Liebe ist gewaltig: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Liebe ist gewaltig: Roman' von Claudia Schumacher
4.65
4.7 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Liebe ist gewaltig: Roman"

Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf: Die Eltern sind Rechtsanwälte, sie ist Klassenbeste. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater drillt die Kinder auf Leistung, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Realität von der Mutter vehement abgestritten wird. Einzig ihre Geschwister und eine Maus geben Halt. Doch wie kann man sich befreien, wenn man weder den Eltern noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Ein eindringlicher Roman über Verletzungen und eine mögliche Heilung, voller Originalität und Wärme.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
EAN:9783423290159

Rezensionen zu "Liebe ist gewaltig: Roman"

  1. Erschreckend schön

    Julis große Schwester Alex ist so sonderbar, dass man meinen könnte, sie sei noch im Krankenhaus vertauscht worden. Wenn der übliche Tumult zuhause losging hat sie sich hinter Buchdeckeln versteckt. Sie war die erste, die auszog. Juli selbst, ihre Brüder Max und Bruno haben sich allabendlich damit überschlagen, der oder die Beste zu sein, um Vater zu gefallen. Juli glänzte mit Schulnoten, Bruno mit Sport und Max, tja Max war zart und schön und zog oft den Kürzeren.

    Wer mal keine Höchstleistungen erbrachte, musste damit rechnen, vor dem Rest der Familie gedemütigt und beleidigt zu werden. S. 22

    Julis Vater war unantastbar der Allerbeste im Hause Ehre, er war immer noch so attraktiv, dass sich die jungen Frauen nach ihm umdrehten, wenn er in seinem Cabriolet saß. Als Jurist war er sehr angesehen weil man Intelligenz und Sinn für Gerechtigkeit voraussetzte. Julis Mutter, immer am Hungern, um Kleidergröße 34 zur Schau zu tragen. Julis Vater kontrollierte das Wiegen und nannte seine Frau bei der geringsten Gewichtszunahme “Fette Sau”.

    Der Vater prügelt Frau und Kinder mit einer Regelmäßigkeit, die alle in ständiger Alarmbereitschaft hält. Als Juli noch kleiner war, kroch sie jede Nacht zu ihrem großen Bruder Bruno ins Bett, bis sich Schultern und Kiefer entspannten und sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

    Mutter erfüllte Wünsche, wenn es uns traf, damit wir niemandem davon erzählten. Traf es sie, suchte sie Trost. Mama die Tatortreinigerin. S. 106

    Nachdem der Vater Bruno halbtot prügelt kann Juli kein Essen mehr bei sich behalten. Vaters Bruder schickt sie in Reha denn bei einer Psychotherapie wären die Eltern aufgeflogen. In der Reha zeigt sich wie verstört und destruktiv Juli wirklich ist. Dort ist man mit ihrem Verhalten überfordert und schicken sie wieder nach Hause. Alle anderen Geschwister sind mittlerweile ausgezogen und sie der Willkür ihrer Eltern gnadenlos ausgeliefert, bis ihre Dämme brechen und sie eskaliert.

    Fazit: Das Cover verspricht einen sprachgewaltigen Roman und die Geschichte hält dieses Versprechen definitiv. Großartige Erzählkunst, absolut überzeugend. Claudia Schumacher erzählt die Geschichte von zwei Bilderbuchnarzisst*innen, die die Familie schikanieren, attakieren, manipulieren und so mutwillig zerstören, dass die Kinder ein Leben lang versuchen, das Erlebte zu verarbeiten. Hier sitzt jedes Wort, nichts scheint übertrieben, alles wirkt so schrecklich authentisch, dass ich mich frage, woher hat die Autorin dieses fundierte psychologische Wissen. Die Protagonistin verliert sich, zweifelt an ihrer eigenen Wahrnehmung, erkennt ihre Mutter, analysiert jedes Familienmitglied und dessen/deren Aufgabe, um das System am Laufen zu halten. Sie schafft es auszusteigen und sich in der Interaktion mit anderen zu finden, zu scheitern, sich wieder neu zu erfinden, bis sie am Ende echte Hilfe bekommt. Ein grandioses intelligentes Debüt, erschreckend schön. Ein Mutmacher!

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  1. Die Familienidylle trügt

    "Liebe ist gewaltig" ist das Romandebut von Claudia Schumacher. Bevor man sich für diese Lektüre entscheidet, sollte einem bewusst sein, worauf man sich einlässt: Es geht um Gewalt in der Familie. Selten ist ein Buchtitel so passend gewählt wie dieser. Gewaltig ist auch das Buch, dazu aber später mehr. Zunächst einmal zum Inhalt.

    Familie Ehre ist nach außen hin eine Vorzeigefamilie: Beide Elternteile sind erfolgreiche Anwälte und haben es zu viel gebracht. Sie leben mit ihren vier Kindern in einer Kleinstadtvilla, Frau Ehre ist bildhübsch, die Familie ist allenorts sehr angesehen. Auf den ersten Blick betrachtet handelt es sich um eine Vorzeigefamilie. Doch weit gefehlt! Hinter der Fassade dieser familiären Idylle tun sich Abgründe auf, Gewalt ist omnipräsent. Der Buchtitel "Liebe ist gewaltig" beschreibt sehr treffend die Eltern-Kind Beziehungen in diesem "Geisterhaus". Der Vater drillt und prügelt die Kinder, der Onkel verschleiert dies, die Mutter verharmlost und bestreitet alles. Und Außenstehende? Sie schauen weg bei Anzeichen, dass sie sich bezüglich der Vorzeigefamilie täuschen könnten. Ganz getreu dem Motto: Was nicht sein kann, das auch nicht sein darf. Juli und ihren Bruder Bruno trifft es besonders hart. Auch nach Verlassen des Elternhauses lässt das Geschehene sie nicht los. Die Auswirkungen erlittener Gewalt im Elternhaus sind fatal: Sie sind traumatisiert, kriegen ihr Leben nicht richtig auf die Reihe und Beziehungen scheitern. Finden sie einen Ausweg?

    Ich habe das Buch atemlos gelesen. Die Geschichte hat mich gleichermaßen tief erschüttert wie auch fasziniert. Schumachers Sprache ist brilliant: Sie trifft den jugendlichen Tonfall Julis sehr gut und verwendet seht ausdrucksstarke Bilder. Vergleichbares habe ich noch nie gelesen. Ich fühlte mich regelrecht in das Geschehen hineingesogen und erlebte hilflos und entsetzt die Wahrheit über Familie Ehre. Denn tatsächlich macht diese Familie ihren Namen keine Ehre, ganz im Gegenteil. Die Familie ist ein Paradebeispiel für die Wirkweise von Gewaltspiralen im familiären Nahfeld und der Aussichtslosigkeit, ihr zu entkommen. Dies spiegelt der folgende Absatz ganz gut wieder: 

    "Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus dem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die lässt dich nicht los. Jeder hat gegen jeden was in der Hand. Verstrickungen, Erstickungen wie in der Mafia."

    Gerade in diesem Punkt halte ich die Schilderungen Schumachers für sehr realistisch. "Gewaltig" beschreibt für mich daher auch die Leistung der Autorin selbst. Sie schafft es, innerfamiliäre Gewalt und deren (lebenslange) Auswirkungen so darzustellen, dass sehr deutlich wird, wie schwer und nahezu unmöglich es ist, sich davon zu befreien und eigene Wege zu gehen. Ihr Verdienst ist es auch die innere Dynamik aufgezeigt zu haben, warum gerade  dysfunktionale Familien quasi schicksalheft aneinander gekettet sind. 

    Schumacher gelingt es ebenfalls, Gefühle und Handlungsweisen brilliant in sprachliche Ausdrucksformen zu gießen. Als Leserin durchlebte ich so einen regelrechten Taumel von Entsetzen und Schwindel einerseits, aber auch Faszination andererseits. Ersteres bezieht sich auf den Inhalt, Letzteres auf die Form. Selten verspürte ich während einer Lektüre so oft das Bedürfnis, einen Stift zu zücken und mir die treffenden Formulierungen zu notieren, um sie vor dem Vergessen zu schützen. 

    Schließlich empfinde ich auch die Zeichnung der Protagonisten als sehr glaubwürdig. Mit Juli habe ich sehr mitgelitten. Sie ist ein kluges Mädchen, das schon früh die Zusammenhänge und Dynamiken sehr gut versteht und sie präzise zu analysieren imstande ist. Ihre Zerissenheit habe ich förmlich am eigenen Leib spüren können: Einerseits ist da der starke Impuls gegen die Gewalt aufzubegehren und ihr ein Ende zu setzen, andererseits dieses sehr menschliche und nachvollziehbare Bedürfnis, von den Eltern geliebt zu werden. Diese Zerissenheit wird permanent, da ja selbst der gewaltbereiteste Mensch auch gute und liebenswürdige Eigenschaften hat, die situativ aufblitzen können. Tatsächlich verstehe ich ein stückweit auch die Mutter, auch wenn mich ihre Wegschaumentalität sehr ärgert und fassungslos macht. Sie kann von der Aggression des Vaters auch ein Lied singen, kommt aber wohl auch schlecht aus ihrer Rolle raus, da auch sie abhängig vom Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung ist. Es lähmt sie förmlich. Im Unterschied dazu konnte ich für den Vater und auch für den Onkel keinerlei Sympathie entwickeln. Gewalt ist und bleibt eben Gewalt. Und letztendlich ist die Moral von der Geschicht': hier passt der Familienname "Ehre" nicht. 

    Ich könnte das Buch noch endlos weiter in den höchsten Tönen loben, doch stattdessen belasse ich es mit einer Aufforderung: Unbedingt lesen! 

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  1. "Ein ehrenwertes Haus"

    „Liebe ist gewaltig“ verfügt wohl über einen der doppeldeutigsten und gleichzeitig treffendsten Titel der letzten Zeit – für solche Spielereien bin ich immer sehr zu begeistern, daher stürzte ich mich voller Enthusiasmus in die Lektüre. Empfangen wurde ich von der siebzehn Jahre alten Juli Ehre, Tochter aus gutem Hause (der Nachname „Ehre“ ist mit Sicherheit auch kein Zufall), zur Zeit in „Kur/Therapie“, nicht zuletzt weil in ihrem Elternhaus ein sehr bedrohliches Klima von unberechenbarer Gewalt, Auslieferung und Misstrauen herrscht. Juli berichtet in frechem, vorlautem Ton von ihren Erlebnissen im Kurort und bietet sehr lakonische (und daher umso treffendere) Einblicke hinter die Fassade des hochanständigen Hauses der Familie Ehre. Der erste Teil dieses Romans fasziniert mit der authentisch getroffenen Stimme einer Heranwachsenden, mit der stets dräuenden Bedrohlichkeit eines weiteren Gewaltausbruchs durch den Vater, eines weiteren Verrats durch die Mutter und der völligen Hilflosigkeit angesichts der herrschenden Situation. Hinzu kommt die spürbare Resignation in Julis Erzählstimme und ihr nachvollziehbarer Versuch sich von dem Geschehen emotional zu distanzieren, was ihr jedoch nicht wirklich gelingt. Viele der geschilderten Momente sind einfach sehr erschreckend und lassen den Leser fassungslos innehalten.

    Hätte der Roman auf diesem Niveau weitergemacht, wäre er sicherlich zu einem meiner Highlights avanciert. In den sich anschließenden Teilen, die eine etwas ältere Juli durch ihr weiteres Leben begleiten, begibt sich der Roman jedoch auf die Fährte recht konventioneller und bekannter Geschichten über den Umgang mit erlittenem Leid und Trauma. Es steht natürlich außer Frage, dass das, was hier geschildert wird absolut glaubwürdig, authentisch, schockierend und psychologisch begründet ist, es überrascht nur auf fiktionaler Ebene kaum: der Abstieg in weitere Abhängigkeiten, die Flucht in dysfunktonale Beziehungen, die an Sprachlosigkeit oder der Spiegelung des Beziehungsverhältnis der Eltern scheitern. All diese Aspekte beleuchtet der Roman detailliert, überzeugend und intensiv – es ist nur einfach nichts Neues. Ein wenig frischer Wind kommt durch den unerwarteten und funktional sehr angebrachten Wechsel der Erzählperspektive im letzten Teil auf, aber letztlich ist alles, was nach dem überaus starken Auftakt geschieht, recht vorhersehbar.

    Dennoch ist „Liebe ist gewaltig“ ein durchaus gelungener Bericht über Gewalt in der Familie und ihre langfristigen Auswirkungen. Der besonders im ersten Teil sehr eindringliche Roman empfiehlt sich trotz seines herkömmlichen Abhandelns wesentlicher Aspekte der Traumabewältigung für alle an der Thematik interessierten Leser.

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  1. Sehr ehrlich, erschütternd, augenöffnend - sprachlich grandios

    "Ein Teil von mir glaubt noch immer, dass ich schlecht bin. Dass ich jeden Schlag in meinem Leben verdient habe." (S.366/367)

    Dieser Satz stammt von Juli, der Ich-Erzählerin in diesem grandiosen Debüt-Roman von Claudia Schumacher. Zu Beginn des Romans lernen wir sie als 17jährige kennen, die in einer Vorzeigefamilie mit 3 Geschwistern aufwächst. Beide Eltern sind Rechtsanwälte und sehr angesehen. Doch hinter den Kulissen herrscht das Grauen: der Vater ist gewalttätig, verprügelt Frau und Kinder, misshandelt sie physisch wie psychisch. Die Frau, als Opfer, wird zur Mittäterin, wenn es um die eigenen Kinder geht. Die Kinder werden mit schönen Dingen und Geld immer wieder ruhiggestellt - das klassische "Zuckerbrot & Peitsche" - Spiel. Die Kinder verhalten sich währenddessen sehr unterschiedlich. Alex verkriecht sich in die Welt der Bücher während Juli um jeden Preis gefallen will und bis auf's Blut um Anerkennung kämpft. Mit ihren mathematischen, analytischen Begabungen durchschaut sie die Machenschaften durchaus, kann sich aber nicht befreien. Nach außen hin muss die schöne Fassade gewahrt bleiben. So weit, so furchtbar. Dies ist harter Tobak und sicher nicht für jede*n Leser*in geeignet.

    Dann ein Zeitsprung - 10 Jahre später. Juli und ihre Geschwister versuchen ihre Leben in den Griff zu bekommen, es fällt fast allen unendlich schwer sich zurechtzufinden. Es kommt regelmäßig zu Zusammenbrüchen unter der schweren Last der Traumata. Doch niemand redet. Niemand "verrät" das Elternhaus...

    Noch ein Zeitsprung. Zwei Jahre sind erneut vergangen und einige Dinge ändern sich. Verzweifelt klammert Juli sich ans Leben. Sie will leben um jeden Preis und probiert eine neue Herangehensweise. Eine radikale Veränderung. Schafft sie es letztlich, den Schritt in die Freiheit und weg von ihren Peinigern? Was wird aus ihren Geschwistern?

    Dieses Buch ist so feinfühlig und direkt - so authentisch - ,dass es einen schier umhaut. Durch die psychologisch analytischen Gedanken Julis werden mir oftmals die Augen geöffnet und ich verstehe ganz genau, was sie meint und wie alles mit allem zusammenhängt. Die enorme Ambilvalenz der Gefühle in solch dysfunktionalen Familien ist tragisch und gleichzeitig erklärend für so Vieles. Insbesondere die Tragweite bis ins Erwachsenenalter bringt die Autorin sehr detailliert und intensiv zum Ausdruck. Sprachlich eine Wucht, thematisch sowieso. Ein so wichtiges Buch zum Thema "häusliche Gewalt", das ich allen (die es sich zutrauen) wärmstens ans Herz lege.

    Ein erschütternder, feinfühliger, sehr intensiver und augenöffnender, psychologisch wertvoller - großartiger - Debütroman! Chapeau!

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  1. Familiäre Gewalt im Verborgenen

    Juli wächst als jüngstes von vier Geschwisterkindern in einer gut situierten Familie im Großraum Stuttgart auf. Die Eltern sind Rechtsanwälte, der Onkel Arzt, Juli hochbegabt und Klassenbeste. Doch der äußere Schein einer heilen Familienwelt trügt: Hinter verschlossenen Türen herrscht ein gewalttätiger Vater und Ehemann. Seine Launen sind unberechenbar; er prügelt, tritt, demütigt und droht. Die Mutter beschwichtigt, tröstet und setzt alles daran, den Schein aufrecht zu erhalten. Alle Familienmitglieder wissen, dass nichts nach außen dringen darf, was dem Ruf der Familie schaden könnte.
    Wir lernen die 17jährige Juli im Jahr 2007 kennen, kurz nachdem sie einen psychischen Zusammenbruch erlitten hat. Die Eltern schicken sie zur Kur, enthalten ihr aber notwendige ärztliche und psychologische Hilfe vor, weil das Familiengeheimnis gewahrt bleiben muss. Die Rückblicke aus Julis Sicht sind erschütternd, zeigen die krankhaften emotionalen Abhängigkeiten und eingespielten Verhaltensmuster in dieser dysfunktionalen Familie.
    Es folgen zwei Zeitsprünge ins Jahr 2014 und 2016. Juli ist nach Berlin gezogen und führt von außen betrachtet ein geregeltes Leben. Psychisch ist sie allerdings - wie auch ihr Bruder Bruno -äußerst labil.

    Claudia Schumacher zeigt sehr eindringlich und komplex die psychischen Folgen von erlittener häuslicher Gewalt mit ihren selbstzerstörerischen Auswirkungen bis ins Erwachsenenleben hinein.

    Der Fokus auf einer gebildeten, erfolgreichen, scheinbar heilen Familie, die durch ihren Status und ihren Einfluss bestens vertuschen kann, was hinter verschlossenen Türen geschieht, ist gut gewählt. Räumt das Setting doch mit einer häufigen Annahme auf, familiäre Gewalt gäbe es nur in armen Familien. Die Scham der Opfer stützt und verharmlost das System von Gewalt, verhindert eine Aufarbeitung des Erlittenen. Erschwerend kommt ein außerfamiliäres Umfeld hinzu, das für Anzeichen von Gewalt blind ist, wenn es um gut situierte Familien geht.
    „Liebe ist gewaltig“ punktet nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die sehr authentische und wortgewaltige Sprache, die sich im Laufe des Romans Julis Alter anpasst.
    Schumacher findet starke Bilder für die emotionale Verfassung ihrer Protagonistin, aber auch für zwischenmenschliche Situationen.

    Trotz der Schwere des Themas, konnte ich den Roman kaum zur Seite legen, habe jede Seite mit großer Anspannung und Interesse verfolgt. Die sprachlich sehr treffenden Bilder haben mich bewegt und begeistert. Claudia Schumacher ist ein großartiges, aufwühlendes, erschütterndes und kluges Debüt gelungen.

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  1. Großartiges Debüt über die Folgen familiärer Gewalt

    Der Roman wird auf drei Zeitebenen erzählt. Wir lernen Ich-Erzählerin Juli 2007 als Siebzehnjährige kennen, als sie sich in einer psychiatrischen Einrichtung zur Kur befindet. Das offizielle Krankheitsbild weicht vom tatsächlichen ab, wie wir aus Julis Bericht erfahren. Schnell ist man schockiert über Sätze wie diesen: „Als ich vierzehn war, artete trotzdem alles in rohe Gewalt aus. Papa hat mich durchs Haus gejagt und gedroht, mich umzubringen.“ (S.23) Juli schildert Episoden ihrer Kindheit, die sprachlos machen. Sie ist das jüngste von vier Geschwistern, sie und Bruder Bruno leiden am stärksten. Als Leser erkennt man die Tragweite des Erlebten sehr schnell. Die Eltern sind erfolgreiche, anerkannte Anwälte, die Verhältnisse gelten als gut situiert und geordnet. Doch hinter der Fassade spielen sich unglaubliche Szenen ab, weil der Vater ein cholerischer Tyrann ist, der sich nicht nur an seinen Kindern vergreift, sondern auch nicht müde wird, seine Frau zu demütigen und vor dem Nachwuchs herabzusetzen. Schläge bekommen sie alle.

    Nun könnte man meinen, eine solche Geschichte ist schon oft erzählt worden, das kenne man doch alles schon… Nein, weit gefehlt! Was den Roman so besonders macht, ist die unmittelbare, eindringliche Sprache der Ich-Erzählerin. Das Mädchen ist stark und hochintelligent. Sie vermag zu erkennen, zu erklären und zu analysieren. Sie ist eine herausragende Schülerin. Sie ist nicht larmoyant, und dennoch kann sie ihre Gefühle unglaublich treffend und nachvollziehbar in Worte kleiden. Man erkennt die Hilflosigkeit des Kindes/ der Jugendlichen angesichts der väterlichen Übermacht. Wie so oft in dysfunktionalen Familien ist die Mutter keine Hilfe, sie tröstet mit Einkaufstouren und Kuchen. Sie bagatellisiert und negiert die Gewaltexzesse sogar, stilisiert sich selbst zum einzig wahren Opfer. „Das führt mich zum eigentlichen Spuk im Haus: Jeder erzählt eine andere Geschichte über dieselben Dinge. Die Wahrheit, das ist reine Verhandlungssache.“ (S.66) Ihre Tatenlosigkeit macht die Mutter zur Mitschuldigen. Die Fassade nach außen ist wichtiger als der Schutz ihrer Kinder. Insofern gilt es als ungeschriebenes Gesetz, dass über die häuslichen Erlebnisse nichts nach außen dringen darf. Das eigene Nest darf nicht beschmutzt werden, das käme einem Verrat gleich.

    Spätestens ab der zweiten Zeitebene, die 2014 einsetzt, wird die komplexe Leidensgeschichte mit all ihren Auswirkungen ins Erwachsenenalter deutlich. Die beiden ältesten Geschwister Alex und Max scheinen die häuslichen Zustände relativ unbeschadet überstanden zu haben, Juli und Bruno indessen leiden unter den wiederholten Übergriffen des Vaters, werden zunehmend psychisch aus der Bahn geworfen. Opfer von Gewalt haben sie massive Beziehungsstörungen, insbesondere dann, wenn sie sich niemandem anvertrauen oder psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen. Sie fühlen sich minderwertig, können schwer Vertrauen aufbauen, sind anfällig für Drogen und andere Fluchten, sind selbst gewalttätig und übernehmen das altbekannte Muster ins weitere Leben. Dieser Roman ist unglaublich gekonnt geschrieben. Er leuchtet die Untiefen der toxischen Familienbande sorgfältig aus, findet beeindruckend treffende Metaphern für Gefühle und Seelenzustände, beschreibt die verschiedenen Charaktere in all ihrer Vielfältigkeit, wobei Juli und Bruno die eng miteinander verbundenen Protagonisten sind. Auch deren ambivalente Verstrickungen mit dem Elternhaus werden nicht ausgespart: „Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus einem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die, lässt dich nicht los.“ (S. 204)

    Die Sprachvirtuosität dieses Debüts hat mich vollkommen begeistert. Es ist alles so erschreckend glaubwürdig erzählt. Wäre da nicht der schnoddrig-überlegene Ton der Erzählerin, könnte man es wahrscheinlich kaum aushalten. Die Erzählart macht es erträglich, weil die Autorin ein außerordentliches Gespür für die richtige Balance hat. So hält sie sich nie bei blutigen Details auf und driftet nicht in Sentimentalität oder übertriebene Gefühligkeit ab. Die Erzählstimme geht meist nüchtern-sachlich weiter, versucht sich auf den nächsten Schritt, auf das Wesentliche, zu konzentrieren. Ihr Ziel ist eine differenzierte Analyse der erlittenen Misere. Doch auch die Perspektiven anderer Figuren werden organisch in den Text eingebettet.

    Insofern möchte ich dieses grandios erzählte Buch wirklich breiten Leserschichten empfehlen. Es ist kein leichtes Thema, aber ein wichtiges. Ein Buch kann seinen Beitrag in der Debatte leisten, indem es verdeutlicht, wie sehr familiär erlebte Gewalt das weitere Leben vergiftet und in wirklich alle Lebensbereiche hineinwirkt. Es kann sensibilisieren, auch dafür, dass Dysfunktionalität nicht nur in bildungsfernen, armen Familien vorkommt. Im Gegenteil: Intellekt kann Aggressionsmuster weit subtiler und demütigender gestalten.

    Der Roman hat keine Längen. Man wird von der Intensität des Geschilderten mitgerissen, bis man auf der dritten Zeitebene 2016 und schließlich beim Epilog ankommt. Eine ganz große, dicke Leseempfehlung für alle Menschen, die sich der zweifellos fordernden Thematik stellen wollen. Sie werden reichlich belohnt werden. Der Roman eignet sich hervorragend für Lesekreise. Hoffentlich werden wir noch viel von dieser begabten Autorin lesen können!

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  1. Das ‚Hexenhaus‘, in dem Durchschnittlichkeit verachtet wird.

    Ein liebevolles und harmonisches zuhause? Das kennt die Ich-Erzählerin Juli leider nicht aus eigener Erfahrung. In ihrem Elternhaus wird geprügelt und gedemütigt vom Vater, die Mutter hat nichts entgegenzusetzen und tröstet höchstens mit Streuselkuchen oder Shoppingtouren. Sie wird mit unbegrenztem Zugang auf das Konto ruhiggestellt und ist zugleich Opfer und Täterin. Oberstes Gebot in dieser Familie mit vier Kindern: es darf nichts nach außen dringen! (Sogar Erinnerungen der Kinder an Gewaltszenen werden von den Eltern negiert!)

    ‚Verstörend‘ und ‚faszinierend‘ fällt mir zu diesem Roman ein!

    ‚Verstörend‘, weil ich noch nie von so viel Gewalt (psychische und physische) in einem Buch gelesen habe! Und auch, weil das Umfeld blind ist dafür - es geht ja schließlich um eine hoch angesehene Familie in dieser Kleinstadt, die Eltern beide Anwälte! Erschütternd fand ich auch, wie Julis Kindheitserfahrungen ihr ganzes weiteres Leben begleiten.

    ‚Faszinierend‘ deshalb, weil ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte! Die Autorin beschreibt die Szenen so bildhaft, so überzeugend, dass ich ihr jedes Wort abnahm! (Dazu die schnoddrige Sprache von Juli, die auch manches Lachen bei mir auslöste, das danach aber oft im Halse steckenblieb.) Meinen größten Respekt dafür und ich hoffe, von dieser Autorin (nach diesem phänomenalen Debüt) noch viel lesen zu können.

    Für eine Leserschaft, die Freude an Psychologie hat und gerne analysiert, ist dieses Buch ‚das gefundene Fressen‘ und sehr empfehlenswert!

    Ich kann nicht anders, als 5 Sterne für dieses hervorragende Werk zu geben! Außerdem wünsche ich diesem Buch massenweise Leser, damit dieses Thema auch mehr ins Lampenlicht rückt, dass auch in gut situierten Familien Gewalt herrschen kann, das Grauen regiert!

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  1. Wenn Liebe weh tut

    Klappentext:

    „Juli wächst in einer Vorzeigefamilie auf: Die Eltern sind Rechtsanwälte, sie ist Klassenbeste. Doch in der Kleinstadtvilla herrscht das Grauen. Der Vater drillt die Kinder auf Leistung, prügelt sie und seine Frau. Juli wird älter, fordert ein Ende der Gewalt, deren Realität von der Mutter vehement abgestritten wird. Einzig ihre Geschwister und eine Maus geben Halt. Doch wie kann man sich befreien, wenn man weder den Eltern noch den eigenen Erinnerungen traut? Die Befreiung gerät zum Feldzug – gegen die Eltern und das eigene Ich. Drei Jahrzehnte folgen wir Juli, die mit aller Macht versucht, die Deutungshoheit über ihr Leben zu erlangen. Ein eindringlicher Roman über Verletzungen und eine mögliche Heilung, voller Originalität und Wärme.“

    Ich habe das Buch beendet und mir fiel nur ein Wort ein: verstörend. Der Buchtitel ist hier Programm aber nicht so wie Sie denken. Hier geht es um Gewalt - Liebe und Gewalt. Was das miteinander zu tun hat? Für einige Menschen leider zu viel. Julis Geschichte hier ist das typische Bild das wir Menschen oft schonmal gehört haben: nach außen wahren sie den Schein einer „sauberen“ Familie aber im Haus, im Inneren, sieht es anders. Dort regiert Gewalt. Der Vater entpuppt sich als Drillmeister und ja, auch ihn muss man verstehen können. Er macht es aus Liebe, aus seinen Ansprüchen, will seine Ansprüche an die Familie weitergeben aber zerstört sie dabei zusehest. Ein typischer Fall von: „Man darf Liebe nicht mit Gewalt gleichsetzen bzw. diese erzwingen“. Julis Mutter erträgt alles, auch wenn es in ihr vielleicht anders aussieht. Und ihre Geschwister? Erdulden genau wie Juli alles - aus Liebe?! Das ist hier die Frage. Es gibt aber auch Lichtblicke in der Geschichte. Eine kleine Maus wird zum Rettungsanker und beschert dem Leser immer wieder ein Lächeln.

    Wenn man sich mit den Zeilen noch näher befasst als sie einfach nur stur zu lesen, fällt auf, dass der Vater seine komplette Familie „versaut“. Juli bekommt den Knall für‘s Leben weg und kämpft gegen genau diesen inneren Feind. Sie muss lernen sich selbst zu behaupten, die Stimme zu erheben, Selbstbewusstsein zu erlangen, sich selbst zu lieben und sich zu vertrauen. Nicht einfach aber man folgt ihr gern in diesem Roman. Man schließlich wissen was aus ihr wird. Das hat nichts mit Voyeurismus zu tun, sondern mit dem Band was von Anfang an zwischen dem Leser und Juli entspinnt. Ihr eigener Witz, ja, ihr Sarkasmus reizen den Leser und man lacht über die Dinge, über die man eigentlich gar nicht lachen kann. Die Zeitensprünge die hier aufgezeigt werden, sind richtig gut geformt und bieten dem Leser immer wieder neue Sichtweisen.

    Es ist wahrlich keine leichte Kost, das Buch hallt nach, bringt einem immer wieder Gedankengänge und ja, man muss mit jemanden darüber reden. Ein Thema (häusliche Gewalt) was niemals totgeschwiegen werden darf. Autorin Claudia Schumacher hat jedenfalls ganz viel Feingefühl bewiesen. Sie findet immer die richtigen Worte, die richtige Stimmung, lässt uns bis zu einem gewissen Punkt an die Familie heran und zieht uns gekonnt wieder ab. Sie fügt Humor in die Geschichte. Sie denken das geht nicht, sei nicht passend? Da täuschen Sie sich. Die Story ist rund. Punkt. Aber sie ist auch nicht für jeden (zarten) Leser geeignet und genau deshalb gibt es auch nur 4 Sterne von mir.

    Eine bewegende Geschichte.

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