen töten...
    Wie schon erwähnt, ist dies nicht die einzige Geschichte des Buches. Brill schreckt immer wieder aus seiner Phantasie auf und verliert sich dann in Erinnerungen, in denen ebenfalls wieder Geschichten erzählt werden, die ohne weiteres die Grundlage für ein eigenes Buch sein könnten.
    Es sind traurige Erzählungen, die aber zumindest ein kleines bisschen Trost enthalten: die Frau deren Mann verschwand, sie aber immer liebte; der SS-Offizier der das junge Mädchen hoffnungslos liebte und ihr und ihrer Familie zur Flucht verhalf; Owen Brick, der ein Land von einem Krieg befreien soll - doch um welchen Preis? Und Brills Leben selbst, der sich nie verzeihen kann, was er seiner geliebten Sonja antat...
    Es ist das erste Buch von Auster, das ich gelesen habe und ich bin hin und weg. Nicht nur dass er gut erzählen kann, er ist auch in der Lage diesen an sich schon packenden Geschichten so viel Hintergründiges mitzugeben, dass man ständig zum Weiterdenken angeregt wird. Da führen die USA mal keinen Krieg gegen Dritte - und schon erheben sie die Waffen gegeneinander. Oder welche Aussagekraft Gegenstände in Filmen entwickeln können - beeindruckend. Soll ein Mensch einen anderen töten, um das Leben vieler anderer zu retten?
    Suchte ich nach einem Motto für dieses Buch, wäre es 'Das Leben ist enttäuschend...' - ein Satz der in einem der beschriebenen Filme fällt und vermutlich jeder der Personen in diesem Haus zugeschrieben werden könnte. Doch 'Und die wunderliche Welt dreht sich weiter' - ein Zitat von Rose Hawthorne, das am Ende des Buches auftaucht und (irgendwie allen) wieder Mut macht.

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