Gipskind: Roman

Rezensionen zu "Gipskind: Roman"

  1. Emanzipation eines Dorfmädchens

    Andrea wächst in den 1960er Jahren auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf in der Steiermark auf. Aufgrund einer Hüftdysplasie muss sie im Alter von neun Monaten für längere Zeit ins Krankenhaus. Dort bekommt sie ein Gipskorsett, das sie schwer und unbeweglich macht. In ihrer Familie gilt sie nichts. Die lieblose Mutter hält sie für einen Nichtsnutz mit den verkrüppelten Beinen, sie zeigt kein Mitgefühl, führt ein rigides Regiment, dem sich auch der Vater nicht entgegenstellt. Einziger Lichtblick für das Mädchen ist die Großmutter, die sie liebevoll umsorgt, ihr Geschichten erzählt und sie auch im Leiterwagen herumfährt, solange sie nicht selbst laufen kann. Aufgrund der beengten Lebensverhältnisse der Familie leben die beiden jahrelang zusammen in einem Zimmer. Sie helfen sich gegenseitig und vertrauen einander.

    Früh merkt man, dass „die Kleine“ einen wachen Verstand hat. Sie hinterfragt Dinge, um dazu zu lernen. Gängige Lügen der Erwachsenen beflügeln ihre Fantasie, führen aber auch dazu, dass sie von anderen Kindern verlacht wird, weil sie manches zu wörtlich nimmt. Zahlreiche Episoden schildern das Aufwachsen des Kindes. Mal wird das Mädchen altersmäßig vollkommen überfordert, mal ungerechtfertigt hart bestraft, mal zeigt sich humorvoll ihre kindliche Naivität. In allem kristallisiert sich aber der aufrechte, starke Charakter des Mädchens heraus: Sie nimmt ihr Umfeld, wie es ist. Sie denkt nach, reflektiert und hadert nicht mit ihrem Schicksal. Stattdessen versucht sie, das Beste aus allem zu machen. Sie entwickelt zunehmend altersangepasste Strategien, um ihre Interessen konsequent durchzusetzen.

    Eine Lehrerin wird durch gute Aufsätze auf Andrea aufmerksam und setzt sich dafür ein, dass das Mädchen auf eine weiterführende Schule nach Graz gehen darf. Erst als feststeht, dass dafür keine zusätzlichen Kosten anfallen, erlauben es die Eltern. Sie bekommt neue Eindrücke in der Stadt und lernt ihren Freund Arthur kennen, der aus dem Bildungsbürgertum stammt. Sie vergleicht ihrer beider Lebensumfelder und sieht die Unterschiede der Familien, ohne ihre eigene Herkunft zu verdammen.

    Andrea begeistert sich zunehmend für Kunst, Theater und Musik. Zahlreiche Lieder und Texte kommen im Roman vor, so dass man sich als älterer Leser in der Zeit zurückgebeamt fühlt. Andrea schwimmt sich nach und nach frei, sie verlässt ihr enges familiäres Korsett - soweit es geht ohne Bruch mit ihrer Familie. Lange weiß sie noch nicht, was sie konkret mit ihrem Leben anfangen will, allerdings möchte sie eines Tages weg aus der Gegend, um mehr Perspektiven zu haben, als dort geboten werden. Das gelingt paradoxerweise deshalb gut, weil es den Eltern relativ egal ist, was sie tut, solange es kein zusätzliches Geld kostet. (Kontrastierend dazu wird im Verlauf des Romans auch deutlich, dass zu große elterliche Fürsorge und Erwartung ebenso ein Ballast für das eigene Fortkommen sein können.)

    „Gipskind“ ist ein Entwicklungsroman. Ich gehe davon aus, dass die 1960 geborene Autorin sehr viel selbst Erlebtes in diesen Roman hat einfließen lassen. Insofern ist er ein wunderbares Portrait dieser Zeit und der geschilderten Lebensumstände. Mit Andreas und Arthurs Herkunft treffen zwei komplett unterschiedliche Welten aufeinander, die Autorin zeigt deren Stärken und Schwächen. Nebenfiguren lassen politische und gesellschaftliche Strömungen, Rassismen und Vorurteile vielfältig zutage treten. Der Roman liest sich flüssig und interessant, sprachlich werden einige Worte aus dem österreichischen Sprachraum verwendet, die Authentizität verleihen und leicht nachzuschlagen sind. Die Authentizität ist aus meiner Sicht eine große Stärke des Romans. Andrea war von Anfang an körperlich gehandicapt. Das hat sie nicht gebrochen, sondern stärker gemacht. Dabei mutiert sie nicht zur Superheldin, sie hat keine brillanten Schulnoten, sie ist anfangs nicht besonders ehrgeizig oder zielbewusst. Sie entwickelt sich ganz allmählich. Das macht die Figur in meinen Augen so glaubwürdig.

    Nicht gefallen hat mir, dass das Mädchen bis zur Mitte des Buches „die Kleine“ genannt wird. Erst als sie ihren Freund Arthur kennenlernt, bekommt sie im Alter von etwa 15 Jahren eine Identität und einen Namen. Das ist so gewollt, dafür gibt es auch Gründe. Auf mich wirkte der dauernde Gebrauch der Substantivierung „die Kleine“ in der ersten Hälfte des Buches sprachlich störend.

    Gipskind ist ein sehr lesenswerter österreichischer Roman, der ebenso in anderen ländlichen Regionen angesiedelt sein könnte. Mich hat die Entwicklung des Kindes zur jungen Frau, die stellenweise sehr unter die Haut geht, durchgehend gefesselt. Man kann mitunter aber auch über die Protagonistin lachen oder sich mit ihr freuen. Gipskind ist ein Buch, das viele Emotionen zulässt, ohne gefühlsduselig zu sein. Ein Buch, das zeigt, dass man trotz widriger Umstände den eigenen Weg mitgestalten und sich Freiräume für ein selbst bestimmtes, eigenes Leben schaffen kann. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

    Teilen