Mai: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Mai: Roman' von Geetanjali Shree
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4 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Mai: Roman"

Während Sunaina mit ihrem Bruder durch den Guavenhain streift und auf Mangobäume klettert, ist ihre Mutter Mai stets zu Hause. Unter den Argusaugen ihrer Schwiegermutter stampft sie Linsen, röstet Papadam, backt Chapati. Still umsorgt sie die ganze Familie, fast unsichtbar hinter den Mauern des großen Anwesens. Als Sunaina und ihr Bruder älter werden, lehnen sie sich gegen die starren Regeln der Familie auf und setzen sich ein gemeinsames Ziel: Mai aus ihrer so eng scheinenden Welt zu befreien. Erst spät bemerken sie allerdings, dass Mais Welt eine ganz andere ist, als sie glauben. Die Booker-Preisträgerin Geetanjali Shree porträtiert drei Generationen einer indischen Familie und erzählt von der gewaltigen Herausforderung, einander wirklich zu verstehen.

Format:Taschenbuch
Seiten:244
Verlag: Unionsverlag
EAN:9783293209749

Rezensionen zu "Mai: Roman"

  1. 5
    02. Jun 2023 

    Der Wille einer Frau

    „Mai“, ein Roman der indischen Autorin Geetanjali Shree, erzählt die Geschichte einer indischen Familie mit drei Generationen, die irgendwo im Norden Indiens lebt. Dabei konzentriert sich die Handlung auf die Zeit zwischen den 60er und 80er Jahren.
    Wir erleben, wie Tradition und Moderne unter einem Dach vereint sind. Während die erste und zweite Generation noch den strengen traditionellen Regeln eines Zusammenlebens unterworfen ist, löst sich die jüngste Generation davon.
    In dem Haus leben die Großeltern der Ich-Erzählerin Sunaina und beherrschen zu Lebzeiten den Alltag in diesem Haus. Maßgeblich ist dabei die Dominanz des Großvaters, der mit strenger Hand die Familie regiert. In der Rangordnung folgt seine Frau, die nicht ertragen kann, dass sie ihren einzigen Sohn an die Schwiegertochter „Mai“ abgeben musste, wobei keine Frau für ihren „Prinzen“ gut genug gewesen wäre. Mai (= Mutter) steht in der Rangordnung ganz am Ende, trotzdem das Wohlbefinden aller Familienmitglieder ausschließlich von ihren Fähigkeiten abhängt. Sie ist für das Funktionieren des Haushalts verantwortlich, für das leibliche Wohl der Familienmitglieder sowie für die Erziehung ihrer beiden Kinder, Sunaina und ihrem Bruder, die zusammenhalten wie Pech und Schwefel.
    Trotzdem Mai enorm wichtig für die Familie ist, findet sie als Mensch nicht statt. Denn Meinungen und Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Die ihr zugedachte Rolle besteht ausschließlich darin, für andere da zu sein. Damit verkörpert sie eine traditionelle Frauenrolle in Indien, die bisher über die Generationen fortgeführt wurde. Eine Tochter wird zu einer Schwiegertochter, die zum Wohle aller und insbesondere dem der Schwiegermutter sklavisch zu dienen hat. Wenn Schwiegertochter Glück hatte, bekommt sie einen Sohn, durch dessen Heirat sie selbst irgendwann in die komfortable Rolle einer Schwiegermutter schlüpfen kann. In der Familie dieses Romans gelingt es endlich Mais Tochter, von diesem vorbestimmten Weg abzuweichen, woran Mai keinen geringen Anteil hat. Sunaina und ihr Bruder verbringen also ihre Kindheit in dieser patriarchalischen Familie und erleben ihre Mutter in ihrer untergeordneten Rolle.
    Schule und Bildung öffnen ihnen schließlich das Tor zu einer anderen Welt. Ihre Ausbildung führt das Geschwisterpaar nach Europa, wo sie erfahren werden, dass das Leben unerschöpfliche Möglichkeiten bereithält.
    Von klein auf reifte bei dem Geschwisterpaar die Idee, ihre Mutter von den Konventionen, denen sie unterworfen ist, zu befreien. An diesem Plan halten sie über Jahre fest. Doch der Plan wird an der Mutter selbst scheitern, die sich scheinbar mit ihrem Leben arrangiert hat und nicht gerettet werden möchte.
    Nicht nur die Kinder haben Schwierigkeiten, dieses Verhalten zu akzeptieren. Auch als Leserin tut man sich schwer, Mais scheinbar fehlendes Rückgrat und Resignation nachzuvollziehen.
    Die Handlung bietet zunächst auch nur wenig Hilfestellung, sich in die Figur der Mai hineinzuversetzen, da die Geschichte ausschließlich aus Sicht der Tochter erzählt wird. Und so, wie die Tochter lernt, ihre Mutter über die Jahre zu verstehen, wird auch dem Leser langsam bewusst, was Mai sich für ihr Leben vorstellt.
    Die Kinder wollen nur das Beste für ihre Mutter, ein Vorsatz, der aus Liebe und Verantwortung entsteht. Doch gleichzeitig beinhaltet diese Absicht ein hohes Maß an Bevormundung und Anmaßung, insbesondere, wenn dieses sogenannte Beste nicht deckungsgleich ist, mit dem Besten, das die betroffene Person für sich selbst definiert.
    Der Roman „Mai" erzählt die Geschichte einer indischen Familie und beleuchtet gleichzeitig die Frauenrolle innerhalb dieser Kultur, von der Tradition bis hin zur Moderne. Doch gleichzeitig ist die Geschichte als kulturell übergreifend zu lesen, da der Konflikt sowie ein häufiges Unverständnis zwischen den Generationen überall zu finden sind.
    Der Roman vermittelt eine unglaubliche Ruhe und Entspanntheit, trotz aller Empörung über das traditionelle indische Frauenbild, und trotz eines Romananfangs, der unter einer Abfolge von Situationen, Gedanken und Erinnerungen, die chronologisch unsortiert erzählt werden, leidet. Doch nach diesen anfänglichen Verwirbelungen beruhigt sich der Lesefluss wieder, wozu die Sprache der indischen Autorin beiträgt. Der fast schon sanfte Erzählstil von Geetanjali Shree wird von eindringlichen Metaphern durchzogen, die wundervollen und detaillierten Beschreibungen der Handlungsorte haben einen großen Anteil an der ruhigen Stimmung, von der man sich gern anstecken lässt.
    Leseempfehlung!

    ©Renie

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  1. Indien im Wandel der Zeit- ein Miniaturportrait

    Ein wiederentdeckter indischer Roman einer mir bislang völlig unbekannten Autorin - das hat mich neugierig gemacht.

    Im Roman "Mai" von Geetanjaki Shree geht es im Kern um die Situation Indiens zwischen Tradition und Moderne, der sich auch als Konflikt zwischen den Generationen darstellt. Mai bewegt sich im Grunde nur im Inneren des Hauses und umsorgt die Familie - ganz dem traditionellen indischen Rollenverständnis der Parda entsprechend. Ihre Kinder, inspiriert und verlockt von moderneren Vorstellungen und eher "westlichen" Vorstellungen können dies nicht nachvollziehen, geschweige denn Verständnis dafür aufbringen.

    Sunaina erzählt Episoden aus dem Familienleben und blickt zurück auf Geschehenes. Wir erhalten Einblicke in unterschiedliche Lebensphasen, allerdings keiner strikten Chronologie folgend. Dadurch lernen wir viel über die Kultur Indiens. Gerade am Beispiel von Mais Kindern werden moderne Einflüsse deutlich: Sunaina beispielsweise träumt von Bildung, die im traditionellen Parda System Frauen versagt bleibt. Ihr Bruder unterstützt sie in ihren Emanzipationsbestrebungen.

    Mai selbst erträgt die Gängelungen, die von den im Haus lebenden Schwiegereltern ausgehen. Sie widersetzt sich nicht. Zunächst denken Sunaina und Subodh, ihre Mutter aus dem Parda System befreien zu müssen, da sie selbst modernere Werte hoch halten. Doch im Laufe der Zeit reflektiert insbesondere Sunaina ihre Position und lernt dabei, ihre Mutter besser zu verstehen. Und als LeserInnen folgen wir ihr darin. Nicht alles ist so, wie es einem von außen betrachtet zunächst erscheint. Einen offenen Widerstand gegen das System und die inhärenten Rollenzuschreibungen übt Mai nicht aus, jedoch nutzt sie subtile Möglichkeiten und zeigt darin ihre besondere Stärke.

    Shree nimmt die Leserschaft mit in ein schillerndes Indien im Wandel, in dem Konflikte zwischen Tradition und Moderne sich auch als Konflikt zwischen den Generationen darstellen. Das fand ich interessant zu lesen. Über Indien habe ich Einiges dazu gelernt. Leider konnte mich dieser Roman aber nicht ganz so fessln wie andere große indische Romane beispielsweise von Rohinton Mistry. Ich werde die Autorin und ihre Werke dennoch gerne im Blick behalten.

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  1. Tiefgründige Auseinandersetzung mit Tradition und Kolonisation

    Geetanjali Shrees Roman „Mai“ ist ein sprachliches Kleinod, ein Fest für die Sinne, eine üppige Einladung, Indien mit seinen Düften, Farben, Blumen und Klängen zu erfahren und kennenzulernen. Mai, die Mutter der Erzählerin und ihres Bruders, führt in der Wahrnehmung ihrer Kinder ein eingeschränktes, unterdrücktes und unfreies Leben, den Launen der Schwiegereltern und der leisen Autorität ihres Mannes unterworfen. In ständiger Pflichterfüllung vergehen ihre Tage, ihre Haltung ist gebeugt von der Last der Aufgaben.
    In fragmentarischen und leider bisweilen auch redundanten Episoden werden einzelne Kindheitserlebnisse und -ereignisse von der Erzählerin herausgegriffen, um zu illustrieren, wie eng und fern von Selbstbestimmung das Leben ihrer Mutter ihrer Meinung nach war. Kontrastiert wird das traditionelle Frauenleben von Mai mit dem modernen, westlich geprägten Lebensstil ihrer Kinder, die sich im Laufe ihres Werdegangs immer weiter von den alten Werten zu entfernen scheinen und daher zunehmend stärker und dringlicher den Wunsch empfinden, ihre Mutter aus ihrer vermeintlich misslichen Lage zu befreien. Erst als die Schwiegereltern und der Vater sterben, wird ihnen klar, dass zwischen ihrer eigenen Perspektive und der ihrer Mutter Welten liegen.

    Auch wenn dem Roman ein tragender, roter Geschichtenfaden fehlt und stattdessen die wiederholte Bezugnahme der Erzählerin auf ihr Bedürfnis, die Mutter zu retten sowie die Darlegung der Gründe für diesen Wunsch das Fundament der Story bilden, liest sich der Roman flüssig und interessant. Die zahlreichen Einblicke in das Alltagsleben einer indischen Familie der gehobenen Schicht sind erhellend und horizonterweiternd, zumal der Roman durch eine unfassbar opulente Atmosphäre bereichert wird und sich auch in der deutschen Übersetzung zahlreiche Ausdrücke aus dem Hindi finden.

    Die Figurendarstellung ist glaubhaft und die allmähliche Entwicklung der Figuren – Mai, die sich eigentlich nur ihren Kindern zu Liebe zu ändern scheint, die Kinder, die nach und nach an Erkenntnis gewinnen – absolut überzeugend.

    Die allergrößte Stärke des Buches ist aber sicherlich der Subtext, der sich erschließt, wenn man den Roman aus einem postkolonialen Ansatz heraus liest. Durch diese Sichtweise bekommen besonders die Szenen, in denen die Kinder sich in den Dienst der angeblichen zivilisatorischen Kraft der westlichen Welt stellen und auf die indischen traditionellen Werte der Mutter treffen, völlig neue und überaus gewinnbringende Facetten – ein Genuss für jeden Literaturfreund und daher eine nachdrückliche Leseempfehlung.

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  1. Drei Frauenleben im Wandel der Zeit

    „Mai“ ist das bereits 1993 publizierte Romandebüt der indischen Schriftstellerin Geetanjali Shree, die ihre Bücher auf Hindi verfasst. 2010 wurde es von Reinhold Schein ins Deutsche übersetzt und nun 13 Jahre später im Unionsverlag neu herausgegeben. Erst kürzlich gewann die Autorin mit „Tomb of Sand“ den Man Booker International Prize.

    Handlungsort ist ein unweit von der Stadt gelegenes Anwesen einer wohlbetuchten, sehr traditionell/konservativ lebenden hochkastigen Familie in Nordindien. Die Frauen leben nach der Tradition des Parda (= Hindi: Vorhang). Diese sieht neben der Verschleierung auch eine Abschottung der Frauen innerhalb des Hauses vor und beschränkt Ausflüge nach draußen für Frauen auf das notwendige Minimum.

    „Mai“, was auf Hindi „Mutter“ bedeutet, ist eine ruhige, aus der Retrospektive erzählte Familiengeschichte, in der vor allem die Frauen im Fokus des Interesses stehen.

    Ich-Erzählerin Sunaina erzählt sprunghaft, ohne Rücksicht auf eine chronologische Abfolge der Ereignisse, Episoden aus ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Leben als erwachsene Studentin und Künstlerin. Eng verbunden fühlt sie sich mit ihrem Bruder Subodh, der zunächst ihr wichtigster Spielgefährte ist und ihr später Zugang zu Bildung in Form von Literatur eröffnet, die für Mädchen im Bildungskanon normalerweise nicht vorgesehen sind.

    Im Haus leben ebenfalls, wie in Indien üblich, die Schwiegereltern. Mai wird von ihrer Schwiegermutter herumkommandiert, beschimpft, gedemütigt und zur Arbeit angehalten. Unterwürfig erledigt sie sämtliche Aufgaben, die an sie herangetragen werden. Schon früh entwickeln Sunaina und Subodh den Plan, ihre Mutter zu retten, sie aus dem Parda zu befreien, damit diese ein freies, selbstbestimmtes Leben führen kann. Doch sie müssen feststellen, dass Mai gerne die Arbeiten im Haus erledigt und sich nicht retten lassen will. Während die Schwiegermutter ganz in ihrer traditionellen Rolle aufgeht, zeigt Mai im Laufe ihres Lebens durchaus Handlungsweisen, die im traditionellen Rollenverständnis nicht vorgesehen sind. Sie setzt sich vor allem auf eine stille Art für die Interessen ihrer Kinder ein, toleriert bei ihnen, den Traditionen zuwiderlaufende Handlungsweisen und unterstützt sie dabei, ihren eigenen Weg zu finden, unabhängig von Rollenzuschreibungen. Alles wird einfacher für Mai, nachdem ihre Schwiegermutter gestorben und sie freie Hand im Frauenbereich hat. Ab diesem Zeitpunkt erhält sie auch Unterstützung von ihrem Ehemann in Form zahlreicher Haushaltsgeräte, die er zur Arbeitserleichterung erwirbt. Vor dem Tod der Schwiegermutter waren solche Investitionen offenbar unmöglich.

    Sowohl Sunaina als auch Subodh gehen auf Eliteschulen mit einem westlich orientierten Bildungssystem, wodurch sie sich zeitweise in völlig anderen Lebenswelten zurechtfinden müssen. Sunaina ist folgerichtig diejenige der drei Frauen, die sich vom traditionellen Rollenverständnis am weitesten entfernt, die ihre Mutter verstehen will, sich an ihr reibt und selbst ihren Platz als Frau in der Gesellschaft sucht.

    Besonders gut gefallen hat mir, wie auf wenigen Seiten ein farbenfrohes Bild des Haushalts und seiner Bewohner*innen entsteht. Die vielen unterschiedlichen Gerichte, die Mai zubereitet, kann man fast riechen und schmecken. Sehr gelungen finde ich, dass die Mutter im Laufe des Romans an Kontur gewinnt. Sie ist nicht die unterdrückte Frau, wie es zu Beginn scheint; sie hat viele Facetten, erledigt ihre Arbeit mit einer inneren Würde und Stärke und durchläuft eine Entwicklung. Der Roman beleuchtet sehr gut die Geschlechterverhältnisse und -rollen, den kulturellen Wandel, der vor allem seit der wirtschaftlichen Öffnung Indiens im Jahr 1991 an Fahrt aufgenommen hat und die seither schwindende Macht der Schwiegermütter.

    Wer sich für andere Kulturen und Wandlungsprozesse interessiert und einen dahinfließenden Erzählton ohne besondere Höhen und Tiefen mag, ist hier richtig.

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  1. Drei Frauengenerationen zwischen Tradition und Moderne

    Im vergangenen Jahr 2022 gewann die Autorin Geetanjali Shree mit ihrem Roman „Tomb of Sand“ den renommierten Man Booker International Prize. Grund genug für den Schweizer Unionsverlag, Shrees bereits 1993 auf Hindi erschienenes Debüt „Mai“ neu aufzulegen. Ich-Erzählerin ist Sunaina. Sie berichtet retrospektiv über ihre Kindheit, Jugend und ihr frühes Erwachsenenalter. Dabei schildert sie verschiedene bedeutsame Episoden, in denen sie besonders ihre Mutter Mai in den Fokus stellt. An ihr reibt sich die Tochter, schon immer wollte sie die Mutter aus dem engen Korsett befreien, in dem indische Frauen der Oberschicht feststecken. Jetzt im Nachhinein, Mai ist bereits verstorben, beleuchtet Sunaina die Familienbeziehungen aufs Neue mit dem Ziel, insbesondere ihrer Mutter näher zu kommen und ihr Verhalten zu begreifen.
    „Man kann nur aus dem Später heraus erzählen, und ich verzweifele an der unumstößlichen Tatsache, dass später nur noch eine Erinnerung bleibt und dass die Erinnerung nur noch ein Abglanz ist, umgrenzt von den Gitterstangen der Imagination. Sie ist nicht die reine Wahrheit, nicht die ganze Wahrheit.“ (S. 7)

    Sunaina wächst etwa zwischen 1960 und 1980 mit ihrem Bruder Subodh in einer wohlhabenden Familie der oberen indischen Kaste auf. Die Familie lebt nach traditionellen indischen Werten. Dazu gehört für Frauen der Parda, womit eine Lebensweise ‚hinter dem Vorhang‘ gemeint ist. Das heißt, dass eine Ehefrau sich nur gemeinsam mit ihrem Mann in der Öffentlichkeit zeigen darf, dass sie im Hintergrund agieren und permanente Zurückhaltung üben muss. Obwohl die Familie einige Dienstboten hat, obliegt Mai ein Großteil der Hausarbeit. Insbesondere die Zubereitung der aufwändigen indischen Delikatessen bindet sie den ganzen Tag an die Küche. Darüber hinaus muss sich Mai in allen Belangen dem Willen ihrer despotischen Schwiegereltern beugen. Schweigend, geduldig und fügsam erträgt sie manche Schikane. Ihre Kinder halten das für zutiefst ungerecht, so dass sie Partei für ihre gebeugte Mutter ergreifen. Eines Tages wollen sie sie retten und aus der Unterdrückung befreien – das wird ihnen zum Lebensmotto.

    Im Zuge der Erzählung wird klar, dass Mai nicht unbedingt eine Befreiung braucht. Spätestens seit dem Tod der Schwiegereltern hat sie sich mit den Gegebenheiten arrangiert. Sie hat eigene, sehr subtile und wirksame Strategien entwickelt, um ihre Interessen durchzusetzen. Meistens betreffen diese ihre Kinder, für deren Freiheit, Ausbildung und Fortkommen sie sich einsetzt. Das ist für sie das Wesentliche.
    „Wir wuchsen also von vielen schützenden Schatten behütet auf, vor allem war Mais Schutzschirm über uns aufgespannt. Aber wir ahnten nicht einmal, dass es diesen Schutzschirm gab.“ (S. 15)

    Selbst die Großeltern befürworten eine englische Ausbildung in einer christlichen Missionsschule. Auch den Alten ist klar, dass die überkommenen Traditionen in der Zukunft nicht verlässlich sein werden. Subodh verlässt das Land schneller zum Studium nach England als seine Schwester. Sunaina kann die familiären Verstrickungen lange Zeit nicht abstreifen, sie tut sich schwer, sich von Mutter, Elternhaus und Erwartungshaltungen zu lösen. Die Ambivalenz ihrer Gefühle und ihre inneren Konflikte werden sehr vielschichtig dargelegt. Sie wirkt als Erzählerin glaubwürdig, auch wenn sie eine subjektiven Standpunkt einnimmt.
    „Das war ein weiterer Unterschied zwischen Mai und mir. Ihr Feuer hatte sich nach innen zurückgezogen, meines war nach außen durchgebrochen. Aber gebrannt haben wir wohl beide.“ (S.59)

    Mich hat dieses Familienportrait unter besonderer Berücksichtigung seiner weiblichen Figuren von Beginn an gefesselt. „Mai“ ist ein feiner, leiser, durchdachter Roman, der viele unterschiedliche Facetten der indischen Kultur und Gesellschaft wie nebenbei beleuchtet. Dabei steht die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung im Vordergrund. Sunaina reflektiert anhand zahlreicher Ereignisse das Leben ihrer Mutter sowie die Regeln, die früher noch galten und sich im Zeitablauf immer mehr zu lockern scheinen. Es hat mir gefallen, dass die Figur Sunaina weder als Opfer noch als starke Superfrau charakterisiert wird. Dadurch wirkt sie nachvollziehbar und ungemein authentisch. Ein Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen zwei völlig unterschiedlichen Kulturen (und damit einhergehenden Rollenmustern) ist eine Herausforderung. Ich halte den Roman für zeitlos und informativ, er beschäftigt sich mit feministischen Fragen. Man kann auch eine postkoloniale Kritik herauslesen. Allerdings hat sich mir die weit verzweigte und möglicherweise in der hinduistischen Religion begründete Symbolik nicht immer komplett erschlossen. Manche Dinge bleiben bewusst in der Schwebe.
    Die Erkenntnisse der Ich-Erzählerin regen zum Nachdenken an. Der Erzählkreis schließt sich perfekt, es lohnt sich, am Ende noch einmal in den Anfang zu lesen. Die häufigen Zeitsprünge gehören zum Stil der Autorin und haben mich in keiner Weise gestört.

    Viele Themen werden von der generationenübergreifenden Familiengeschichte tangiert. Neben den sozial- und gesellschaftskritischen Anklängen lese ich einen Appell für Gleichberechtigung, Toleranz und Freiheit heraus. Die Zufriedenheit und Wünsche des Einzelnen müssen das Maß der Dinge sein. Niemand hat das Recht, über andere Menschen zu urteilen oder gar über ihr Leben zu bestimmen.

    Die wunderbar melodische und sinnbetonte Sprache trägt regelrecht durch den Text. Zahlreiche philosophische oder lebenskluge Sätze lassen den Leser aufhorchen. „Mai“ ist ein ruhiger, fließender Roman, der ohne nennenswerte Höhepunkte auskommt, der aber brillant geschrieben und komponiert wurde. Ein großes Kompliment gilt Reinhold Schein sowohl für Übersetzung und Glossar als auch für das informative Nachwort.

    Dringende Leseempfehlung an alle Leser, die sich gerne mit fremden Kulturen und Familienbanden beschäftigen.

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  1. 3
    26. Apr 2023 

    Hinter dem Parda

    Parda ist Hindi und bedeutet wörtlich Vorhang. Das Wort steht für die traditionell zurückgezogene Lebensweise einer Frau aus guter Familie. So lebt scheinbar auch „Mai“ die Mutter zweier Kinder, Sunaina und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Subodh, Ehefrau und Schwiegertochter. Sie wirkt unterdrückt, ins Haus eingesperrt und fast verstummt, beherrscht von ihren Schwiegereltern, nur ein bisschen weniger beherrscht von ihrem Ehemann. Die beiden Kinder sind fast entschlossen, ihre Mutter aus der von ihnen wahrgenommenen Unterdrückung zu befreien.

    Sunaina erzählt uns rückblickend die Geschehnisse ihrer Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter aus der Ich-Perspektive. Dabei geht es aber zentral immer um die drei Frauengenerationen dieses Haushalts, die Großmutter, die Mutter „Mai“ sowie sie selbst. Es existiert weniger ein Plot, als vielmehr eine Sammlung an nicht chronologisch aneinandergereihten Anekdoten, die einen sehr detaillierten Einblick in das Familienleben einer gesellschaftlich und durch ihre Kaste gehobenen Familie in Indien Mitte des 20. Jahrhunderts. Besonders zu Beginn dreht sich sehr viel um die traditionelle und später auch mit der englischen Küche vermischte Kulinarik Indiens. Immer wieder bekommen wir mit, wie „Mai“ unterdrückt wird. Sogar ihr Rücken ist von der schweren hauswirtschaftlichen Arbeit gekrümmt. Aber trotz diesem „Buckeln“, trotz ihres Schweigens und ihrer nach außen hin gezeigten Unterwürdigkeit gegenüber den Älteren und ihrem Ehemann kommen immer mehr Zweifel auf, ob „Mai“ wirklich so schwach ist, wie sie von außen scheint. Sie setzt sich immer wieder für ihre Kinder ein und manipuliert auf subtile Weise deren Vater, ihren Ehemann, sodass die Kinder einen freieren, moderneren Weg gehen können, als es ihr möglich gewesen ist. So scheinen wir hier drei Stufen einer Emanzipationsgeschichte zu sehen. Die Schwiegermutter, die noch vollkommen in traditionellen Vorstellungen verhaftet zu sein scheint, die Mutter „Mai“, die zwar selbst noch hinter dem Parda lebt, ihren Kindern jedoch mehr ermöglicht, und die Kinder, die sich – mehr oder weniger - zunehmend in ein modernes, westliches Indien einfügen.

    Grundsätzlich ist der Schreibstil von Geetanjali Shree in ihrem bereits 1990 erstmals auf Hindi erschienen Debütroman schon sehr gut ausgeprägt. Sie schafft es Atmosphären zu erschaffen und entwirft mit wenigen Worten die Charakterisierungen der verschiedenen Familienmitglieder. Meines Erachtens beginnt der Roman stark, lässt dann aber im Verlauf nach. Die unablässige Wiederholung des Rettungswunsches Sunainas gegenüber ihrer Mutter übersteigt das notwendige Maß. Immer wieder muss sie uns sagen, dass „Mai“ gerettet werden muss, dass sie und ihr Bruder vorhaben, „Mai“ rauszuholen aus dem gemeinsamen Heim. Man wartet auf die Verwirklichung dieser zentralen Prämisse der „Rettung“, die aber nie wirklich eintritt. Stattdessen bleibt Sunainas Erzählung nicht nur eine verworrene Aneinanderreihung von Anekdoten sondern wird zunehmend durchbrochen von philosophischen Betrachtungen, denen ich zum Ende hin mitunter nicht mehr folgen konnte.

    Das Nachwort von Reinhold Schein, gleichzeitig der Übersetzer des Textes aus dem Hindi, hat mir geholfen die Lektüre im Kopf zu sortieren. Prinzipiell wird dort größtenteils der Inhalt des Romans noch einmal in geordneter Form in eigenen Worten wiedergegeben, was passiert ist und um was es zusammengefasst geht. Die Hinweise zu den Besonderheiten der Übersetzung aus dem Hindi waren durchaus aufschlussreich. Man erhält dadurch keine großartig neuen Erkenntnisse zum Inhalt des Romans, das Nachwort passte aber in seiner soliden Machart quasi als Gegenstück zur zerrupften Schreibweise der Autorin. Sehr schade finde ich, dass in den im Anhang angefügten Worterklärungen spezieller Hindi-Wörter gerade das Wort "Mai = Hindi für Mutter" gefehlt hat. Ein Hinweis, der leider nicht im Buch zu finden ist, und die deutschsprachige Leserschaft zur Annahme verleiten lässt, die Kinder sprechen nur ihre Mutter mit dem vermeintlichen Vornamen Mai an. Und einmal mehr finde ich es schade, dass die Wörter, die im Anhang zu finden sind, nicht im Text gekennzeichnet sind. Zumal auch nicht alle unübersetzten Worte hinten zu finden sind.

    Der Roman an sich hat mir gut gefallen, vor allem aufgrund des Wissens, welches man dadurch über das Leben von Familien der obersten Kaste und vor allem der Rollen der Frauen im Wandel der Zeit, erwirbt. Es war also eine wissenswerte Lektüre, wenngleich mich der sprunghafte Erzählstil der Autorin leider über die gesamte Länge des Buches hinweg nicht überzeugen konnte und zum Ende hin zunehmend angestrengt hat.

    3,5/5 Sterne

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  1. 4
    25. Apr 2023 

    Frauenbilder Indiens...

    Die Booker-Preisträgerin Geetanjali Shree porträtiert in diesem Roman drei Generationen einer gutsituierten indischen Familie, wobei die Tochter diejenige ist, aus deren Ich-Perspektive in Rückblenden erzählt wird. Im Zentrum der Erzählung steht Mai, die Mutter der Erzählerin, und die Zeitspanne des Romans umfasst Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter von Sunaina und ihrem Bruder.

    Die Familie lebt in einem großzügigen Anwesen und hat eine kleine Dienerschaft, die ihr zur Hand geht. Dennoch verrichtet Mai viele der Aufgaben innerhalb des Hauses, still und unaufdringlich, versucht nicht aufzufallen und jeden Wunsch der anderen zu erfüllen. Dabei erträgt sie geduldig und schweigend die vielen ungerechten Behandlungen von Seiten ihrer Schwiegereltern, v.a. der Schwiegermutter. Die lässt keine Gelegenheit verstreichen, ihrer Schwiegertochter deutlich zu machen, wie unzulänglich und unzumutbar sie im Grunde ist. Dabei entwickeln die Kinder schon früh das Gefühl, Mai vor den anderen beschützen zu müssen - denn diese lässt einfach alles mit sich geschehen.

    Lt. Nachwort umfasst der Debütroman der späteren Booker-Preisträgerin die 60er bis 80er Jahre des vorherigen Jahrhunderts. Vieleicht eine Zeit des großen Umbruchs hinsichtlich des Frauenbilds in der indischen Gesellschaft - zumindest ließ sich das traditionelle Frauenbild (duldsam, unsichtbar, dienend) offenbar nicht länger aufrechthalten. Die drei Generationen der im Roman vorgestellten Familie stehen für diese Veränderungen. Während Mais dominante Schwiegereltern noch vollkommen die traditionelle Sichtweise verkörpern und Mai dies klaglos hinnimmt, sorgt die Mutter gleichzeitig auf ihre ganz eigene Art dafür, dass das Leben für ihre Kinder - und damit eben auch und gerade für ihre Tochter Sunaina - andere Möglichkeiten bereithält.

    "Alle waren ständig besorgt. Nur Mai schien es nicht zu kümmern, was ich tat und wo ich war. Alle waren darauf aus, mich hinter dem 'echten Parda' festzuhalten, nur Mai schob wie aus Versehen den Vorhang beiseite, bevor er gänzlich zugezogen werden konnte. (...) dann wurde die Glut, die hinter dem Parda glomm, gerade dadurch, dass das ständige Schwenken des Vorhangs ihm Luft zufächelte, voll entfacht und ließ ihn selbst in Flammen aufgehen." (S. 58)

    Für Sunaina und ihren Bruder ist schon früh klar, dass sie raus wollen aus der Enge, mehr wollen als familiäre Erwartungen zu erfüllen, sich selbst finden wollen. Individualität statt Rollenerwartungen, kein einfaches Unterfangen. Und die Kinder wollen Mai befreien, die mit ihrem gekrümmten Rücken geradezu ein Sinnbild für die dienende Haltung allen gegenüber ist. Mai, die stets hinter ihrem Parda lebt - einerseits nur im Haus und stets hinter ihrem Sari, der ihren kompletten Körper sowie Teile ihres Gesichts verbergen soll, andererseits aber auch sinnbildlich, indem sie sich jedwelche Reaktion untersagt, um ihre vollkommene Unterwürfigkeit zu demonstrieren.

    Doch Mai lässt sich nicht einfach retten. Sie schweigt demgegenüber genauso wie sonst auch. Und bringt ihre Kinder damit zur Verzweiflung, die meinen zu wissen, was für ihre Mutter gut ist und was nicht. Und damit genauso übergriffig denken und handeln wie alle anderen auch, was ihnen aber erst später bewusst wird. Genauso wie die Tatsache, dass sie die Person hinter dem Parda nie wirklich kennengelernt haben, sondern nur das, was an Zuschreibungen da war.

    "Ein armes Ding, harmlos, schwach, niedergeschlagen, das sich selbst von allem Eigenständigen entleert hatte und vollkommen offen geworden war, sodass andere in sie hineinfüllen konnten, was ihnen passte. (...) Wir hielten das für Mutterliebe und haben aus einem leeren Gehäuse eine Göttin gemacht." (S. 162)

    Die durchaus vorhandene Stärke hinter der Demut, die Fähigkeit wichtige Dinge auf ihre ganz eigene stille Weise zu regeln, das alles nehmen die Kinder kaum wahr. Alles wird aus ihrer individuellen Sichtweise heraus beurteilt - eine perspektivengebundene Wahrheit, die Mai allerdings nicht gerecht wird. Schlussendlich merkt jedoch auch Sunaina, dass es nicht so leicht ist, sich Traditionen entgegenzustemmen, die Wurzeln zu ignorieren, der misogynen Haltung der Gesellschaft zu trotzen. Das Frauenbild, das Mai verkörpert, ist ein überliefertes, und es lebt auch in Sunaina weiter, irgendwie. Sie wird lernen müssen, mit dem Spagat zu leben...

    Der Roman liest sich flüssig, wobei die zeitlichen Sprünge manchmal etwas herausfordernd sind. Die Erzählung bietet interessante Einblicke in die gesellschaftliche Entwicklung Indiens, hier v.a. in Familiensysteme im Spagat zwischen Tradition und Moderne. Im Fokus steht dabei das sich wandelnde Frauenbild - der Mutter-Tochter-Konflikt trägt zur Verdeutlichung bei. Etwas nervig fand ich die redundante Wiederholung der Aussage, Mai retten zu wollen - spätestens nach dem dritten Mal sollte das Anliegen jedem klar geworden sein.

    Alles in allem ein anstrengendes aber doch auch sehr interessantes Leseerlebnis, das mich neugierig macht auf weitere Werke der Autorin.

    © Parden

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  1. 5
    25. Apr 2023 

    Zwischen Tradition und Ausbruch

    Im Roman “Mai” von Geetanjali Shree befinden wir uns in einem gutsituierten Haus im Norden von Indien, in dem die traditionelle Rollenverteilung konsequent und starr gelebt wird: Männer und Frauen führen ein weitgehend separiertes Leben voneinander, die Schwiegertochter (Mai) lebt darin ein Leben fast wie das einer Hausangestellten, muss sie sich doch nach der Heirat vor allem um das Wohl der Schwiegereltern kümmern und den Kontakt zur eigenen Familie möglichst ganz aufgeben. Die Schwiegereltern in diesem Haus werden dabei als ausnehmend streng und teilweise sogar boshaft Mai gegenüber geschildert. Dennoch ist irgendwie der ganze Haushalt darum bemüht, diesen Lebensentwurf irgendwie aufrechtzuerhalten. Der ganze Haushalt? Nein, in diesem Haus regt sich auch Widerstand. Die junge Generation - Mais Kinder, Suni und Sudokh - streben nach draußen und verbünden sich in dem Wunsch, auszubrechen und dabei auch das Schicksal ihrer Mutter zu ändern. Sie streben nach der Befreiung der Mutter. Doch die Frage ist zu stellen: Will die Mutter überhaupt befreit werden? Oder lebt sie nicht genau in der Rolle, in der sie sich traditionell und durch ihre Erziehung wohl fühlt, da darauf genauestens vorbereitet?
    Diese Familiengeschichte wird aus der Sicht der Tochter Suni in einer Art und Weise erzählt, die der Geschichte eine weitergehende Bedeutung über den indischen Horizont hinaus gibt und generell die Frage nach der Rolle der Frau in der Gesellschaft stellt. Es ist eine anekdotische Erzählweise, die oft den chronologischen Faden schleifen lässt und von Situation zu Situation springt. So ordnet sich das erzählen mehr der Verdeutlichung eines Gedankens unter als der genauen Vermittlung der Historie der Familie.
    Als Erzählerin rückt damit auch Suni und deren Sichtweise auf das Geschehen immer stärker in den Mittelpunkt der Geschichte. Sie ist die zweite oder gar erste Frauengestalt des Romans, deren Entwicklung Fragen aufwerfen soll und kann zum Thema der Stellung der Frau. Sunis Verbünden mit ihrem Bruder, die Mutter befreien zu wollen, ist eine lebenslange Konstante in ihrem Leben, und doch ….. immer mehr Zweifel kommen beim Leser auf, ob sie tatsächlich voll und ganz dahintersteht. Sie ahnt – selber Frau – mehr als ihr Bruder, welchen tiefen Riss im Leben ein Ausbrechen, von deren Ausgestaltung sie letztlich nie einen wirklichen Plan entwickeln, bedeuten würde. Es kommt dann auch tatsächlich nie zu einer Befreiung. Mai stirbt, ohne den Ausbruch zu wagen. Und mehr noch. Auch Sunis Lebensweg ist weit weniger ein Ausbruch denn ein Nachgeben.
    Ist es also ein für moderne Frauen deprimierender Roman mit einer desillusionierenden Botschaft? Ja, durchaus. Aber: Es ist in meinen Augen vor allem auch ein ehrlicher Roman, der deutlich macht, welche Opfer Frauen zu geben haben, wenn sie sich Traditionen und überkommenen Rollenmustern entgegenstellen. Ein Roman, der nach Verständnis ruft auch für Rückzug und scheinbare Schwäche, denn das – so zeigt die Figur der Mai – hat auch seine sehr starken weiblichen Seiten. Ich gebe dem Roman für die sprachlich überzeugenden Einblicke in die indische Welt höherer Kasten und die differenzierte Vermittlung der Frauenfrage auf jeden Fall 5 Sterne.

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  1. Ein indisches Frauenleben

    Mai erzählt die Geschichte einer indischen Hausfrau und Mutter. Sie füllt die Rolle der fleißigen Dienerin und einer nach außen bescheidenen, gehorsamen Gefährtin scheinbar perfekt aus.Ihre Kinder sind ihr wichtig, ihrem Wohl ordnet sie ihre Wünsche scheinbar stets unter - wenn sie dieses Wohl gefährdet sieht, ergreift sie im Rahmen ihrer Mittel durchaus die Initiative. Scheinbar klaglos lässt sie sich von den Schwiegereltern schikanieren - auch die Existenz der Geliebten ihres Ehemannes nimmt sie duldend hin.
    Erst nach dem Tod der Schwiegereltern tun sich für Mai in Haus und Familie kleine Freiräume auf.
    Erzählt wird aus der Sicht ihrer beiden Kinder.
    Für mich persönlich war das Buch an manchen Stellen interessant, was Tradition, Kultur und Lebensweise der indischen Familie anging. Die Wirkung einer Fiktion - also das tiefe Eintauchen in den Text, die emotionale Bindung an einzelne Figuren, die Spannung beim Nachvollziehen fremder Konflikte - stellte sich aber nicht oder nur selten ein. Ich empfand das Buch eher als Dokumentation mit manchmal weitschweifigen Beschreibungen.

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  1. Eine indische Familie zwischen Tradition und Moderne

    Nach Schätzungen der UN übernimmt Indien im April 2023 den Titel als bevölkerungsreichstes Land der Erde von China. In beiden Ländern leben derzeit jeweils mehr als 1,4 Milliarden Menschen, allerdings ist die Fruchtbarkeitsrate in den vergangenen Jahren in beiden Ländern rasant gesunken. Dank der Modernisierungen sank sie in Indien von 6 in den 1950er-Jahren auf mittlerweile unter 2,1.

    Wie sich dieser Wandel in einer wohlhabenden nordindischen Mittelschichtfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt und die heutige jüngere und mittlere Generation in diesem Milieu aufwuchs, beschreibt die 1957 geborene indische Historikerin, Sozialwissenschaftlerin, Roman- und Bühnenautorin Geetanjali Shree in ihrem Debütroman "Mai" aus dem Jahr 1993. Er erschien erstmals in deutscher Übersetzung aus dem Hindi von Reinhold Schein im Draupadi Verlag 2010 und nun, nachdem die Autorin 2022 für einen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman mit dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde, erneut im Unionsverlag. Geetanjali Shree lüftet darin den Vorhang zu einer unbekannten Welt.

    „Parda“
    Den hilfreichen Worterklärungen hinten im Buch ist zu entnehmen, dass „Parda“, Vorhang, für die traditionell zurückgezogene Lebensweise einer Frau aus guter Familie steht. Hinter einem solchen „Parda“ lebt auch Mai, Hindi-Wort für Mutter, die zur mittleren der drei Tiwari-Generationen gehört und im Mittelpunkt des von ihrer Tochter Sunaina erzählen Geschehens steht. Traditionsgemäß bleibt Mai vorwiegend im Haus, weitgehend unsichtbar, still, das Gesicht hinter dem Ende ihres Saris verborgen. Mit ihrem dienenden, unterwürfigen, selbstausbeuterischen Verhalten gegenüber ihrem Mann und den tyrannischen Schwiegereltern, symbolhaft unterstrichen durch ihren gebeugten Rücken, ruft sie Mitleid bei ihrer Tochter und dem Sohn Subodh hervor:

    "Schon von früher Kindheit an schmerzte uns Mais Fügsamkeit. Allmählich begannen wir, sie vor allen andern zu beschützen: vor Großmutter, vor Papa, vor Großvater. Nur vor ihr selbst konnten wir sie nicht beschützen." (S. 12)

    Niemals will Sunaina werden wie Mai. Wie ihr Bruder besucht sie eine englische Schule, studiert, verlässt ihr Zuhause. Immer mehr wird das Bestreben der Geschwister, Mai aus ihrem „Gefängnis“ zu befreien, zur Obsession. Zwar handeln sie in bester Absicht, doch werden damit auch sie übergriffig. Mit Mais beharrlicher Verweigerung schlägt die anfängliche Euphorie in Frustration, Ärger und Wut um:

    "Wir hätten heulen können. Wenn sie selbst in ihren Ketten bleiben wollte, was konnten wir dann tun, um sie zu befreien?“ (S. 133)

    Erst in einem nicht näher definierten „Später“ kann Sunaina, die durch ihr Erzählen „Ruhe“ und „Bewegungsfreiheit“ gewinnen möchte, einen differenzierteren Blick auf Mai, auf ihre Mutterbeziehung und das komplizierte Familiengeflecht werfen. Nun erkennt sie mehr als den gebeugten, Wünsche erfüllenden Schatten: eine Frau mit großer Stärke, wenn es um die Bedürfnisse ihrer Kinder ging, die über ein ganz eigenes Feuer verfügte.

    Eine authentische Stimme
    Die Erzählweise mit den vagen Zeitsprüngen, die Personen- und Ortszeichnungen, die ungewöhnlich sinnliche Beschreibung der Speisen und die atmosphärischen Alltagsschilderungen machen Mai zu einer sehr bereichernden Lektüre. Nur die gar zu oft wiederholten Rettungsabsichten haben mein Lesevergnügen manchmal getrübt, lieber hätte ich stattdessen mehr zum Bildungsweg der Geschwister und Subodhs Übersiedlung nach England erfahren. Trotzdem: Wer sich für indischen Alltag und die sich wandelnde Lebensweise interessiert, dem kann ich diese authentische Stimme sehr empfehlen.

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  1. Obsession Mutter

    Kurzmeinung: Eine sehr angenehme Lektüre, da die Autorin eine Erzählerin alter Schule ist, die Thematik aber ist - generell gesehen - zeitlos.

    Patriarchalische Strukturen und übergroße Gastfreundschaft gehen in dem erzählten Indien Shrees Hand in Hand. Die Frauen machen die Arbeit, die Männer arbeiten zwar „draußen“ in der Welt auch und sorgen für den finanziellen Rahmen, aber zuhause lassen sie sich bedienen wie Paschas. Trotzdem haben auch die Frauen, wenn sie geschickt sind, ihre Freiräume und wissen, sie zu nutzen. Und wenn jeder seine Rolle ausfüllt ohne zu Jammern und zu Klagen existiert Familie als konfliktfreie Zone.

    Die Geschwister Suna und Suboth wachsen in einer patriarchalischen traditionellen indischen Großfamilie der Oberklasse auf und genießen eine behütete Kindheit. Die Großeltern sind noch ganz im alten Kastendenken verankert und eigentlich Großgrundbesitzer, obwohl sie aus ideologischen Gründen das Eigentum an Grund und Boden aufgegeben haben und nur noch Nutznießer dessen sind. Die Elterngeneration ist schon etwas lockerer, aber vor allem Frauen werden in ihren Möglichkeiten noch immer, genau wie „ganz früher“ beschränkt und haben keinerlei gesellschaftliche Außenwirkung. Ihre Rolle ist eine dienende. Mitspracherechte gibt es keine. Die Geschwister Suna und Suboth müssen sich im schwierigen Stadium der beginnenden Moderne zurechtfinden, obwohl ihre Wurzeln tief in der autoritären Tradition haften. Tiefer als es ihnen lieb ist und tiefer als es ihnen immer bewusst ist.

    Suna erzählt im Rückblick von ihrer Mutter und dem Leben „damals“, als alles noch intakt war und dennoch so unvollkommen schien. Es überkommt sie Melancholie und Heimweh, wenn sie schildert, wie der gesamte Haushalt sich um die Zubereitung von indischem Essen drehte, sie fühlt sich schuldig, wenn sie an den Überfluss denkt, der herrschte und den sie als Kind nicht zu würdigen wusste. Und sie ist von Schuldgefühlen geplagt, weil sie ihre Mutter nur an Äußerlichkeiten festmachte und ihr inneres Wesen nicht erkannte.

    Der Kommentar:

    Greetanjali Shree erzählt uns, dass ein „Mutterkomplex“ kein allein europäisches Ding ist. An Müttern arbeiten Töchter sich ab. Söhne auch, aber anders. Egal wo, egal in welcher Gesellschaftsstruktur, eben auch in patriarchalischen, ist das Mutterbild problematisch. Wie sollte es anders sein? Man muss sich abnabeln und will sich gleichzeitig solidarisch zeigen oder sich sogar identifizieren. In dieser Gemengelage muss es zwangsläufig zu inneren Konflikten kommen. Es geht gar nicht anders. Und wenn die Töchter erwachsen sind und die Mutter womöglich nicht mehr lebt, entdecken die Töchter, dass ihre Mutter in ihrem Innern überlebt hat. Das merkt auch Suna.

    Es ist sowohl der ganz normale Generationenkonflikt wie auch die alles verändernde Moderne, die auch vor Indien nicht Halt macht, zart in Shrees Roman eingebettet. Die Sprache Shrees ist wie ein ruhiger Fluss, entspannend, fließend, niemals langweilig. Phrasenlos.

    „Mai“ ist auch eine Hommage an eine behütete Kindheit, an eine perfekte Zeit, wie es die Kindheit eigentlich immer sein sollte, diese Perfektion bekommt naturgemäss Risse, je erwachsener man wird: Man hinterfragt Autorität, Schicksal und Gegebenheit. Im besten Falle wird man politisch. Soweit aber gehen bei Shree die Protagonisten nicht, sie bleiben im Privaten. Dass wir ganz im Privaten bleiben und uns manchmal sogar im Symbolischen verlieren, ist das Einzige, was ich dem Roman wirklich vorwerfen könnte. Gegen Ende hin wird Shree unkonkreter und wechselt vom praktischen Erzählen ins Schein-Philosophische; die konkrete Erzählung löst sich in Trauerarbeit auf.

    Fazit: „Mai“ ist Erzählung einer typischen Kindheit im traditionellen Indien auf der Schwelle zur Moderne. Es ist auch die Erzählung von einer Mutterobsession; faszinierend, weil in einer fremden Kultur dennoch ganz ähnliche Probleme stecken wie überall in der Welt. Es ist auch eine, in Ansätzen, Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft.
    Insgesamt habe ich diese Erzählung wirklich gerne gehabt.

    Kategorie: Erzählung.
    Unionsverlag, 2023/Erstausgabe 1993.

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