Lügen über meine Mutter

Buchseite und Rezensionen zu 'Lügen über meine Mutter' von Daniela Dröscher
3.55
3.6 von 5 (13 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Lügen über meine Mutter"

Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:448
EAN:9783462001990

Rezensionen zu "Lügen über meine Mutter"

  1. Muttertag

    „Lügen über meine Mutter“, so heißt der Roman von Daniela Dröscher, hat einen nicht sehr passenden Titel. Eigentlich müsste es „Lügen über meine Eltern“ heißen, aber auch dies trifft es letztlich nicht, denn „Lügen“ gibt es in diesem autofiktionalen Roman eigentlich nur wenige. Vielmehr handelt es sich um die Beschreibung eines Familienlebens in den 80er Jahren aus der Perspektive des Kindes Ela, geboren 1977, die, limitiert durch ihren kindlichen Erfahrungshorizont, eine unzuverlässige und parteiische Erzählerin erster Güte ist. Denn Elas Anliegen ist sehr klar: uneingeschränkte Sympathielenkung zugunsten der hart arbeitenden, pflichterfüllten und vom Vater sehr ungerecht behandelten und stetig bezüglich ihres Gewichts drangsalierten Mutter. Auch wenn Ela immer wieder kurzzeitig um Verständnis für den Vater wirbt und Momente der Zuneigung und auch der Anbetung für ihn durch ihre kindlichen Emotionen flackern, wird dem Leser schnell klar, was er denken soll: der Vater ist eine naive und egoistische Zumutung, ein Versager, dem die Fassade wichtig ist, ein Mann, der über seine Verhältnisse lebt und keine nennenswerten Erfolge verbuchen kann – so zumindest die Zusammenfassung, die sich aus Elas Bericht ergibt. Die Mutter hingegen ist eine aufopferungsvolle Heldin, fast eine Heilige, die sich nicht nur um die eigenen Kinder, sondern auch noch um ein Pflegekind liebevoll kümmert, die an Demenz erkrankte Mutter ohne fremde Hilfe pflegt, arbeiten geht, kreativ zusätzliche Verdienstmöglichkeiten auftut, sich fortbildet und alle Anfeindungen des Vaters und der Schwiegermutter mit stoischer Würde erträgt. Wäre der Roman nicht aus der unzuverlässigen Perspektive eines Grundschulkinds erzählt, dann könnte er glatt als Heiligenbiographie gelten, so wird er zur Hommage an die Mutter, eine ausgedehnte Liebeserklärung, die sich auch gut als extensive Muttertagskarte machen würde.

    In seiner Darstellung zielt der Roman, ähnlich wie Mareike Fallwickels „Die Wut, die bleibt“, auf die Emotion der Leser ab. Man soll ärgerlich, sprachlos und fassungslos werden und sich fragen, wie so ein Familiensystem funktionieren kann. Aber genau da liegt auch die Crux. Das Familiensystem in den 80ern war noch ein völlig anderes (und die Mutter von Ela ist schon ziemlich fortschrittlich: immerhin arbeitet sie, hat eigenes Geld, will mit ihrem Chef auf Dienstreise nach Marokko etc.) und ist nicht mit dem heutigen zu vergleichen, sodass sich mein Entsetzen tatsächlich sehr in Grenzen hält. Darüber hinaus entscheidet sich die Mutter für dieses Leben. Die psychologisch inspirierten eingeschobenen Passagen der erwachsenen Ela, die das damalige Geschehen einordnen und kommentieren, legen nahe, dass die Mutter all dies wegen ihrer Kinder so lange mitgemacht hat – also noch ein Bonussteinchen auf der Punktekarte im Bereich Aufopferung. Zu guter Letzt kommt man nicht umhin anzumerken, dass der Vater überhaupt keine tiefergehende Betrachtung erfährt. Die bereits genannte Sympathielenkung ist haarsträubend einseitig – aber natürlich funktioniert sie wie gewünscht.

    Ebenso wie der Roman an sich, denn er ist gut und schnell lesbar und wartet mit sehr viel 80er Jahre Zeitgeist auf, verpackt in Bazooka, Luzie, der Schrecken der Straße, Stufenröcken, Boris Becker und Tschernobyl. All das war für mich ein äußerst unterhaltsamer Nostalgietrip, fast alles habe ich genau wie Ela erlebt und wahrgenommen, daher habe ich diesen Roman tatsächlich auch sehr gern gelesen. Ich wurde vollkommen in meinen Kindheitserinnerungen abgeholt, Elas Empfindungen sind in dieser Hinsicht sehr authentisch. Störend waren allerdings die zahlreichen Fehler, vor allem grammatikalischer Art. Es ist mir schleierhaft, wie ein Text, der so schlampig (so muss man es leider nennen) korrigiert wurde, es in den Druck schafft. Insgesamt für mich aber trotz der platten Sympahtielenkung ein durchaus gelungener Lesetrip in die 80er.

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  1. Wen interessiert's?

    Mit "Lügen über meine Mutter" hat Daniela Dröscher es auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Es handelt sich um die Verarbeitung der eigenen Familiengeschichte, in der alles sich um das Körpergewicht der Mutter drehte. Doch wen interessiert's?

    Zugegeben, in unserer heutigen Gesellschaft kommt Schönheitsidealen eine große Bedeutung zu. Viele Mädchen und Frauen verfallen dem Schlankheitswahn und werden magersüchtig, oder sie helfen mit Schönheits-OPs nach, bis ihr Körper den geltenden Schönheitsidealen gerecht wird. Jungs und Männer hingegen betreiben übermäßig FItness, um ihren Körper zu trimmen. Jede Zeit hat ihre spezifischen Schönheitsideale, also Vorstellungen darüber, was in einer gegebenen Kultur zu einer gegebenen Zeit als schön gilt. Das Schönheitsideal, das Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam, steht im engen Zusammenhang mit dem Körpergewicht. Während dieses Ideal sich auch im Zuge der Globalisierung einerseits immer weiter ausbreitet,  gibt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerade in den USA und Europa so viele übergewichtige Personen wie noch nie zuvor. Insofern kann man dem Roman mit dem Fokus auf das Schicksal einer "Dicken" durchaus eine gewisse Aktualität zusprechen. Doch worum geht es genau? 

    Die 6jährige Ella wächst Mitte der 80er Jahre in einem kleinen in Rheinland Pfalz gelegenen Dorf im Hause ihrer Großeltern väterlicherseits auf: Dort lebt sie gemeinsam mit ihren Eltern. Während der Vater in einem Ingenieursbüro arbeitet, chronisch unzufrieden ist und unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, ist die Mutter als Fremdsprachenkorrespondentin tätig und motiviert, sich weiter in der Karriereleiter nach oben zu arbeiten. Allerdings gibt es ein penetrant wiederkehrendes Thema innerhalb der Familie: das Gewicht der Mutter. Vater hakt permanent darauf herum und treibt seine Frau damit von einer Diät zur nächsten. Erfolgen folgen bald Rückschläge, die sich in einer weiteren Gewichtszunahme niederschlagen. Begünstigt wird dies zudem durch Belastungen und Sorgen der Mutter: wie für Geschlechter- und Rollenzuweisungen in den 80er Jahren üblich, kümmert sie sich um Kind, Pflegekind und die pflegebedürftige Großmutter Ellas. Als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, ist sie gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. Die Situation spitzt sich zu...

    Anfangs habe ich das Buch noch mit einem gewissen Interesse gelesen. Die Unterdrückung der Mutter durch ihren Mann wird eindrücklich beschrieben. Mit ihrem Dicksein ist die Mutter ihrem Mann ein Dorn im Auge, sie verstößt gegen Schönheitsideale. Diese vom Vater ausgeübte Diktatur und Kontrolle des weiblichen Körpers wird ebenfalls gut ausgearbeitet und beinhaltet ein gehöriges Maß an Gesellschaftskritik. Im weiteren Verlauf verlor ich jedoch komplett das Interesse am Buch. Weder konnte die Autorin mich mit ihren schwarz weiß gezeichneten Bildern und Rollenzuschreibungen - hier der böse, unterdrückende Mann, da die sich aufopfernde Mutter - erreichen, geschweige denn eine Empörung bewirken. Ich ärgerte mich vielmehr über diese doch sehr simplen und einseitgen Charakterzeichnungen inklusive Schuldzuweisungen. Dazwischen, wie leider allzu oft, hin und her gerissen zwischen den Eltern die kleine Ella, die aus ihrer kindlichen Perspektive heraus versucht, zu begreifen. Aus ihrer Perspektive lesen wir die Geschichte. Ergänzt wird dies durch Einschübe der erwachsenen Ella, die oberlehrerhaft daherkommen und sachlich nicht immer korrekt sind. Statt einer Wut auf den Vater, der zunehmend alle Grenzen überschreitet und droht die Familie auch in den finanziellen Ruin zu treiben, entwickelte ich eher ein tiefes Unverständnis dafür, warum die Autorin uns Ihr Klagelied präsentiert. Denn für die 80er Jahre hätte die Thematik des Romans interessant sein können, heute jedoch nicht mehr, denke ich. Zudem wunderte ich mich auch darüber, dass dieses sehr einseitige Buch es tatsächlich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte, aber nun gut, das ist widerum nicht der Autorin und ihrem Werk anzukreiden. 

    Zurück zum Werk selbst. Mir hätte das Buch wesentlich besser gefallen, wenn es beispielsweise stärker auf die normative Vorstellung und Dominanz von Schönheitsvorstellungen fokussiert hätte, mit den entsprechenden Folgen für Personen, die diesen nicht genügen. Leider ist dies aber offenbar nicht die Intention der Autorin, die vielmehr eine familieninterne Abrechnung zu starten scheint. Und hier bin ich raus. Das interessiert nich überhaupt nicht und ich mag so etwas nicht lesen. Dann lieber ein couragierter Beitrag über unter vorgehaltener Hand formulierte Beleidigungen, wie den von Marius Müller-Westernhagen vor über 40 Jahren mit seinem Skandal-Song über Dicke. Darüber kann man sich dann wenigstens streiten. 

    Anmerken möchte ich auch noch, dass ich Kennzeichnungen der Teile in Verbindungen mit besonderen Ereignissen und bestimmten Vögeln des Jahres überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Was die angeführten Ereignisse betrifft, könnte man sich noch vorstellen, dass hier möglicherweise mit der Kritik an Gender- und Rollenzuschreibungen die Rückständigkeit Deutschlands im internationalen Maßstab angesprochen werden soll. Dies wird aber nirgens herausgearbeitet. Die Bedeutung der Vögel des Jahres erschloss sich mir nicht ansatzweise. 

    Insgesamt muss ich leider ein sehr ernüchterndes Fazit ziehen: Meiner Meinung nach war das nichts. Erstaunt nehme ich die vielen hohen Bewertungen zur Kenntnis. Möge die geneigte Leserschaft sich, wie immer, ein eigenes Bild machen.

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  1. Das Buch macht mich so wütend.

    Zum Einen bringt es Erinnerungen zurück: Ich war ein dickes Kind, später ein dünner Teenager, dann eine normalgewichtige Frau, dann fettleibig, inzwischen nur noch ‘normal’ übergewichtig, so dass ich in ‘normalen’ Läden einkaufen kann. Zu meinen frühsten Erinnerungen gehört es, Menschen flüstern zu hören über meinen »fetten Arsch, und das in dem Alter«. Fast mein ganzes Leben habe ich mit meinem Gewicht gekämpft, habe verschiedene Diäten ausprobiert, Weight Watchers, Intermittent Fasting etc. Wäre doch ganz einfach, wurde mir gesagt, FDH, friss die Hälfte. Jedes Pfund geht durch den Mund. Viele Menschen haben es sicher nur gut gemeint, aber ich habe meinen Selbstwert immer in Verbindung mit meinem Gewicht gesehen, untrennbar verbunden. Wofür wurde ich vielleicht am häufigsten gelobt? Für Gewichtsverlust. Gut siehst du aus, wie viel hast du abgenommen?

    Daniela Dröscher schreibt über Themen, die in den letzten Jahren viel diskutiert wurden: Body Shaming. Übergewicht und die damit verbundene gesellschaftliche Ächtung. Übergewicht und die seelischen Ursachen. Und das ist nicht nur topaktuell, sondern auch wichtig. Es geht hier um nicht weniger als das Recht eines Menschen, über den eigenen Körper zu bestimmen – ohne von allen Seiten dafür beurteilt, verurteilt zu werden.

    Alles, ALLES ist in diesem Roman die Schuld der Mutter. Immer. Der Vater lässt keine Gelegenheit aus, seine Frustrationen auf sie zu projizieren, seine tief verwurzelten versteckten Minderwertigkeitsgefühle. Genauer sagt: Alles, was schiefgeht in seinem Leben, ist Schuld ihres Gewichts. Ja. Er wird nicht befördert, weil sie dick ist, das macht Sinn. In seinem Kopf. Ich habe beim Lesen oft geradezu geschäumt. Die Mutter arbeitet sich kaputt, aber wer dick ist, muss ja auch faul sein. Die Mutter hat gravierende gesundheitliche Probleme, unerträgliche Schmerzen, aber das muss ja wohl an ihrer Fettleibigkeit liegen. Ihr Mann kauft sich mal eben so ein teures Auto, aber SIE gibt zu viel Geld aus.

    Das ist Psychoterror vom Feinsten – du kannst als Leser:in nur erahnen, dass dahinter eine tiefverwurzelte Angst des Vaters steckt, im Klassenkampf nicht gewinnen zu können. Die Autorin zeigt ihn nicht als Monster, sondern als verwundeten Menschen.

    Immer wieder klingt an: In dieser Familie sind im Grunde alle unglücklich, die Kommunikation ist gewaltsam, die Anforderungen ungerecht. Der Vater, der gefangen ist in einem beschämten Klassendenken, seinem Sehnen nach sozialem Aufstieg, reicht sein Unglück weiter an die Mutter. Die reicht es weiter an die Tochter, indem sie dem kleinen Mädchen aus purer Überforderung zu viel aufhalst. Und die hat schon in sehr jungen Jahren das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper verinnerlicht.

    Die Mutter ist eine starke, kluge, warmherzige Frau, aber ich wünschte, sie hätte sich im Verlauf der Geschichte stärker emanzipiert, hätte die durchaus vorhandenen Chancen, aus einer toxischen Ehe auszubrechen, genutzt. Es ist eine Leidensgeschichte, eine Opfergeschichte, die Mutter wird über lange Passagen auch literarisch schon wieder ein Stück weit auf ihr Gewicht reduziert – aber das Buch ist ja autofiktional, und so sind die Dinge nun mal gelaufen. Schwierig, das zu vermeiden in diesem Spagat zwischen persönlicher Familiengeschichte und Literatur. Und es ist leicht, als Leser:in zu sagen: Also, spätestens dann hätte ich mir ja meine Kinder gepackt und wäre gegangen. Aber so einfach ist das nicht, war es in den 80ern noch weniger.

    Mir gefiel “Lügen über meine Mutter”, das auf jeden Fall. Es ist intelligent geschrieben, durchleuchtet die familiären und gesellschaftlichen Strukturen mit wachem Blick und einer Prise Humor. Das löste ein wahres Gedankenkarussel in mir aus – was will man mehr von einem Roman.

    Aber. Aber einen kleinen Kritikpunkt habe ich dann doch.

    Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr hätte ich mir eine Straffung des Romans gewünscht. Vieles wiederholt sich auf den 448 Seiten, ohne dass sich dadurch neue Perspektiven eröffnen würden; das Buch prangert den Status Quo an, ohne den Käfig der Autofiktion meines Empfindens je wirklich aufzubrechen.

    Anderseits. Anderseits unterstreicht das, wie rettungslos gefangen sich die Mutter fühlt, weil die Gesellschaft ihr sagt: Das ist deine eigene Schuld. Reiß dich am Riemen. Diese Ehe wird funktionieren, wenn du funktionierst. Als Mutter, als Ehefrau, als Prestigeobjekt. Du musst zurechtkommen mit den Kindern, dem Haushalt, dem Pflegen der dementen Mutter. Und zwar alleine. Da schrammt das Buch oft haarscharf an einer Glorifizierung ihrer Leidensfähigkeit vorbei.

    Fazit:

    Daniela Dröscher schreibt über ihre Kindheit in den 80ern. Die Plattentektonik ihrer Famile wird scheinbar bestimmt vom Übergewicht der Mutter; die Eltern bewegen sich aufeinander zu, voneinander weg, bis es mal wieder zum Erdbeben kommt: Du bist schuld, sagt der Vater. Wegen dir, weil du nicht vorzeigbar bist, werde ich nicht befördert, nicht anerkannt. Mein Gott, hast du etwa schon wieder zugenommen? Du bist faul. Du hast keinen Elan. Du hast keine Selbstkontrolle.

    Dass die Mutter sich halb zu Tode arbeitet, sieht er gar nicht. Zu gefangen ist er in seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen, zu sehr steht und fällt sein Selbstwert mit seinem gesellschaftlichen Status, den er wiederum untrennbar mit dem Gewicht der Mutter verbindet. Absurd, lachhaft, tragisch. Tragisch für alle Beteiligten. Du ahnst: Wäre es nicht das Gewicht, denn würde der Vater ein anderes Totschlagkriterium finden, um das eigene Scheitern auf die Mutter abzuwälzen.

    Der Roman bediente bei mir alle emotionalen Tasten, aber es war vor allem die Wut, die immer wieder aufschäumte ob dieser Ungerechtigkeit, ob dieser Übergriffigkeit. Und damit hat das Buch meines Erachtens schon viel erreicht. Es führt dir glasklar vor Augen, warum der Wert eines Menschen nicht davon bestimmt werden darf, wie gut oder schlecht sich sein Körper ins vorherrschende Schönheitsideal fügt, warum das auch Teil des patriarschalichen Instrumentariums ist.

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    24. Sep 2022 

    Willkommen im Patriarchat...

    Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag. »Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? (Klappentext)

    Vier Jahre lang (1993-1987) begleitet der/die Hörer:in die zu Beginn sechsjährige Ela in ihrem Familienleben - denn dass es sich bei der Ich-Erzählerin um das kindliche Alter Ego der Autorin handeln dürfte, daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Vater-Mutter-Kind, eine klassische Familie also, Ort des Geschehens ist ein kleines Dorf im Hunsrück.

    Doch von Familienidyll kann keine Rede sein. Die Mutter hat sich von Anfang an in alles fügen müssen. Nach der Hochzeit musste sie in das Haus der Schwiegereltern ziehen, und v.a. die Schwiegermutter macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Die Mutter (beide Etlern bleiben namenlos) erhält nur dann die Unterstützung ihrer Schwiegermutter, wenn sie sich wie erwünscht verhält und keine eigenmächtigen Entscheidungen trifft. Eine Zwickmühle, aus der die Mutter häufig als Verliererin herausgeht. Durch ihren Ehemann erfährt sie allerdings auch keine Unterstützung, denn als daheimgebliebener Prinz der Schwiegermutter stellt er deren Verhalten kein bisschen in Frage.

    Doch immerhin hat die Mutter einen Beruf, dem sie gerne nachgeht, und dort ist sie auch anerkannt. Sie verdient sogar mehr als ihr Mann, was diesem sichtlich ein Dorn im Auge ist. Eine weitere Schwangerschaft macht allerdings alle Zukunftspläne der Mutter zunichte, und schlussendlich ist sie vollkommen an Haus und Familie gebunden. Der Vater dagegen nimmt sich ganz selbstverständlich alle Freiheiten heraus. Er bestimmt, welches Auto gekauft wird, er legt fest, wer mit in den Urlaub fährt und wer nicht (die Mutter nicht, weil sie zu dick geworden ist), er ist aktiv im Vereinsleben und angedeutet möglicherweise auch in Liebschaften. Und die Mutter erduldet.

    Dass die Mutter dabei eigentlich eine starke Frau ist, erkennt Ela in verschiedenen Situationen. So setzt sie beispielsweise ein Fremdsprachenstudium durch, weil sie sich weiterbilden will - und trotzt dabei sämtlichen Widerständen von Seiten ihres Mannes und der Schwiegermutter. Auch lässt sie es sich nicht nehmen, sich um das Nachbarskind zu kümmern, das zwischenzeitlich sogar bei ihnen wohnt - auch das gegen heftige Widerstände. Und doch lässt sie sich im Alltag viel vorschreiben und sich demütigen.

    Das Gewicht. Ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht und an Dimension gewinnt, je dicker die Mutter wird. Appelle, Befehle, gehässige Bemerkungen vor den Ohren des Kindes, Drangsalierungen wie das Sich-Wiegen vor den Augen des Mannes - nichts lässt der Vater aus. Er macht das Gewicht seiner Frau für seinen eigenen beruflichen Nicht-Erfolg verantwortlich - er kann sich mit ihr auf keiner Weihnachtsfeier sehen lassen, einfach nur peinlich. Selbst offenbar mit großen Minderwertigkeitskomplexen und dem zwanghaften Bestreben bloß nicht aufzufallen behaftet, zeigt er zu Hause keinerlei Hemmungen. Da markiert er gerne den starken Mann. Willkommen im Patriarchat...

    Was die Erzählung geschafft hat: sie hat mich empört und bedrückt. Zudem kamen Erinnerungen an die eigenen Kindheit hoch, und manche der Szenen konnte ich mir so mehr als bildhaft vorstellen. Eine doppelte Empörung also. Und auch wenn ich älter bin als die Autorin - ich glaube ungesehen, dass es diese Familienstrukturen in einem kleinen spießbürgerlichen Dorf im Hunsrück auch in den 80er Jahren noch gab. Was also ist mein Problem mit dem Roman? Das sind kurz gefasst zweierlei Aspekte.

    Das eine sind die in den Text eingeschobenen essayistischen Erklärungen der Autorin aus Erwachsenensicht, um dem Verhalten ihrer Eltern mögliche Erklärungsansätze zu unterlegen. Diese wirkten auf mich allerdings zum einen oft platt und eher übergestülpt, gerade im Hinblick auf den Vater zum anderen aber auch zuweilen fast wie eine Entschuldigung. Und das habe ich nur schlecht ertragen.

    Und so sehr ich mich über das Verhalten des Vaters empören konnte, so fassungslos war ich zunehmend auch über das Verhalten der Mutter. Da gibt es keine Weiterentwicklung, sie verharrt in dem Familiensystem und lässt alles über sich ergehen, auch wenn sie sichtlich leidet. Und das Kind (später die Kinder) genau zwischen den Stühlen, oftmals instrumentalisiert von einer der beiden Parteien. Gerade dass die Mutter nicht ausbricht aus dem System, vor allem nachdem sie eine größere Erbschaft gemacht hat, die in erster Linie ihr Mann dann selbstherrlich verprasst, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Selbst als erzkatholische gebürtige Schlesierin (im Dorf: die Polin) waren die 80er Jahre doch wohl modern genug um sagen zu können: es reicht. Zumal die Mutter dem Dorfleben nie wirklich etwas abgewinnen konnte.

    Durch das Verharren im Familiensystem machte es mir die Mutter dann etwa ab der Hälfte des Romans auch schwer, mich weiterhin zu empören und betroffen zu sein. Da wäre ich gerne empahtischer gewesen, aber die stetige Wiederholung ähnlich gelagerter Szenen hat seinerzeit sicher das Trauma der Kindheit von Daniela Dröscher vertieft, ermüdete mich beim Hören aber leider zunehmend. Als autobiografischer Ansatz kann das kaum verurteilt werden, denn wenn die Kindheit der Autorin so war, war sie eben so. Aber ich persönlich hatte mir hier eben einen stärkeren feministisch-emanzipatorischeren Ansatz erhofft. Vor allem, weil der Klappentext verspricht: "Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen." Da kann ich nur sagen: Njeinaja.

    Das Buch mit der "literarischen Mikrosoziologie aus der Kinderperspektive" ist nun nicht nur auf der Longlist des diesjährigen Buchpreises gelandet, sondern steht sogar auch auf der Shortlist. Es sei Daniela Dröscher gegönnt, allerdings ist der Schreibstil nicht hochliterarisch, sondern sehr leichtgängig zu lesen. Es muss also am Thema liegen oder an der außergewöhnlichen Perspektive? Wer weiß...

    11 Stunden und 40 Minuten dauert die ungekürzte Hörbuchfassung, angenehm gelesen von Sandra Voss.

    EIn Buch der Empörung, das vom autobiografischen Anteil her sicherlich Sinn ergibt, das aber in meinen Augen eine klare Botschaft vermissen lässt.

    © Parden

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  1. Sichtbarkeit in einer auf Unsichtbarkeit angelegten Welt

    Das Dorf Obach im Hunsrück der 1980er-Jahre: Ländlich und familiär, so erscheinen die persönlichen Verhältnisse der Grundschülerin Ela auf den ersten Blick. Doch hinter den Mauern des elterlichen Hauses herrscht Psychoterror. Ihre Mutter ist zu dick. Das behauptet zumindest ihr Vater - und lässt keine Gelegenheit aus, um seine Frau wegen ihres Gewichts zu beleidigen, zu erpressen und auf andere Weise zu beschämen.

    „Lügen über meine Mutter“ ist ein Roman von Daniela Dröscher.

    Meine Meinung:
    In vier Teile ist der Roman aufgebaut, die jeweils ein Jahr umfassen und in verschiedene Kapitel untergliedert sind. Die Haupthandlung spielt in den Jahren 1983 bis 1986. Darüber hinaus gibt es zwischen einzelnen Kapiteln Einschübe aus der Gegenwart, die die erzählten Episoden aus erwachsener Sicht einordnen und analysieren.

    Der Schreibstil ist insgesamt unauffällig und unspektakulär. Die dialektalen Einstreuungen und phrasenhaften Formulierungen im Vergangenheitsstrang passen jedoch gut zur Geschichte. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Ela.

    Die Charaktere habe ich als vielschichtig und menschlich empfunden. Der Autorin gelingt es sehr gut, Widersprüchlichkeiten und Schwächen herauszuarbeiten, sodass ihre Figuren ambivalent und mit vielen Grautönen daherkommen, obwohl die Sympathien dennoch klar verteilt sind.

    Auch inhaltlich ist der Roman durchaus facettenreich. Zwar steht das Bodyshaming beziehungsweise Fatshaming im Vordergrund. Die Geschichte zeigt auf, wie das Gewicht der Mutter ständig im Fokus der Kritik steht und welche psychischen Folgen erzwungene Diäten und verbale Attacken auf Dauer haben. Außerdem hat der Roman einen feministischen Ansatz. Er beleuchtet patriarchale Strukturen und deren Konsequenzen wie finanzielle Abhängigkeiten. Zudem werden weitere Aspekte wie Rassismus, Krankheit und einiges mehr thematisiert, was die Geschichte ein wenig überfrachtet. Nach eigenen Angaben der Autorin ist der Roman autobiografisch motiviert. Deshalb ist es schwierig, die Authentizität zu bewerten und den Wahrheitsgehalt abzuschätzen.

    Trotz der mehr als 400 Seiten und mehrerer inhaltlicher Wiederholungen habe ich den Roman lediglich an sehr wenigen Stellen als langatmig empfunden. Nur das zwar überraschende, aber etwas märchenhafte Ende hat mich nicht ganz überzeugt. Auch nach den letzten Kapiteln bleiben ein paar Fragen bewusst offen.

    Der Titel ist mehrdeutiger als gedacht und lässt auch nach dem Ende der Lektüre Raum für eigene Interpretationen. Das abstrakte Cover sagt mir dagegen weniger zu, zumal ich die Farbwahl thematisch unpassend finde.

    Mein Fazit:
    Preisverdächtig ist der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher für mich zwar nicht. Dennoch konnte mich die autobiografisch inspirierte Geschichte gut unterhalten.

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    18. Sep 2022 

    ein Empörungsbuch

    Nähme man den Titel des Romans „Lügen über meine Mutter“ für bare Münze, müssten sich bei Daniela Dröscher, Autorin dieses Buches, die Balken biegen, was sie aber nicht tun. Denn tatsächlich lässt sich kaum bewerten, was in diesem Buch wahr oder gelogen ist.
    Daniela Dröscher erzählt von ihrer Kindheit und den Personen, die ihr in dieser Zeit wichtig waren, vorausgesetzt, dass dieser Roman autobiografisch ist. Der Verdacht liegt aber nahe. Denn Ich-erzählende Protagonistin dieses Romans ist Ela (Daniela?). In ihren Kindheitserinnerungen beschränkt sie sich auf die 80er Jahre. Zu Beginn des Romans, 1983, ist Ela 7 Jahre alt, lebt mit ihren Eltern in Obach, einem Dorf im Hunsrück, zusammen mit Elas Großeltern väterlicherseits. In Obach regiert das Spießbürgertum. Die Zeit scheint in den 50er/60er Jahren stehengeblieben zu sein.
    Und wie sich das für das gute deutsche Spießbürgertum gehört, ist man misstrauisch gegenüber allem Neuen und Modernen, fast schon feindselig gegenüber allem Fremden.
    In diese „Idylle" gerät Elas Mutter – also diejenige, über die Lügen erzählt wird -, als sie nach der Heirat mit ihrem Mann, einem gebürtigen Obacher, aus der Großstadt hierhinzieht. In der Familienrangordnung bekleidet sie den letzten Platz. Die Schwiegermutter, ganz Obacherin, macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Schwiegertochter.
    Die Ehe von Elas Eltern ist eigentlich keine. Man wundert sich, wieso die beiden geheiratet haben, denn der Alltag ist ein ständiger Kampf zwischen den Eheleuten. Einer der Reibungspunkte, wenn nicht der Reibungspunkt, ist das Körpergewicht von Elas Mutter. Für den Ehemann ist sie zu dick, was er ihr auch in jeder sich bietenden Situation vorhält. Und man wundert sich, was Übergewicht alles verursachen kann - abgesehen von allgemein bekannten körperlichen Schäden und Erkrankungen. Ein Beispiel: die dicke Ehefrau trägt die Schuld an den beruflichen Misserfolgen des Ehemannes, da sie im Kreis der Arbeitskollegen und Vorgesetzten nicht vorzeigbar ist.
    Dies ist nur ein Beispiel von vielen, auf die man nur mit Kopfschütteln reagieren kann.
    Auf dieser Idiotie baut nun der Roman zu großen Teilen auf und definiert die Rolle von Elas Mutter in diesem Buch: Sie ist das leidende Opfer. Wir erleben eine Frau, die die Schuld an allem trägt, die permanentem Psychoterror ausgesetzt ist, ihre Familie aber nicht verlässt - vielleicht der Kinder wegen? (Ela bekommt noch eine Schwester.)
    Im permanenten Konflikt der Eltern sitzt Tochter Ela zwischen den Stühlen und wird von den streitenden Parteien für die jeweils eigene Sache instrumentalisiert.
    Dieser Roman schildert zwar das Familienleben in den 80er Jahren, ist aber erst Jahre später entstanden, wodurch sich eine zusätzliche Erzählebene ergibt.
    Ela ist mittlerweile erwachsen und schreibt diesen Roman mit dem Einverständnis ihrer Mutter und unter Wahrung der Privatsphäre der Familie, weswegen Elas Eltern nicht namentlich genannt werden.
    Die einzelnen Kapitel, welche die Geschichte aus der Sicht des Kindes Ela erzählen, werden von gedanklichen Einschüben einer erwachsenen Ela (Daniela Dröscher?) unterbrochen, die im Rückblick ihre Kinderjahre analysiert und versucht, die Handlungsweisen ihrer Eltern im Nachhinein zu verstehen.
    „Lügen über meine Mütter" ist ein Empörungsbuch. Und genau das ist mein Problem mit diesem Roman. Denn hier wird Empörung mit Spannung gleichgesetzt. Von Beginn an wird man mit den Zumutungen, Anfeindungen und Beleidigungen gegen Elas Mutter konfrontiert. Man kann nicht anders als sich zu empören. Doch irgendwann erreicht einen die seelische Tortur der Mutter nicht mehr. Denn dieses Übermaß ließ mich abstumpfen, zumal auch die von Daniela Dröscher dargestellten Handlungen und Reaktionen der Mutter zu Lasten der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte gehen.
    Warum hat nun Daniela Dröscher „Lügen über meine (ihre) Mütter" erzählt? Wobei es bei dieser Frage nicht um den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte geht, sondern um Frau Dröschers Motiv für einen derartigen Roman.
    Wenn es ihr darum ging, Literatur als Therapie zu nutzen, mag ihr das gelungen sein. Die Reaktionen der Leserschaft sollten sie dabei wenig interessieren, denn schließlich geht es um ihr persönliches Seelenheil.
    Wenn sie ein feministisches Motiv hatte und am Beispiel von Elas Mutter ein Frauenbild der 80er Jahre zeichnen wollte, ist ihr das leider nur im Ansatz gelungen. Denn leider sind zu viele Ungereimtheiten und offene Fragen in diesem Buch, die mich an dem, von Daniela Dröscher dargestellten Frauenbild zweifeln lassen.
    Irgendwo in diesem Buch bekennt sich Daniela Dröscher zu dem Motiv der Verarbeitung ihrer seelischen Probleme, die aus ihrer Kindheit resultieren. Ich will ihr das glauben. Natürlich ist es schwierig, einen autobiografisch gefärbten Roman zu kritisieren, stellt man doch dadurch den Autor und seine Vergangenheit auf den Prüfstand. Ich schätze aber, dass es nicht viel negative Kritik zu „Lügen über meine Mutter“ geben wird. Denn immerhin hat dieser Roman es in diesem Jahr bereits auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Mich konnte dieses Buch aber leider nicht für sich einnehmen.

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  1. Abarbeiten an der eigenen Kindheit

    Der Roman scheint starke autobiografische Züge zu haben. Die heute erwachsene Ich-Erzählerin Ela (geb. 1977) reflektiert ihre Kindheit in den 1980er Jahren. Ihr besonderer Fokus liegt auf der Beziehung ihrer Eltern. Ihre übergewichtige Mutter wird ständig vom Vater diesbezüglich gegängelt: Sie soll schuld sein, dass ihm beruflicher Aufstieg verwehrt bleibt und er keine soziale Anerkennung genießt. Er muss sich schämen, weil sie keine ansehnliche Figur abgibt. Die Konflikte um das Körpergewicht durchziehen die gesamte Kindheit Elas, die zwischen beiden Elternteilen steht und zwangsläufig von den Vorwürfen des Vaters beeinflusst wird.

    In vier Abschnitten werden die Jahre 1983 bis 1986 nacheinander behandelt. Beim Lesen fühlt man sich eigentlich in die 1960er Jahre zurückversetzt, so altmodisch wirkt das Umfeld. Die Familie lebt in einem kleinen Ort im Hunsrück im Haus der Großeltern väterlicherseits. Nicht nur der Vater bevormundet, auch die Schwiegermutter lässt aus unterschiedlichen Gründen kein gutes Haar an der Schwiegertochter, die ihr nichts rechtmachen kann. „Drei Dinge, sagt meine Mutter, hat sie bei ihrer Heirat unterschätzt: die Schwerkraft des Dorfes, die Bedürfnisse ihres Prinzen, den Neid der Schwiegermutter.“ (S. 28) Elas Mutter wird also heillos unterdrückt. Vieles wirkt dabei völlig unglaublich und überzogen. Sie muss sich um Haus und Kind kümmern, ist aber auch als Sekretärin in einer Lederfabrik berufstätig. Ihr Gehalt wird für den Familienunterhalt benötigt, ihre Leistung aber ständig marginalisiert. Doch Elas Mutter hat Biss: Sie resigniert nicht, sondern bildet sich weiter, lernt eine weitere Fremdsprache und verbessert ihre beruflichen Aussichten – denen leider eine erneute Schwangerschaft in die Quere kommt. Die Flügel werden gestutzt, die Mutter wird erneut auf Heim und Herd zurückgeworfen. Dieser frustrierende Ablauf wiederholt sich.

    Wir begleiten die Familie durch vier Jahre, in denen viel passiert und was sich wirklich flüssig lesen lässt. Die aus kindlicher Perspektive beobachteten Szenen lassen die Wut auf das Patriarchat brodeln. Die Beleidigungen, denen sich Elas Mutter ausgesetzt sieht, gehen unter die Haut und man staunt, wie die Frau das aushält. Immer wieder erkämpft sie sich eine Chance, sucht nach Lösungen, nach Weiterentwicklung und wird doch nur wieder zurückgeworfen, weil Gatte und Schwiegermutter ihr jegliche Hilfe versagen. Dieses Umfeld ist lieblos und entwürdigend. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass der Leibesumfang durch Frustessen und Trotz genährt wurde, richtig geklärt wird das nicht. Das Thema Gewicht nimmt großen Raum in der Familie ein. Ständig kommen Diätvorschläge, Sport- und Ernährungstipps sowie Kurangebote. Die Mutter leistet, wenn überhaupt, nur stillen Widerstand. Sie duldet. Man möchte sie schütteln. Man kann nicht nachvollziehen, dass eine solch vielseitig begabte Powerfrau nicht in der Lage sein soll, ihre persönlichen Rechte einzufordern und sich gegen den komplexbehafteten Gatten durchzusetzen.

    Die kindliche Sicht gibt freilich keine Antworten auf das Warum. Ela beobachtet nur. Daher hat sich die Schriftstellerin den Kunstgriff erlaubt, die einzelnen Kapitel um Reflexionen, Hintergründe, Gespräche mit der Mutter oder allgemeine essayistisch gehaltene Erklärungen zu ergänzen. Diese Einschübe habe ich anfangs als Bereicherung empfunden, weil sie den Blick um die erwachsene Perspektive erweitern. Nach und nach erhalten diese Ergänzungen aber weit hergeholte, belehrende Nuancen, wenn z.B. über patriotische Beschützerinstinkte, slawische Untermenschen, Parentifizierung, Protestmännlichkeit oder Care-Revolution schwadroniert wird.
    Der Roman als solcher liest sich leicht. Die Sprache ist wenig anspruchsvoll. Es werden zahlreiche Redewendungen und Bezüge auf Filme, Musik, Sportidole oder gesellschaftliche Trends der 1980er Jahre im Text untergebracht. Dieses Zeitkolorit erzeugt Wiedererkennungseffekte, wirkt jedoch teilweise auch gewollt. Während ich die erste Hälfte des Romans fast atemlos mit großem inneren Aufruhr gelesen habe, nutzt sich das erlittene Unrecht und die Opferbereitschaft der Mutter in meinen Augen zunehmend ab. Es wird immer wieder dasselbe Muster vorgeführt: der Vater bestimmt uneingeschränkt, was getan wird. Er diskriminiert latent auf Basis ihres Übergewichts seine Frau, während die Mutter die Opferrolle annimmt und die sich ihr bietenden Gelegenheiten auf ein selbstbestimmtes Leben ausschlägt. Das mag so gewesen sein, wirkt aber vor dem zeitlichen Hintergrund nicht besonders glaubwürdig. Eine Scheidung wäre in den 1980ern keine furchtbare Stigmatisierung mehr gewesen. Elas Mutter hätte die Freiheit gehabt zu gehen, spätestens als eine Erbschaft ihr finanzielle Freiheit ermöglichte.

    Es fällt nicht leicht, diesen Roman eindeutig zu bewerten. Wäre er reine Fiktion, würde ich mich an der strengen Typisierung der Figuren stören, an der Übertreibung, an der Wiederholung derselben Rollenmuster. Doch die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass sich die geschilderten Episoden genau so zugetragen haben sollen. Sie mag eine kindlich unzuverlässige Erzählerin sein, hat die Geschichte aber zumindest mit ihrer Mutter abgeglichen. Die Beweggründe des Vaters bleiben leider weitgehend im Dunklen und basieren auf Vermutungen.

    Autobiografische Romane liegen im Trend. Das feministische Ansinnen hier ist klar erkennbar und wird um das Thema „Bodyshaming“ erweitert. Ich halte dem Roman seine wichtige, leider immer noch zeitlose Grundthematik zu Gute. Dieser Ort im Hunsrück wirkt seltsam aus der Zeit gefallen, die Handlung wirkt deshalb nicht durchgehend authentisch. Ich reibe mich an der Duldungsbereitschaft dieser Mutter. Welches Vorbild für partnerschaftliches Zusammenleben hat sie ihren beiden Töchtern mitgegeben?

    Daniela Dröscher scheint mit dem Schreiben dieses Buches ihre Ziele erreicht zu haben. Sie wollte Klarheit über ihre Kindheit und die „Lügen über ihre Mutter“ erhalten. Darüber hinaus hat sie die Nominierung auf die Longlist des DBP 2022 errungen. Ich empfehle diesen Roman nur eingeschränkt. Man sollte nicht alles hinterfragen wollen, sondern das Autobiografische als gegeben hinnehmen. Dann ist der Genuss wahrscheinlich größer.

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  1. Lügen nichts als Lügen

    In diesem Buch erzählt und verarbeitet die Autorin Daniela Dröscher ihre Kindheit und durchleuchtet dabei vorrangig die Sicht auf ihre Mutter.

    Ela wächst in den Achtzigerjahren in einem kleinen Dörfchen in der Pfalz auf. Schon früh bemerkt das Mädchen, dass der Vater sehr auf das Aussehen der Mutter bedacht ist. Ihr Gewicht scheint er mit seinem Erfolg gleichzusetzen. Er möchte sich bei der Weihnachtsfeier für sie nicht schämen müssen, hat Angst aus solchen Gründen selbst in einem schlechten Licht dazustehen, ja sogar weniger Chancen auf die heiß ersehnte Beförderung zu haben. Groß ist so natürlich der Druck auf die Mutter, die zu Beginn der Erzählung sogar nur leichtes Übergewicht zu haben scheint.
    Natürlich macht es auch etwas mit der achtjährigen Ela, wenn sie erlebt wie die Mutter dem Vater nie etwas recht machen kann.
    Ansonsten wirkte die Mutter, die genau wie der Vater übrigens namenlos bleibt, recht durchsetzungsfähig auf mich. Sie stemmt den gesamten Haushalt, kümmert sich um das Nachbarskind, um das man sich dort nur wenig kümmert. Für Ela definitiv ein Gewinn, da sie kaum Freunde im Dorf hat. Die Eltern, vor allem der Vater, werden als was besseres angesehen, was es nicht leicht macht für ein Kind. In einem Dorf setzen die Menschen was das angeht noch andere Prioritäten., an wird schon wegen solcher Kleinigkeiten ausgegrenzt.

    Das Gewicht der Mutter steigt, ebenso wie der Unmut des Vaters, viele Geschichten bringen dies zum Ausdruck. Als dann ein Erbe einen großen Geldsegen bringt, driftet einiges ins unglaubhafte ab.

    Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, aber eben mit dieser Einschränkung. Ob wirklich alles genauso stattgefunden hat, wissen wir nicht, wir können uns dahingehend ja nur auf die kindlichen Eindrücke stützen. Fest steht aber, dass die Autorin anschaulich schildert was solche Vorwürfe auslösen. Hätte der Vater nicht immer und an allem etwas herumzumäkeln gehabt, hätte er vielleicht die Frau mit dem Gewicht bekommen, dass er sich vorgestellt hat. So setzte er sie einem enormen Druck aus, der großen Frust mit sich brachte. Lügen waren vorprogrammiert. Oder noch besser, seine Frau so nehmen wie sie ist! Doch dazu war er mit sich selbst zu unzufrieden, er hätte so seinen Frust nicht mehr weitergeben können.
    Für Ela tut es mir sehr leid. Ihre Mutter hätte ausbrechen können, wenn sie gewollt hätte, aber das sagt sich so leicht, wenn man nicht in der Haut des anderen steckt.
    Ich bin gespannt wo die Reise bezüglich des Buchpreises hingeht. Mir hat das Buch zwar gut gefallen, als Gewinner sehe ich es aber nicht.

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  1. Opferrolle Mutter.

    Kurzmeinung: Wird kontrovers diskutiert.

    Daniela Dröscher arbeitet in diesem Roman das Bild auf, dass sie aus kindlicher Sicht auf ihre Mutter hatte, die mit Gewichtsproblemen kämpfte, aber vor allem, eine unglückliche Ehe führte, denn der Vater lässt keine Gelegenheit aus, seine Frau zu demütigen, öffentlich fällt er ihr in den Rücken und privat ist er einfach ein unsensibler Kerl, der nicht weiß, wie man Partnerschaft buchstabiert.

    Der Kommentar:
    Über die Figurenzeichnung in diesem Roman kann man trefflich streiten. Wer sagt, sie seien platt und schablonenhaft, hat durchaus recht und wer sagt, sie seien konkret und fassbar hat ebenfalls recht, aber leider nur deshalb, weil fast jeder ein Bild von real existierenden, den Schablonen entsprechenden Personen vor Augen hat. Das ist die Schwäche und die Stärke dieses Romans. Er spielt mit Rollen, die wir alle kennen.

    Auf der Bühne stehen der dämonisierte Vater, empathielos, unsensibel, überheblich und voller Minderwertigkeitskomplexe, ihm gegenüber die Mutter, tatkräftig, aber geduckt, unterdrückt und jedes Mal mit Liebesentzug bestraft, wenn sie aufmuckt, eine fatalistische Figur, voller Demut und Hingabe.

    Die Thematik der Abwertung der weiblichen Figur und der Forderung ihrer Optimierung ist es wert, literarisch verarbeitet zu werden. Dicksein ist in unserer Gesellschaft verpönt und wird mit Missachtung der Person und mit Herabsetzung derselben bestraft. Aber passiert dies in Dröschers Roman?

    Nein. Nicht wirklich. Der Roman bleibt privat. Familie unter sich. Was der Leser in dem Roman „Lügen über meine Mutter“ bekommt, ist insofern eine reine Familienerzählung aus kindlicher Perspektive, die nicht ins Allgemeine führt und natürlicherweise keine präzisen Innenansichten anbieteten kann.

    Die erzählende Sicht eines achtjährigen Kindes eignet sich überdies nicht für tiefgreifende Reflexionen und ist naturgemäß eingeschränkt. Denn sind es wirklich die patriarchalischen Strukturen der 1980er, die der Ehefrau eine Partnerschaft auf Augenhöhe verweigern oder ist es nicht doch „nur“ der labile Charakter des aus dem Dorf kommenden Vaters, der in vollkommen unsinnigen Entscheidungen immer wieder durchschlägt und der seine beruflichen Niederlagen an seiner Frau abarbeitet. Und wenn ja, woher kommt es?

    Die Mutter ist taff, hübsch und tatkräftig, aber durch den geringschätzigen Blick des Ehemanns erstarrt wie die Maus vor der Schlange. Sie lässt sich von ihrem Würstchen von Ehemann alles verbieten, was Spaß macht. Diese umfassende Opferrolle der Mutter ist um so weniger glaubhaft als eine unerwartete Erbschaft ihr eigentlich alle finanziellen Möglichkeiten in die Hände spielt, ihrem emotionalen Gefängnis zu entkommen. Warum schafft sie es nicht?

    Vieles an dieser Erzählung wirkt unausgegoren. Die Autorin stellt der gewählten Kinderperspektive nach jedem Kapitel einen kurzen essayistischen Einschub gegenüber, nun aus nachgereichter Erwachsenensicht. Diese kurzen Blöcke wirken zuerst wie aufarbeitende Gespräche mit der Mutter. Zu Anfang sind sie persönlich und durchaus interessant, aber dann werden immer mehr platte feministische Parolen aufgefahren und eingearbeitet, die belehrend, langweilig und platt sind; keine davon ist neu.

    Fazit: Obwohl flott geschrieben, einen gewissen Lesesog kann man dem Roman nicht absprechen, allerdings mit ziemlich schlicht gehaltenem Stil versehen, von hochliterarisch kann keine Rede sein - bietet der Roman „Lügen über meine Mutter“ zwar ein gewisses Empörungspotential, - was lässt eine Frau alles mit sich machen – aber keine hinreichenden Erklärungen - warum lässt eine Frau alles mit sich machen.

    Die gesamtgesellschaftliche Einbindung betrachte ich als misslungen. Von mir gibt es daher leider keine Leseempfehlung für diesen Roman, der überraschenderweise auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gelangte.

    Kategorie: Gute Unterhaltung
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2022
    Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022

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  1. Geisteraustreibung

    Was sich im Rückentext noch wie ein Dickenbashing der 80er Jahre ausnimmt, entpuppt sich über eine Zeitspanne von 4 Jahren, in denen Ela von ihren Kindheitserinnerungen berichtet, zunehmend zu einem Ehedrama in einem kleinen rheinland-pfälzischem Dorf.
    Der Vater quittiert jeden seiner beruflichen Misserfolge mit der Behauptung, seine korpulente Frau sei nicht vorzeigbar und also schuld daran, ja, man müsste sich für sie schämen. Elas Mutter kämpft Diät um Diät um jedes Kilo. Doch sie hat wenig Rückhalt. Die Familie wohnt im Haus der Schwiegereltern, aber die Missgunst über die angeheiratete Pollacksfrau ist mit jeder Bemerkung zu spüren. Auch ihre eigenen Eltern haben wenig Kontakt zu ihr, da sie "unter ihrem Stand" geheiratet hat.

    Warum diese lieblose Ehe zustande gekommen ist, kann man nur erahnen. Von Schwangerschaftsabbrüchen und geplatzen Träumen ist die Rede und der Vater sieht schließlich dem bewunderten Arzt sehr ähnlich. Aber auch der Vater ist einem Flirt nicht abgeneigt, hat er sich doch nach einem anstrengenden Arbeitstag das gesellschaftliche Dorfleben beim Tanzabend, oder Tennisturnier ohne seine Frau verdient.

    Die Situation eskaliert, als die Mutter ungewollt mit einem Geschwisterchen schwanger wird, ihre Karriere an den Nagel hängt, aus Missgunst und Neid verklagt wird und schließlich ihre Mutter pflegen muss. Für das vernachlässigte Nachbarskind in Elas Alter ist sie zusätzlich da. Da verstirbt ihr Vater und sie wird beerbt. Was nun folgt ist eine Musterstudie in Geldverprassen. Ein Eigenheim wird gebaut, Autos gekauft, Urlaub gemacht. Die Mutter sitzt zuhause und kümmert sich, wie sehr, wird erst klar, als sie sich endlich die Freiheit nimmt und verschwindet. Die Quittungen liegen verstreut im Arbeitszimmer.

    All diese Ereignisse sollen sich in 4 Jahren, von 1983 bis 1986, abgespielt haben. Sie sind aus Elas kindlicher Sicht geschildert und passen auch zur bundesrepublikanischen Geschichte, einschließlich Weight Watschers, Bum-Bum-Boris und Tschernobyl. Eingeleitet und auch immer wieder als Unterbrechung im Text, sind Passagen von Gesprächen die Daniela Dröscher mit ihrer Mutter geführt hat, psychologische Einschübe, Textfragmente der Autorin und schließlich Fragen der Autorin, die sie sich jetzt, nachdem sie sich alles von der Seele geschrieben hat, endlich stellen kann. Es ist eine Geisteraustreibung. Es ist der Versuch, sich aus dem Denkmuster der patriarchalen Gesellschaft der 80er Jahre zu befreien, die Ketten der Unterordnung, der freiwilligen Carearbeit, dem Auftrag die Familie vollständig aufrechtzuerhalten, Demütigungen zu ertragen und die eigenen Werte kleinzureden und vor allem, alles was man hat, bedingungslos zu opfern. Der Lohn wäre Anerkennung und Respekt,.... wenn es denn nicht noch all die alten Strukturen gäbe, die eine Frau mit nicht perfektem Aussehen zu Fall bringen könnten.

    Ich las das Buch unter falschen Voraussetzungen, erwartete ich in der Hauptsache den Kampf um ein Idealbild der Frau. Doch geht dieser Roman weit über die Körperlichkeit hinaus und schneidet tief in die psychologische Selbstbehauptung einer Frau. Weder Bildung noch Geld hilft der Mutter aus der Falle und die Trennung entpuppt sich dann auch nur als weiterer Kompromiss, um den Schein vor der Dorfgemeinschaft zu wahren.

    Mit Spannung verfolgte ich die Unverschämtheiten des Vaters, der alles in allem, als verkorkster Home-Macho rüberkam. Fassunglos las ich von den Reaktionen des Umfeldes, insbesondere den Schwiegereltern und der Nachbarin. Die Rückschläge der Mutter machten mich traurig.

    Dieser Roman bringt alles mit, um sich ordentlich empören zu können. Deshalb konnte ich über Übertreibungen und lehrmeisterliche Einschübe hinwegsehen und meinen Frieden schließen mit dem schriftlichen Versuch einer Geisteraustreibung. Ich denke, dass das Buch ein Anstoß sein kann, um die eigene Erlebniswelt der damaligen Zeit in einem anderen, oder auch nur helleren Licht zu betrachten.

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  1. 2
    04. Sep 2022 

    Das falsche Narrativ

    Die 80er Jahre bilden die Kulisse dieses Romans. Wer diese Zeit kennt, wird sich zurückversetzt fühlen: Dallas, Boris Becker, Tennis als neuer Volkssport, Aerobics, Sonnenstudio und Trennkost-Diäten. Die Erzählerin ist die 6jährige Ela, die uns die familiären Ereignisse der Jahre von 1983 und 1986 aus ihrer Sicht schildert. Nach jedem Kapitel gibt es ein bis zwei Seiten aus der Sicht der erwachsenen Erzählerin – die könnte die Autorin sein. Hier erklärt sie, stellt ihrer Mutter Fragen, wendet soziologische Theorien auf ihre Familie an und philosophiert auf ziemlich flache Art. Der Mehrwert für den Roman hält sich in Grenzen.

    Das Feuilleton liest den Roman als eine Geschichte über Klassismus. Aus meiner Sicht geht es hier keineswegs um das Unbehagen des Aufsteigers in der ungewohnten Höhe. Sondern um übelste patriarchalische Gewalt, um Übergriffigkeit, Ausbeutung, Besitzdenken und Bodyshaming – ein Begriff, den es zu der Zeit noch nicht gab. Zu Beginn des Romans musste ich mich mehrmals rückversichern, dass die Geschichte Anfang der 80er Jahre spielt – ich wurde das Gefühl nicht los, mich in den 50ern zu befinden. Der Roman schien mir wie aus der Zeit gefallen.

    Sprachlich fand ich ihn eher mittelmäßig, manche Satzkonstrukte wirken unbeholfen. Die Autorin verwendet in ihrer Erzählung viele Phrasen der damaligen Sprache, in Kursivschrift abgehoben, bei denen sich manche/r sicher heute noch ertappt. „Das Herz schlug bis zum Hals. Ihm platzte der Kragen. Sie biss die Zähne zusammen. Rank und schlank. Zur Entlastung der Autorin gibt es auch hierzu ein Erklärkapitel – mich hat diese Sprache dennoch gestört.

    Was mich sehr bald irritiert hat, ist das völlige Fehlen von Ambivalenz der Figuren und ein Overkill an Übergriffen seitens des Vaters. Ich erspare mir eine Aufzählung der väterlichen Hasstaten und psychischen Sadismen, die mich auf den ersten 100 Seiten schier fassungslos gemacht haben. Das Einzige, was er auslässt, ist physische Gewalt. Von der Mutter erfolgt nur sporadisch Gegenwehr, im Gegenteil: Stetes Bemühen um das Wohlwollen des Ehemanns. Ihre zweite Schwangerschaft macht alle beruflichen Träume zunichte. Und ich bin noch irritierter: Dass das Sexualleben darniederliegt, wenn ein Paar nicht harmoniert, ist eine Binsenweisheit, wie also zum Teufel…?! Und immer so weiter, es hört nicht auf - eine Schändlichkeit folgt der anderen. Wir erleben die totale Ausbeutung durch unbezahlte Arbeit. Ab etwa der Mitte des Romans hatte ich keine Energie mehr, mich zu empören. Was hat um Himmels willen die Jury dazu bewogen, dieses Buch auf die Longlist 2022 zu setzen?

    Selbst oder gerade wenn wir es hier mit Fiktion, nicht mit Fakten, zu tun haben, stellt sich mir die Frage nach dem Ziel der Autorin. Mir ist das alles zu klischeehaft. Der Vater das exemplarische männliche A...loch. Die Mutter das exemplarische weibliche Opfer, das aber auch wirklich alles erdulden muss, selbstverständlich schön (als sie noch schlank war) und ständig bestrebt, zu "retten, pflegen, heilen, versorgen". Eine Personifizierung des unerreichbaren deutschen Mutterideals, der Selbstverlust ist darin einkalkuliert. Eine weitere Idealisierung erfolgt am Ende durch die Enthüllung der ultimativen guten Tat schlechthin. Das war mir endgültig zu viel; ich habe mich nur noch an den Kopf gefasst.

    Wird das irgendwann relativiert? Mitnichten. Am Ende die Huldigung des Opfermutes. „Meine Mutter kann stolz auf sich sein. […] sie hat ihr großes Herz nie verloren.“ Für die Autorin ist ihre Mutter „the heroine of my life“. Das ist auf der persönlichen Ebene sicherlich rührend und nachvollziehbar.

    Nur: Was sollen die jungen Frauen von heute mit dieser Geschichte, diesem Fazit anfangen? Wir sind einen langen, steinigen Weg gekommen, ja, das müssen sie wissen, damit sie verstehen, was es zu verlieren gibt. Aber jetzt brauchen wir Narrative, die mit dem falschen Heldinnentum aufräumen. Nicht solche, die es im Nachgang noch feiern.

    Von mir leider keine Leseempfehlung.

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  1. Ein aufwühlender Roman

    Die Autorin Daniela Dröscher setzt sich in diesem Buch mit ihrer Kindheit und der Ehe ihrer Eltern auseinander. Sie wächst in den achtziger Jahren in einem kleinen rheinland-pfälzischen Dort auf. Seit eh und je ist die Figur der Mutter das große Thema für den Vater. Er macht ihr Übergewicht verantwortlich dafür, dass bei ihm nicht alles so läuft, wie er sich das vorgestellt hat. Er zwingt seine Frau zu immer neuen Diäten, was zur Folge hat, dass sie nach kurzfristiger Abnahme umso mehr zunimmt. Ela steht zwischen den Fronten, soll Stellung beziehen und versteht doch nicht wirklich, was vorgeht.
    Auch als Leser fühlt man sich in diesem Kampf hineingezogen, fühlt sich berührt und abgestoßen und weiß nicht so recht, wo das alles hinführt. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des achtjährigen Mädchens Ela. Zwischendurch gibt es Einschübe, in denen die inzwischen erwachsene Ela das Geschehen reflektiert und versucht zu verstehen.
    Die Charaktere sind gut und glaubhaft dargestellt, so dass man sich in Ela hineinversetzen kann. Bei der Mutter fiel mir das Einfühlen oft schwer, denn ich habe nicht verstanden, dass sie das alles ertragen hat. Erst zum Ende hin erkannte ich, wie stark sie eigentlich war. Der Vater ist ein Versager, der seine Schwächen und Komplexe überdecken will, indem er andere herabsetzt und kleinmacht.
    Dieser Roman ist authentisch, fesselnd und sehr erschütternd.

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  1. 5
    08. Aug 2022 

    Berührend und bedrückend

    Im Buch erzählt die Autorin von ihrer Mutter, welche den Großteil des Haushalts schmiss und währenddessen fettfeindlichen Aussagen und psychischen Missbrauch des Vaters ausgesetzt war.

    Das Buch ist gut aufgebaut. Die Vergangenheit wird aus der Perspektive der kindlichen Autorin erzählt und ist zwischendurch von kurzen Kapiteln unterbrochen, welche Kontext aus der Gegenwart der Autorin liefern. Dadurch können die Ereignisse der Vergangenheit noch einmal durch ebenjene, teilweise im Dialog mit ihrer Mutter, reflektiert werden.
    Der Inhalt spricht viele Probleme an, welche in der Familie vorhanden waren. Dabei vor allem die Fettfeindlichkeit des Vaters und der daraus resultierende psychische Missbrauch sowie die Auswirkungen auf das Kind, die Autorin.
    Die Probleme waren so lebensecht beschrieben, dass sie mir teilweise so nahe gegangen sind, als wären es meine eigenen.
    Das unfassbare Drängen des Vaters auf den Gewichtsverlust und seine Schuldzuweisungen haben an Wahn gegrenzt und es war manchmal schwer zu lesen. Es war tragisch zu sehen, wie die nicht endende Kritik am Körper der Mutter auch bei der Autorin für Scham und Ängste gesorgt hat.

    Das Buch ist sehr berührend und bedrückend. Es behandelt sehr wichtige Themen und stellt diese so dar, dass man sie tief nachempfinden kann. Ich kann dieses Buch wirklich nur jedem empfehlen.

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