Ich und Jimmy

Buchseite und Rezensionen zu 'Ich und Jimmy' von Clarice Lispector
3.15
3.2 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ich und Jimmy"

Selten ist ein Werk des 20. Jahrhunderts so überschwänglich und einhellig gerühmt worden wie das von Clarice Lispector. Im Mittelpunkt dieser faszinierenden Sammlung von 30 Short Stories stehen weibliche Erfahrungen und Sichtweisen auf die Welt. Luisa, eine junge Frau führt ein Doppelleben als Ehegattin und Stripteasetänzerin. Miss Algrave, ein irisches Mauerblümchen, erlebt in London unverhofft ihr sexuelles Erweckungserlebnis. In einer anderen Geschichte rächen sich zwei Frauen, Carmem und Beatriz, die in wilder Ehe mit einem Mann zusammenleben, auf perfide Art für seine chronische Untreue. In Lispectors Kurzprosa, von Luis Ruby neu ins Deutsche übersetzt, lernen wir eine ungeheuer vielseitige Erzählerin kennen. Noch für die widersprüchlichsten Gefühle findet sie ein originelles Bild oder eine aufregende Wendung, eine treffende Charakteristik oder eine kluge Sentenz. Neben der titelgebenden Geschichte werden unter anderem die Erzählungen «Sofias Dramen», «Heimliches Glück», «Die Abfahrt des Zuges», «Auf der Suche nach einer Würde», «Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau» sowie «Dona Frozinas Finessen» enthalten sein. Lispectors Fabulierkunst langweilt nie und verblüfft immer.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:350
EAN:9783717525554

Rezensionen zu "Ich und Jimmy"

  1. Die Wiederentdeckung eines brasilianischen Klassikers

    In Deutschland gewinnen die Werke der brasilianischen Autorin Clarice Lispector seit etwa zehn Jahren zunehmend Aufmerksamkeit, ihr Werk wird neu aufgelegt - auch in Brasilien selbst. Ihr 100jähriger Geburtstag im Jahr 2022 ist ein schöner Anlass, sich mit der Autorin und ihrem Werk etwas auseinanderzusetzen. Da ich generell außereuropäischen Literaturen gegenüber sehr aufgeschlossen bin, musste ich mich dazu nicht zwingen. Mich interessierte, wer diese Lispecto ist, die 1922 in der Ukraine geboren sich später gerne als fünf Jahre jünger ausgab? Wer ist diese Autorin, die immer wieder mit AutorInnen wie unter anderen Franz Kafka und Virginia Woolf verglichen wird? Ich war neugierig auf ihr Werk geworden.

    Im Manesse Verlag erschien nun "Ich und Jimmy", ein Band mit 30 Prosatexten in einer wie gewohnt hochwertigen Ausgabe mit Lesebändchen, Anmerkungen und einem Nachwort. Die Titel gebende story eröffnet den Erzählband und kreist um unterschiedliche Theorien von beziehungsweise über die Liebe und der schlichten Feststellung, dass es nicht dasselbe ist, wenn Frauen so denken und agieren wie Männer. Im Kern drehen sich alle Geschichten in diesem Band um Frauen: Frauen unterschiedlichen Alters, in verschiedenen Lebenslagen. Sie unterscheiden sich in ihrer Länge, wie auch in ihrer Zugänglichkeit. Manche sind relativ leicht verständlich, andere hingegen machen es der Leserschaft recht schwer. 2005 erhob die New York Times Unverständlichkeit neben einem Hang zum Depressiven zum Markenzeichen von Lispector. Unverständlichkeit allein reicht wohl aber nicht aus, dass den AutorInnen die Herzen der Leserschaft zufliegen. 

    Mich hat der Erzählband vom Potential der Autorin überzeugt, was aber nicht heißt, dass ich alles verstanden hätte. Besonders gut gefallen haben mir die sozial und gesellschaftskritisch angehauchten Erzählungen ebenso wie solche, die zum Philosophieren über Gott und die Welt anregen. In sprachlicher Hinsicht ist das Buch weitgehend gut lesbar, jedoch immer wieder von viel Symbolik durchzogen, deren Entschlüsselung die Leserschaft herausfordert. Mitunter braucht es viel Geduld nicht zu verzagen und den Prosatexten die verdiente Chance zu geben. "Ich und Jimmy" ist ein anspruchsvolles Werk, das man nicht mal eben so lesen kann. Recht lohnenswert wird die Lektüre jedoch sein, wenn man bereit ist, sich Zeit zu nehmen, die Texte geduldig zu entschlüsseln. Dies vorausgesetzt, bin ich sicher, dass man facettenreiche Einsichten insbesondere über brasilianische Frauenleben in den unterschiedlichsten Lebenslagen gewinnen kann. 

    Mich selbst konnte die Kurzgeschichtensammlung nicht immer überzeugen. Sehr gerne aber werde ich es noch einmal mit einem Roman der Autorin probieren, um mir ein detaillierteres Bild von Clarice Lispectors Schrifstellerei machen zu können. 

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  1. Eine Vielfalt an Frauenleben

    „Ich erinnere mich noch an Jimmy, diesen Jungen mit den ungekämmten braunen Haaren, die den länglichen Schädel eines geborenen Rebellen bedeckten.“

    So beginnt die erste Erzählung und titelgebende Geschichte des Erzählbandes „Ich und Jimmy“ der brasilianischen Schriftstellerinnen Ikone Clarice Lispector.
    Eine literarische Wiederentdeckung, herausgegeben in der wunderhübschen Fassung des Manesse Verlags unter dem Motto „Mehr Klassikerinnen“

    Clarice Lispector, geboren 1929 als Chaya Pinkhasivna Lispector in der Ukraine, emigrierte als Kind mit ihren Eltern nach Brasilien. Sie schrieb Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher und Kolumnen für Zeitungen und Zeitschriften und verstarb mit nur 57 Jahren in Rio de Janeiro. Clarice Lispector wurde mit ihrer schriftstellerischen Vielfalt mit vielen verglichen - Kafka, Rilke, Rimbaud - und ist dennoch unvergleichlich.

    In dem vorliegende Erzählband werden 30 Kurzprosatexte vorgestellt, manche Texte gehen nur über vier Seiten, manche sind ausführlicher. Allen gemeinsam ist die Beschreibung weiblichen Lebens. Die Geschichten werden von Frauen beherrscht. Es sind junge Frauen, manchmal noch Mädchen, Kinder, manchmal alte, manchmal dünne, dicke, hübsche, hässliche. Es geht um Frauen, die ihren Platz im Leben suchen und beanspruchen, die ihre Sexualität entdecken, ihren Mann verlassen, ein Kind verloren haben oder einfach nur den Weg hinaus suchen aus der Misere des Lebens.

    Es gab Geschichten, die ich aufgrund ihrer fast bösartigen Klarheit liebte, mache aufgrund ihrer Interpretationsvielfalt und manche, die ich einfach nicht verstanden habe.

    Alles in allem bin ich froh, Bekanntschaft mit einer mir unbekannten Erzählerin gemacht zu haben. Auch wenn das Bild schon inflationär gebraucht, wird: Auch bei einer Bonbonniere schmeckt mir nicht alles, aber ich liebe Pralinen trotzdem.

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  1. 3
    24. Jul 2022 

    Fantastisch-realistisch und verwirrend

    In dem Erzählband „Ich und Jimmy" hat sich der Manesse Verlag das Werk der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector (*1920 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik; † 1977 in Brasilien) vorgenommen. Anhand von 30 Stories, die Teil des Gesamtwerkes von Lispector sind, macht sich der Leser ein Bild von der Persönlichkeit einer eigenwilligen Schriftstellerin, die von Manesse als Kult-Autorin bezeichnet wird. Schriftstellerischen Einheitsbrei konnte man Lispector ganz sicher nicht vorwerfen. Dafür sind ihre Stories zu unterschiedlich. Sie erzählt Geschichten von „Armut, Krankheit, Verlust und Tod“*, von „Reichtum, Glück, Verliebtsein, Liebe und Sex“*. Gegensätze treffen aufeinander: „Frauen treffen Männer, Alte treffen Junge, Arme treffen Reich“* etc. etc. etc. (*aus dem Nachwort von Teresa Präauer)
    Doch eines haben diese Geschichten gemeinsam: die Verwirrung, die sie in mir, der Leserin, auslösen; einer Verwirrung, häufig gepaart mit Unverständnis.

    Dabei war ich stets bemüht, unvoreingenommen an Lispectors Kurzprosa heranzugehen, was mir zugegebenermaßen mit jeder weiteren Geschichte, die ich nicht verstand, schwerer gefallen ist. Hoffnungsschimmer gab es bei den Erzählungen, die handlungsorientiert waren, also Geschichten nahe an der Realität und bei denen ein roter Handlungsfaden zu erkennen war. Diese Geschichten waren leider in der Minderzahl. Einen großen Anteil an diesem Erzählband haben hingegen kafkaeske Geschichten, die wenig mit der Realität zu tun haben – Teresa Präauer verwendet in ihrem Nachwort den Begriff „fantastisch-realistisch“. Hier werden Interpretationsfähigkeiten eingefordert, mit denen ich nicht dienen kann. Dafür fehlt mir der literaturwissenschaftliche Hintergrund.

    Clarice Lispector galt als Feministin. Demzufolge stehen Frauen im Zentrum ihrer Geschichten, Frauen in unterschiedlichen Altersklassen vom Kind bis zur betagten Seniorin. Die Autorin prangert mit ihren Geschichten das Rollenverständnis ihrer Zeit an. (Soviel habe ich zumindest verstanden.) Zum Teil sind ihre Geschichten sehr persönlich, weil Lispector darin ihre eigenen Lebenserfahrungen verarbeitet, genauso wie man vielen
    Geschichten Lispectors Depressionserkrankung anmerkt.

    Tatsächlich festigte sich bei mir mit jeder gelesenen Seite dieses Buches der Eindruck, dass es mit dieser Sammlung an Erzählungen nicht um die Geschichten an sich geht, sondern um die Person Clarice Lispector. Damit will ich ausdrücken, dass ich zwar selten bis gar nicht den tieferen Sinn einer Erzählung verstanden habe, doch dass sich nach und nach vor meinen Augen das Bild einer sehr eigenwilligen Autorin entwickelte, die in Brasilien gefeiert wurde. Gemessen an den Schwierigkeiten, die ich mit ihren Geschichten hatte, hat sie ihre Berühmtheit daher meines Erachtens nicht ihrer schriftstellerischen Brillanz zu verdanken, sondern eher dem Mythos um ihre Persönlichkeit, den man aus ihren Geschichten herausliest und der durch weitere Faktoren begünstigt wird, bspw. ihrem ungewöhnlichen und klangvollen Name.
    Anhand der Geschichten, die ich gelesen habe, dichte ich ihr folgende Eigenschaften an: exzentrisch, depressiv, verschlossen, manchmal arrogant, sensibel, emanzipiert, divenhaft, geheimnisvoll. Ich kann nicht anders, aber ich muss bei Clarice Lispector immer an die Gruppe der schreibenden Existentialisten denken, wobei deren Philosophie nur wenig mit Lispector zu tun hat (soweit ich ihre Geschichten verstehe). Ich sehe also Leute wie Camus, Sartre und Simone de Beauvoir vor mir - alle schwarz gekleidet, mit einem düsteren Blick auf das Leben und mittendrin Clarice Lispector. Wenn nicht nur ich dieses Bild der Autorin vor Augen habe, wundert mich nicht, dass die Literaturwelt ihre Geschichten in den Himmel hebt. Manesse hat daher nicht die Geschichten verlegt, sondern das Gesamtpaket „Clarice Lispector und ihr Mythos“. Und das ist dem Verlag gut gelungen, unterstützt durch die wunderschöne Gestaltung des Buches sowie einem handlichen Buchformat, das man einfach lieben muss.
    Und sind wir mal ehrlich: viele Klassiker "leben" von dem Mythos ihrer Autoren. Ein Roman (nach heutigen Maßstäben) erhält durch das Prädikat "Klassiker" bereits Vorschusslorbeeren, noch bevor man ihn gelesen hat und egal, wie gut oder schlecht er nach modernen Maßstäben ist.
    Sind die Geschichten von Clarice Lispector jetzt schlecht? Spontan waren viele schlecht, weil ich sie einfach nicht verstanden habe bzw. mit manchem kafkaesken Moment nichts anfangen konnte. Hätte ich während der Lektüre Interpretationshilfen zur Hand gehabt oder Erläuterungen zu den einzelnen Geschichten, hätte ich mir vermutlich ein qualifizierteres Urteil bilden können. Dennoch gab es Geschichten, die ich gern und mit Interesse gelesen habe. Dies waren durch die Bank weg jene Stories, welche einen nachvollziehbaren Handlungsfaden hatten und nah an der Realität waren.
    Unterm Strich wird mir Clarice Lispector als Erzählerin schräger und kafkaesker Geschichten in Erinnerung bleiben, wohingegen ihre Geschichten bei mir schnell in Vergessenheit geraten werden. Eine interessante Leseerfahrung!

    © Renie

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  1. Eine literarische Welt mit Höhen und Tiefen

    Der Manesse Verlag hat sich mit seinem Motto „Mehr Klassikerinnen“ dazu verpflichtet, insbesondere das Werk weiblicher Autorinnen hervorzuheben und wiederzuentdecken. Der vorliegende handliche Band mit eindrucksvollem Cover und gebunden in Fadenheftung macht wahrlich Lust, auf Entdeckungstour zu gehen, zumal ich erst kürzlich mit „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf (ebenfalls in dieser wunderschönen Manesse Reihe erschienen) einen Volltreffer gelandet habe. Zudem gilt Woolf als Vorbild für Lispectors Schreiben.
    Clarice Lispector (1920 – 1977) wuchs als jüdisch-ukrainische Migrantin in Brasilien in Armut auf. Sie war begabt und studierte Jura in einer Zeit, in der dies nur den wenigsten Frauen möglich war. Mit der Heirat eines angesehenen katholischen Diplomaten gelang ihr der gesellschaftliche Aufstieg. „Schon zu Lebzeiten war sie eine Legende, berühmt, bewundert, kapriziös, depressiv und den meisten Menschen unverständlich“, sagte Katharina Döbler über Lispector(Quelle: Wikipedia). Diese Aussage trifft meiner Meinung nach auch in weiten Teilen auf diesen Erzählband mit 30 nach ihrer Entstehungszeit geordneten Erzählungen zu.

    Meistens stehen Frauenfiguren im Mittelpunkt. Dabei werden fast alle Altersstufen abgebildet. Es geht um fest gefahrene Rollenbilder. Die Ehe ist die logische Konsequenz für eine junge Frau, in der sie sich den Wünschen ihres Gemahls anpassen muss. Auch im Beruf und in der patriarchischen Gesellschaft sind Frauen meist die Passiven und Duldenden. In dieser Situation lernen wir die Figuren kennen, die intensiv mit ihrem Innenleben, ihren persönlichen Befindlichkeiten, beschäftigt sind. Äußere Handlung ist untergeordnet. Die wenigsten Frauenfiguren wirken glücklich oder zufrieden. Sie sinnieren über unerfüllte Hoffnungen, ihre Ehe, Beziehungen, Angst vor dem Alter, nachlassende Attraktivität, über Liebe, Lebenssinn, Frau- und Fremdsein bis hin zu Flucht- und Suizidgedanken. Keine Frau wirkt mit dem selbst eingeschlagenen Weg zufrieden. Insofern drehen sich die Gedanken oft im Kreis, wirken repetitiv oder redundant. Einfachen Sachverhalten (man denke an den Rosenstrauß) wird eine Bedeutungsschwere zugemessen, zu der ich schwer Zugang finden konnte. Es gibt gewiss viel Raum für Interpretation in diesen Texten, der sich aber leider nicht jedem Leser erschließt. Auch das Ende der Erzählungen bleibt gern mehrdeutig und fordert die Leserschaft heraus. Nicht umsonst bezeichnet man Clarice Lispector auch als den „Kafka Brasiliens“ – ein Attribut, dem ich mich anschließen würde.

    Die meisten Erzählungen sind in der gutbürgerlichen brasilianischen Mittelschicht angesiedelt. Ich hörte hier und da Sozialkritik heraus, wenn Arm und Reich aufeinander treffen. Lispector kann das Innenleben ihrer Figuren sehr bildlich und ausführlich beschreiben. Sie arbeitet mit zahlreichen Motiven, auch biblische Anlehnungen zu Glaube und Heiligenverehrung tauchen wiederholt auf. Sexualität in verschiedenen Facetten wird ebenfalls thematisiert. Die diesbezüglichen Fantasien der Autorin kann man mit Sicherheit als fortschrittlich und ihrer Zeit voraus bezeichnen. Manches wirkt hier allerdings wenig zusammenhängend und beinahe surreal (der magische Realismus hat seine Heimat in Brasilien). Wunsch oder Wirklichkeit waren für mich nicht immer klar trennbar. Lispector vertritt sehr moderne, feministische Ansichten.

    Stilistisch ist Clarice Lispector vielseitig aufgestellt. Wenn auch die meisten Erzählungen eine eher melancholische, depressive Stimmung ausstrahlen, kann die Autorin durchaus auch andere, fein ziselierte bis humorige Töne anschlagen. Besonders gut haben mir die Geschichten gefallen, in denen konkrete Szenen aus dem Familien- und Alltagsleben geschildert werden. Die Erzählungen haben die anspruchsvollen Shortstories der englischsprachigen Welt als Äquivalent. Sie sind bewusst unbequem, kompliziert und fordern zum Nachdenken heraus.

    Zweifellos haben Lispectors Texte literarische Qualitäten. Nur leider habe ich persönlich nicht jeden verstehen können. Zu abstrus und verworren stellen sich insbesondere die Gedankengänge vieler Protagonistinnen dar. Meine anfängliche Begeisterung ebbte recht schnell ab. Vielleicht empfinden das Menschen völlig anders, die aus psychologischer Sicht besseren Zugang zu Leid, Unglück und Depression haben. Vielleicht benötigt man auch eine literaturwissenschaftliche Ausbildung zum besseren Verständnis des hier Geschriebenen. Teresa Präauer, die das Nachwort formulierte, kommt auf alle Fälle zu einer völlig anderen Bewertung als ich. Insofern gilt: Selber lesen macht klug!

    Für mich war es leider ein überwiegend zäher Ausflug in eine mir fremde literarische Welt. Insofern nur eine eingeschränkte Lese-Empfehlung von mir.

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  1. Eine brasilianische Legende

    Autorin
    Clarice Lispector

    Eckdaten [1]
    Chaja Pinchassowna Lispector wird am 10. Dezember 1920 als dritte und jüngste Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geboren. Angesichts der immer wieder aufflammenden Pogrome wanderte die Familie kurz nach ihrer Geburt nach Brasilien aus. In Brasilen wird ihr Name in Clarice Lispector geändert. Obwohl sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, gelingt ihr eine erstaunliche Karriere. Sie darf an die für Juden verbotene Eliteuniversität studieren. Ein antisemitischer Propagandaminister unterstützt sie, ihre ersten Texte zu publizieren. Nach der Heirat mit einem katholischen Diplomaten geht sie mit ihrem Mann nach Washington, Bern, Warschau, bekommt zwei Söhne und kehrt erst 1959 nach Rio de Janeiro zurück. Mittlerweile ist sie geschieden. Sie lebt zurückgezogen, doch sie schreibt und publiziert weiter bis zu ihrem Tod.

    Eine brasilianische Legende
    Die Eckdaten spiegeln nur grob ihren Lebensweg, der in der Realität nicht gradlinig verlief, sondern mit Höhen und Tiefen durchzogen war. Letztendlich bleibt festzustellen, sie war eine herausragende Schriftstellerin, die trotzdem immer wieder in Vergessenheit geriet, aber in Brasilen auch nach ihrem Tod noch heute eine brasilianische Legende ist.

    „Die französische Schriftstellerin Hélène Cixous erklärte, Clarice Lispector sei die Person gewesen, zu der sich ein weiblicher Kafka entwickelt hätte oder »Rilke, wäre er eine jüdische, in der Ukraine geborene Brasilianerin gewesen. Oder Rimbaud, wäre er eine Mutter gewesen und fünfzig Jahre alt geworden. Oder Heidegger, wenn er hätte aufhören können, Deutscher zu sein.
    « Wer diese unbeschreibliche Frau zu beschreiben versucht, greift häufig nach Superlativen, doch diejenigen, die sie entweder persönlich oder aus ihren Büchern kannten, beharren darauf, dass sich das auffälligste Merkmal ihrer Persönlichkeit, ihre Aura des Geheimnisvollen, jeglicher Beschreibung entzog. »“ [2]

    Inhalt
    Ich und Jimmy versammelt 30 Erzählungen von insgesamt 86 erschienen Erzählungen. Es sind ausgewählte Kurzgeschichten, die einen Querschnitt der Schaffensphasen der Autorin spiegeln.
    Die Erzählungen sind chronologisch geordnet.

    „Sowohl in der Textgestalt als auch in der Textreihenfolge orientiert sich der Auswahlband an den oben genannten, chronologisch geordneten Editionen.“ (S. 405)

    Sprache und Stil
    Die Titelgeschichte Ich und Jimmy wurde 1944 publiziert. Die Erzählerin, eine Jurastudentin, trifft auf Jimmy. Jimmy hat seine eigenen Vorstellungen über die «Natur» des Menschen. Sie werden ein Liebespaar, weil Jimmy das richtig findet.

    „Jimmy fand, dass nichts besser sei als die Natur. Dass, wenn zwei Menschen aneinander Gefallen finden, sie ein Liebespaar werden sollten, ganz einfach.“ (S. 5)

    In ihrem Jurastudium folgert sie als Ergebnis der Vorlesungen und rechtsphilosophischen Schriften Hegels, dass sie nun der eigenen Natur folgen muss und lässt sich auf eine Affäre mit ihrem Prüfer ein. Für Jimmy ist Gleichberechtigung unvorstellbar. Obwohl seine Ideen mit der «Natur» verbunden sind, hat er nun kein Verständnis mehr.

    „Nur über Jimmy Sinneswandel wunderte ich mich weiterhin. Die Theorie ist doch gut.“
    (S. 11)

    Miss Algarve berichtet von einer ungewöhnlichen Verwandlung einer Frau, die die Liebe entdeckt. Die Hauptfigur Miss Algarve ist eine altjüngferliche Londoner Büroschreibkraft.

    „Unverheiratet, natürlich, Jungfrau, natürlich. Sie wohnt allein in einer Dachgeschosswohnung in Soho“ (S. 302)

    Ihre Beschäftigung besteht aus Arbeit und Gebet. Doch eines Nachts hat sie eine merkwürdige Begegnung. Sie wird durch einen geheimnisvollen Windzug, der einem Wesen gleicht, geweckt. Das Wesen nennt sich Ixtlan und ist vom Saturn gekommen, um sie zu lieben.

    „Ixtlan trug eine Krone aus Nattern, die sich umeinander schlängelten, ganz zahm vor Angst, sterben zu können. Der Umhang, der seinen Körper bedeckte, war vom duldsamen Violett, war böses Gold und geronnenes Purpur. Er sagte: ›Zieh dich aus.‹ Sie streifte das Nachthemd ab.“ (S. 309)

    Lispcetor nutzt eine altbekannte Überlieferung, die besagt, dass Eva im Paradies von einer Schlange verführt worden sei und wie bei Kafka findet eine Verwandlung statt. Miss Algarve wird verwandelt von einer unscheinbaren Jungfrau in eine Frau voller Tatendrang und ist bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen.

    Die Autorin schreibt diese Erzählung mit Witz und Ironie, ein fast surreal anmutender Text wie bei Kafka.

    Direkt darauf folgt die Erzählung Der Körper.

    „Xavier war ein wüster und heißblütiger Mann. […] Er liebte Tango.“ (S. 315)

    Xavier ist Bigamist und lebt mit zwei Frauen, Carmem und Beatriz, in wilder Ehe zusammen. Die Erzählung beginnt mit einem Film „Der letzte Tango“, denn Xavier liebt Tango. Xavier wird den beiden Frauen untreu. Das bizarre ménage à trois bekommt Risse und wie beim „Letzten Tango“ endet es tödlich.

    Die beiden Frauen töten ihren untreuen Liebhaber mit Messern, vergraben ihn im Garten und pflanzen auf sein Grab einen Rosenstock. Etwas später wird die Polizei durch den Sekretär auf das unerklärliche Verschwinden Xavier's aufmerksam gemacht. Doch nachdem sie die Leiche im Garten gefunden haben, lassen sie die beiden Frauen laufen.

    „Die zwei sagten: »Vielen Dank.« Und Xavier sagte nichts. Es gab auch wirklich nichts zu sagen.“ (S. 326)

    Clarice Lispector beobachtet präzise, beschreibt detailliert und erklärt. Sie bewertet oder beurteilt jedoch nichts. Jede Geschichte präsentiert sie mit Gelassenheit und oftmals mit einem verblüffenden Ende. Immer wieder sind es Frauen, die entweder aus der gutbürgerlichen brasilianischen Gesellschaft kommen oder dort eingeheiratet haben, denen sie Räume öffnet, um Träume, schmerzvolle und lustvolle Handlungen und Selbstfindung zuzulassen.

    Mit interessanter Konstellation von Figuren und Ereignissen zieht Lispector den/die Leser*in in die Erzählung hinein.

    "Ihr war, als ratterten die Straßenbahnen durchs Zimmer, als erschütterten sie ihr Spiegelbild.“ (S. 21)

    Dieser Satz erinnert an den Roman „Malte“ von Rilke. Malte nimmt Geräusche der Stadt wahr, als ob „die Elektrische“ quer durch sein Zimmer fährt, so kommt es ihm vor, wenn er nachts das Fenster öffnet.

    „Endlich saßen die Frau und die Mutter in ihrem Taxi zum Bahnhof.“ aus Familiäre Verbindungen (S. 114) oder „Heute ist der 13. Mai. Der Tag der Befreiung der Sklaven. Ein Montag. Ein Markttag. Ich habe das Transistorradio eingeschaltet. Da lief der «Donauwalzer». Ich strahlte.“ Aus Tag um Tag (S. 327)

    Ergänzt wird der Band Ich und Jimmy mit Anmerkungen, Einen Eingang und Ausgang finden, Nachwort und eine Editorische Notiz.

    Fazit
    Ich und Jimmy von Clarice Lispector stellt mit 30 Kurzgeschichten einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Schaffen dar.
    Die Erzählungen zeigen die Seite des menschlichen Lebens, mit Höhen und Tiefen und Erwartungen, die in der kurzen Form einer Erzählung brillant geschrieben sind und sich einer anhaltenden Düsterkeit nicht entwinden können. Es gibt keine Auflösungen dieser Zustände.
    Immer wird es dem/der Leser*in überlassen, wie er/sie die Geschichte interpretiert.

    Quelle
    Primär
    Clarice Lispector
    Ich und Jimmy
    Aus dem brasilianischen Portugiesich
    von Luis Ruby
    Nachwort von Teresa Präauer
    Manesse Verlag

    Sekundär
    [1] Benjamin Moser Clarice Lispector. Eine Biographie
    Originaltitel: Why this World. A Biography of Clarice Lispector. Originalverlag: Oxford University
    Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
    btb Verlag, erschienen 13. Juli 2015.
    [2] ebd. S. 16.

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  1. Nicht für alle Leser*innen das Wahre!

    Als moderne Frau, gleichberechtigt und selbstbewusst, in der heutigen Zeit diese Kurzgeschichten zu lesen, bedeutet eine Herausforderung! ‚Ich sei nichts als eine Frau, unbeständig und flatterhaft wie alle anderen‘ ist zu lesen, Frauen werden nur als Beiwerk zu den Männern dargestellt, die Frau will nicht auffallen, redet von sich als ‚seiner kleinen Frau‘ und vieles mehr.

    Nach den ersten vier Geschichten rief ich mich zur Räson, dass ich nicht permanent alles mit dem heutigen Stand vergleichen könne, dass dies als Zeitdokument anzusehen ist und dass ich mich entspannt zurücklehnen und einfach den Klassiker genießen solle – schließlich ist er im letzten Jahrhundert in den vierziger bis zuletzt in den achtziger Jahren entstanden. Und da herrschte bei vielen noch ein anderes Denken. (Mich erfüllt das Buch mit großer Dankbarkeit, dass sich doch einiges in den Köpfen geändert hat.)

    Begeistert hat mich – wieder einmal – das Format und das farblich passende Lesebändchen zum Cover.

    Die 30 Geschichten – nach Entstehung geordnet - sind sehr unterschiedlich, auch das Alter der Protagonistinnen: 9 bis 89-Jährige spielten die Hauptrolle!

    Was öfters vorkam: Rosen und Frauen, die ein unausgefülltes Leben hatten und verzweifelt versuchten, den Tag auszufüllen (z.B. bei ‚Ein Tag weniger‘: ‚Die Pension von Vater und Mutter deckte ihre wenigen Bedürfnisse.‘ Und so ein Leben im Alter von 30 Jahren? Keine Erfolgserlebnisse?!) Dicksein wurde als Horror hingestellt, das man auf keinen Fall sein wollte und dicke Personen mit negativen Eigenschaften versehen (z.B. in ‚Heimliches Glück‘).

    Wenige Kurzgeschichten gefielen mir, z.B. das schon genannte ‚Heimliches Glück‘, bei dem es um ein Buch und einem Miststück von Schulkameradin geht. Mit manchen Geschichten konnte ich überhaupt nichts anfangen (z.B. ‚Eröffnungsrede), bei manchen rieb ich mir ungläubig die Augen, weil da die Fantasie der Autorin einfach durchging. ‚Die Abfahrt des Zuges‘ war für mich beispielhaft, wie sich mangelnde Kommunikation auswirkt.

    Auch die negative Einstellung vieler Protagonistinnen stieß mich einfach ab!

    Mehr als 3 Sterne kann ich leider nicht geben, obwohl Teresa Präauer in ihrem Nachwort versuchte, mit ihrer Begeisterung anzustecken.

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  1. 2
    08. Jul 2022 

    Mutige vor! Fordernde Lektüre sucht passende Leser:innen.

    Wer sich an die 400seitige Kurzgeschichtensammlung der brasilianischen Autorin Clarice Lispector (1920-1977) in der Ausgabe des Manesse Verlags heranwagt, sollte viel Mut, Geduld und Intellekt mitbringen. Ganze 30 Erzählungen versammelt das auf den ersten Blick sehr schön gestaltete Büchlein des Verlags. Diese sind entweder aus der Sicht einer oder über eine weibliche Figur geschrieben und befassen sich mit den Bedürfnissen, Wünschen sowie (Nachtschlaf-)Träumen aber auch Alltagserlebnissen ebendieser Mädchen und Frauen. Nun sind Träume ja meist sog. „zerrissene Geschichten“ und genauso verhält es sich auch mit den Erzählungen von Clarice Lispector.

    Viele der Erzählungen wirken wie intellektuelle Fingerübungen der Autorin. Häufig hat sich eine in den Texten verpackte Aussage, eine Message für mich nicht herauskristallisieren können. Häufig war für mich unklar, wohin es gehen soll mit diesen Frauen aus der Oberschicht Brasiliens. Am Ende fast jeder Geschichte standen für mich große Fragezeichen, die jedoch nicht zur weiteren Beschäftigung mit dem Gelesenen anregen konnten. Selten wurde ich emotional berührt. Dies schaffte im Rückblick betrachtet allein die zweite Geschichte des Bandes „Die Flucht“, in welcher eine Ehefrau zumindest für einen Tag den Mut aufbringt, ihrem Ehemann und der Ehe den Rücken zu kehren und beginnt zu träumen. Von der Flucht aus Zwängen, Gedankengefängnissen und Alltag hin zu einem Leben in Übersee. Sie muss, aufgrund der wenigen einer Frau zu dieser Zeit (schätzungsweise 1940er Jahre) zur Verfügung stehenden Mittel und Freiheiten ihre Flucht abbrechen. Eine traurige einprägsame Geschichte, die nachhallt. Ein Großteil der restlichen Geschichten bleibt jedoch Arbeit für die Lesenden. Das muss nicht per se etwas Schlechtes bedeuten, ist in diesem Falle über das gesamte Buch hinweg jedoch eine äußerst ermüdende Arbeit. Immer wieder verstecken sich in den hoch anspruchsvollen Geschichten kleine, stilistisch wunderschöne Miniaturen. Sätze, die aber durch darauffolgende Formulierungen wieder verblassen ob ihrer Schönheit. Frau Lispector ist demnach durchaus eine begabte Autorin gewesen. Nur das Publikum sollte auch zu ihren Arbeiten passen. Man sollte sich auf Hochliteratur und äußerst kafkaeske Szenarien und Formulierungen einstellen, wenn man sich an diese anspruchsvolle Autorin heranwagt, denn es gibt nicht wenige Geschichten, in denen fast jeder Satz ein Rätsel ist, welches häufig ungelöst bleiben muss. So die wild assoziierte Geschichte um einen nächtlichen Traum „Wo wart ihr in der Nacht“ als exzentrischer „Höhepunkt“ der Sammlung mit Sätzen wie: „Doch sie streuten gemahlene Pfefferschoten auf ihre Genitalien und krümmten sich vor brennendem Schmerz. Und plötzlich der Hass. Sie brachten einander nicht um, verspürten aber einen so unerbittlichen Hass, dass es war, als träfe ein Wurfpfeil einen Körper. Und sie jauchzten, verdammt durch das, was sie spürten. Der Hass war Erbrochenes, das sie von einem größeren Erbrochenen befreite, dem Erbrochenen der Seele.“ (Definitiv die Geschichte, durch welche ich mich am meisten quälen musste.)

    Um schon einmal ein Resümee zum Inhalt und Stil der Kurzprosa zu ziehen: Aufgrund der durchwachsenen Leseerfahrung würde ich an diesem Punkt als Bewertung 3 Sterne vergeben. Allerdings ist meines Erachtens hier die Ausgabe des Manesse Verlags als Gesamtheit zu betrachten und auch so zu bewerten:

    Wie schon erwähnt, ist das Büchlein wirklich sehr hübsch gestaltet und liegt in seinem kleinen Format gut in der Hand. Allerdings gibt es meiner Meinung nach an einigen Stellen Minuspunkte in der editorischen Arbeit. So ist am augenscheinlichsten, dass sich an keiner Stelle im Buch oder auf dem Schutzumschlag biografische Angaben zur Autorin finden lassen. Wer das Buch im Buchladen zur Hand nimmt und noch nichts zur Autorin weiß, könnte nicht einmal das Geburts- und Sterbejahr zur groben historischen Einordnung erfahren! Bei egal welcher Lektüre ist das für mich eine absolute Grundlage für jede Buchveröffentlichung. Ich möchte einfach nicht eine Internetsuchmaschine für die aller grundlegendsten Informationen bemühen müssen. Darüber hinaus sind auch die einzelnen Geschichten nicht mit einer Jahreszahl versehen, sodass man sie historisch und biografisch einordnen könnte. Allein, dass sie chronologisch geordnet seien, erfährt man ganz zum Schluss der Lektüre, mehr aber auch nicht. Gerade ein Sammelband zu einer modernen Klassikerin sollte diese Einordnung anhand von original Veröffentlichungsjahren doch ermöglichen. Des Weiteren schwanken die zu den Geschichten vorhandenen 83 Anmerkungen, welche laut editorischer Notiz in Zusammenwirken aus Übersetzer und Manesse Verlag entstanden sind, stark in ihrer Qualität und Nachvollziehbarkeit. So geben viele Anmerkungen durchaus für das Verständnis der Sätze Lispectors wichtige Hinweise bezüglich genutzter Zitate, Anspielungen und genannten Personen. Andererseits fragt man sich, warum den Lesenden dieser anspruchsvollen Geschichten nicht mehr Allgemeinwissen zugesprochen wird, und erläutert wird, wer Händel, Kissinger oder Édith Piaf war; wenn ein ausgerufenes „Viva!“ mit der Anmerkung versehen wird: „Port. «Leben!»“. An anderer Stelle erscheinen die Anmerkungen dann genauso wenig selbsterklärend und kryptisch wie der Text von Lispector selbst. Da klafft etwas in der Auswahl der Anmerkungen meilenweit auseinander, was den Lesefluss durchaus stört.

    Schweren Herzens kann ich somit in der Gesamtheit dem Buch nur eine 2-Sterne-Bewertung geben, da es mir zu viele Punkte Abzug für die formelle Gestaltung gab. Das Buch würde ich nicht pauschal verurteilen und von der Lektüre ist durchaus nicht von vornherein abzuraten, aber jede Person mit Interesse an der Autorin sollte sicherheitshalber in einem Buchladen mal aus dem ersten, dem mittleren und dem letzten Teil des Buches eine Geschichte lesen, um abschätzen zu können, ob die Lektüre wirklich für einen selbst passt. Die digitale Leseprobe, welche lediglich die ersten drei der insgesamt 30 Geschichten abbildet, ist definitiv noch keine valide Quelle für eine gute Entscheidung.

    Also heißt es nun: Mutige vor! Diese fordernde Lektüre benötigt hochmotivierte Leser:innen, die Gefallen an im höchsten Maße anspruchsvoller Literatur haben.

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  1. Wie ein Strauß seltsamer Rosen,

    ...so möchte ich die 30 Kurzgeschichten in "Ich und Jimmy" von Clarice Lispector, nicht ohne Hintersinn, beschreiben.
    Denn die Rosen sind es, die als lose verbindendes Element in den Geschichten, der 1920 in der Ukraine geborenen und 1977 in Rio verstorbenen Schriftstellerin, ab und an auftauchen. Mal sind es die gestohlenen aus Nachbars Garten, mal ist es das frisch erworbene Gebinde, dass sogleich weitergegeben wird, weil sich die Besitzerin ihrer nicht würdig empfindet. Mal ist es die vom Leben gelangweilte, wartende Ehefrau, die sich um jede Befindlichkeit, bis ins Absurde steigende, Gedanken macht, oder aber das junge, verschüchterte Mädchen, die sich als zu laut und auffallend empfindet und damit das Böse heraufbeschwört.
    Lispector zeigt uns so unterschiedliche Frauenfiguren, von der Adoleszenz bis zur Seneszenz, von der keuschen Unschuld bis zur Stripperin im Nachtclub, der heimlich verliebten Schülerin, bis zur abkanzelnden Jubilarin. Erst zum Schluss wird deutlich, wie sehr ihr eigener Lebenslauf Einfluß auf diese Geschichten, gemischt mit Fabulierlust und symbolischen Überzeichnungen, gehabt hat. Die zwei Frauen im Zug, sich gegenübersitzend, jede in ihren Gedanken versunken, mag die Sprachlosigkeit aufzeigen, die Lispector vielleicht empfunden hat, als sie ihrem Eheman in die Fremde gefolgt ist.

    Eines aber bleibt den Firguren gleich. Sie sind sämtlich aus unserer Zeit gefallen und muten mit ihrem Gebaren exotisch an. Sie wollen nicht so recht in Zeiten der Emanzipation passen und brechen doch überraschenderweise die Konventionen. So unterschiedlich die Geschichten sind, so sehr muss man sie aber auch in ihrer Gesamtheit beurteilen. Die vom Verlag übernommene folgerichtige Chronologie der Texte wird deutlich, wenn die Protagonistin aus ihrem Geschehen hinaustritt, sich über ihre Schöpferin (Lispector) beschwert und sogar auf eine vorangegangene Geschichte Bezug nimmt.

    Unvertraut mit Lispectors sonstigem Schaffen, fiel es mir stellenweise recht schwer, dabeizubleiben, sie zu verstehen. Zu absurd schien mir dieses und zu banal jenes. Doch ein paar Perlen waren zu finden und mit "Tag um Tag", einem Tagebucheintrag, gibt uns die Autorin selbst die Erlaubnis "die Literatur nicht so wichtig zu nehmen". Also, alles gut!

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