Eine Art Familie

Buchseite und Rezensionen zu 'Eine Art Familie' von Jo Lendle
3.45
3.5 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Eine Art Familie"

Man sucht sich die Zeiten nicht aus, in die man gerät und die einen prägen. So wie Lud und Alma. Lud, 1899 geboren, und sein Bruder Wilhelm verehren Bach und Hölderlin und teilen dieselben unerreichbaren Ideale. Wilhelm, der früh in die nationalsozialistische Partei eintritt, misst andere daran, Lud sich selbst, was ihn ein Leben lang mit sich hadern lässt. Alma hat ihre Eltern schon als Kind verloren. Ihr Patenonkel Lud, wenig älter als sie selbst, und seine Haushälterin werden ihr eine Art Familie werden. Als Professor für Pharmakologie erforscht Lud den Schlaf und die Frage, wie man ihn erzeugen kann. Während er die Tage an der Universität verbringt, kann Alma zu Hause nicht aufhören, an ihn zu denken. Als er beginnt, Giftgas zu erforschen, erzählt er ihr nichts davon. Sein Ringen mit den hehren Idealen wird verzweifelter. Denn da ist auch noch Gerhard, an dessen Seite er im Ersten Weltkrieg kämpfte, den er nicht aus seinem Kopf bekommt. Vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die junge DDR bis in die Bundesrepublik der Nachkriegszeit führt Jo Lendles raffiniert erzählter Roman über das Zerbrechen einer Familie, über Schuld, über Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Welt und die feinen Unterschiede zwischen Schlaf, Narkose und Tod. Es ist die Geschichte einer deutschen Familie – zufällig seiner eigenen.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:368
Verlag:
EAN:9783328601944

Rezensionen zu "Eine Art Familie"

  1. Eine Art Roman

    Schon als Kind hat Alma ihre Eltern verloren. Ihr Patenonkel Ludwig Lendle, genannt Lud, ist nur wenig älter als sie selbst und noch ein Student, als sie nach mehreren Umwegen schließlich bei ihm unterkommt. Zusammen mit dessen Haushälterin werden sie eine Art Familie in unruhigen Zeiten…

    In „Eine Art Familie“ wandelt Autor Jo Lendle auf den Spuren seiner Vorfahren.

    Meine Meinung:
    Das Buch beginnt mit einem Prolog. Der Roman besteht aus sechs Teilen, die wiederum mehrere Kapitel beinhalten. Erzählt wird aus der Perspektive von Lud, Alma und Frau Gerner. Am Ende springt der Erzähler überraschenderweise in die Ich-Perspektive, also in die Sicht des Großneffen.

    Eine der Stärken des Buches ist die Sprache. Sie ist zugleich klar, schnörkellos und intensiv, aber auch voller ansprechender Metaphern und sonstiger Bilder.

    Im Fokus steht einerseits Lud, ein ambivalenter Charakter. Obwohl der Autor ihn nicht persönlich kannte, ist ihm eine authentisch wirkende Personenzeichnung gelungen. Andererseits nimmt Alma eine zentrale Rolle ein. Sie erscheint als sympathische und selbstbewusste Protagonistin. Zu guter Letzt sticht auch Fräulein Gerner, Luds Haushälterin, ein wenig hervor. Zusammen bilden sie eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft.

    Inhaltlich geht es um einen Teil der Familiengeschichte von Jo Lendle. Das Buch basiert daher auf wahren Begebenheiten. Aufhänger ist das Leben seines Großonkels Lud. Der Autor speist das Buch sowohl aus Familienanekdoten und mündlichen Überlieferungen als auch aus Briefen, Dokumenten und vor allem Tagebüchern seines Großonkels. Mit Ludwig reisen wir durch die Zeiten der beiden Weltkriege, das Kaiserreich, den Nationalsozialismus, den DDR-Sozialismus und die Anfänge der Bundesrepublik. Dabei bekommt man beim Lesen erfreulich viel von der jeweiligen Historie und vom Zeitgeist mit.

    Zwar ist Lendle bemüht, die einzelnen Stationen zu verbinden. Trotzdem bleibt das Buch episodenhaft und auf den rund 360 Seiten zudem bedauerlicherweise recht spannungsarm. Für mich ist es daher kein Roman im klassischen Sinne, allerdings auch keine Autobiografie, sondern eine etwas unbefriedigende Mischform.

    Das letzte Kapitel zeigt die Verbindung zwischen Autor und Lud besonders auf. Dennoch hätte ich mir ein stärker einordnendes Nachwort gewünscht, zum Beispiel im Hinblick darauf, wie es sich mit Fakten und Fiktion im Buch verhält und wie sich der Autor das Leben des Großonkels erschlossen hat. Um das herauszufinden, musste ich selbst recherchieren.

    Das symbolhafte Cover gefällt mir gut. Auch der Titel ist treffend formuliert.

    Mein Fazit:
    Mit „Eine Art Familie“ hat mich Jo Lendle leider nur in den Ansätzen überzeugt. Während das Buch sprachlich sehr gelungen ist, zeigen sich inhaltlich mehrere Schwächen.

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  1. 4
    23. Okt 2021 

    Die Wohngemeinschaft

    Jo Lendle, Autor und Verleger, fand den Stoff für seinen fünften Roman in der eigenen Familie, in der Figur seines Großonkels, dem Pharmakologen Ludwig Lendle. Anhand dessen Lebensgeschichte , geboren „ im letzten Jahr des alten Jahrhunderts“, gestorben 1969, durchstreift er beinahe das ganze 20. Jahrhundert.
    Als die junge Alma in Ludwigs Leben tritt, ist er noch Student, hat aber schon die Schrecken des Krieges hinter sich. Alma, die auf tragische Weise kurz nacheinander beide Eltern verlor, war die Patentochter seines Vaters ( nicht verwandt). Nach dessen Tod übernimmt Lud, wie er in der Familie genannt wird, die Rolle des Patenonkels und holt die nur wenige Jahre jüngere Frau zu sich. Gemeinsam mit Fräulein Gerner, seiner Haushälterin, werden die drei beinahe ihr ganzes Leben hindurch eine Wohngemeinschaft führen, eine Art Ersatz- Familie. „ Drei eigenartige Menschen, von Zufällen zusammengewürfelt, ohne rechte Verbindung und ohne Zukunft. Drei Lebensläufe, von denen man nur eines lernen kann: Wie man ausstirbt.“ , wie es im Buch dazu heißt.
    Von der eigenen Familie, von Mutter und Bruder Wilhelm, wendet sich Lud Anfang der 1930er Jahre ab. Denn Wilhelm schließt sich schon früh der neuen Partei an und wird glühender Nationalsozialist. Auch die Mutter teilt deren Gedankengut und hat sowieso schon immer den Bruder bevorzugt. Ludwig dagegen lehnt das neue Regime ab. Als z.B. im medizinischen Institut eine Hakenkreuzfahne angeschafft werden soll und sich Ludwig dagegen ausspricht, bekommt er Ärger. ( „ Sie hätten gesagt: Bevor eine Fahne angeschafft würde, müssten Sie erst ein neues Sofa bekommen; bekämen Sie das nicht, so würden Sie die Fahne nehmen, um die Löcher im Sofa zuzudecken.“)
    Trotzdem kann sich Ludwig nicht ganz den neuen Machthabern entziehen. Seine Forschungen zum Schlaf und zur Narkose, seine Experimente mit Giften, sind für das Militär von Belang. Er wird während des Krieges für das Heereswaffenamt arbeiten.
    Nach Kriegsende bleibt Ludwig zunächst in Leipzig, als Prorektor der dortigen Universität, geht dann aber in den Westen, an die Universität Göttingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1969 bleibt und forscht.
    Jo Lendle macht keinen Helden aus seinem Großonkel. Er zeigt eher, wie schwierig es als Naturwissenschaftler ist , sich dem Missbrauch seiner Forschungen entgegenzustellen. Und er bietet einen interessanten Einblick in dessen Forschungen, u.a. zum Schlaf. „ Am unerklärlichsten bleibt der Schlaf.“ Wozu brauchen alle Lebewesen den Schlaf? fragt er sich. Ist womöglich das wahre Leben nicht der Wach- Zustand, sondern die Zeit des Schlafes? „ Das Dasein, das ihm ( dem Menschen ) gerecht wird, für das er geschaffen ist? Nur manchmal tauchen wir unwillig daraus hervor, nehmen Nahrung auf, sorgen für unsere Körper, entleeren uns und dürfen endlich wieder zurück. Drüben, auf der anderen, der besseren Seite, versteht man kaum, wozu die Unterbrechung gut sein soll, … Wir sind nichts als ein verschwommener Traum. Was wir Leben nennen, ist der Schlaf des Schlafs.“
    Jo Lendle zeichnet seinen Protagonisten als eine eher schemenhafte Figur, die sich dem eigentlichen Leben entzieht. ( „…dass Ludwig durch sein Leben gleite wie abwesend.“) Einer, der zwar in seiner wissenschaftlichen Arbeit aufgeht, aber ansonsten seine Erfüllung in den Künsten, der Literatur und vor allem der Musik, findet. Wirklich glücklich war Ludwig nur mit Gerhard, einem Kameraden, mit dem er gemeinsam im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Doch diese Liebe konnte nicht gelebt werden und so hat er begonnen, den emotionalen Anteil in sich wegzuschließen. Seine Zurückhaltung und Verschlossenheit machen es dem Leser nicht leicht, Zugang zu dieser Figur zu finden.
    Kraftvoll dagegen wird Alma gezeichnet. Sie ist eine neugierige und selbstbewusste Frau, die sich erstaunlich freizügig für ihre Zeit erweist. Sie verliebt sich bald in Ludwig, aber da diese Liebe unerfüllt bleiben muss, findet sie andere Wege. Trotzdem bleiben sie für immer in Freundschaft verbunden.
    Jo Lendle erzählt seine Geschichte chronologisch, und gemäß dem vorangestellten Motto von Stendhal: „ Mehr Details, mehr Details. Eigenart und Wahrheit liegen nur im Detail.“
    Und so finden sich im Buch unzählige Begebenheiten, Episoden und Anekdoten. So z. B. diejenige, wie Ludwig mit Alma und Fräulein Gerner mit einem britischen Rosinenbomber aus Berlin ausgeflogen wurden, „ auf dem Rückweg der Luftbrücke blieb Kapazität für Passagiere.“
    Das liest sich oft unterhaltsam und ist meist interessant. Allerdings ist es kein Roman, der auf Spannung und Höhepunkte setzt. Das entspricht dem Wesen von Ludwig und Alma, die oft das Gefühl haben, das Leben finde anderswo statt. Es fehlen auch die großen Emotionen. Ludwig kann sie nicht zeigen und Alma fehlt das Objekt.
    Ich habe den Roman gerne gelesen. Dazu trug auch die Sprache des Autors bei. Er findet ungewöhnliche Bilder und Vergleiche und schreibt viele kluge Sätze. „ Nie wurden die Dinge von Grund auf neu geschaffen, immer lagerte sich das Neue einfach auf der Überlieferung ab, ohne sie ungeschehen zu machen. In ihren Körpern, in der Geschichte und in jedem einzelnen Leben.“
    Jo Lendle stützt sich in seinem Buch auf Briefe, Aufzeichnungen und Tagebücher seines Onkels. Die fanden sich in seinem Nachlass; Koffer voll davon, alle mit der Aufschrift „ Nach meinem Tode ungeöffnet verbrennen.“ Die Familie hat sich nicht an Ludwigs Wunsch gehalten, sondern die Papiere der Universität Leipzig gestiftet. Zuvor aber hat Jo Lendle daraus diesen lesenswerten Roman gemacht, angereichert mit fiktiven Elementen.

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  1. Brauchen Bücher immer eine Absicht?

    Wenn dem so ist, dann habe ich sie in diesem Roman wohl nicht eindeutig gefunden. Oder aber es ist, wie die NZZ behauptet, "eine Geschichte, die mehr als nur eine Geschichte erzählt". Ob dies gelungen ist, da mag jeder selbst urteilen. Mir allerdings fehlte in jedem Leseabschnitt ein Aspekt des Geschehens, dessen Absenz im nächsten zwar ausgefüllt, sogleich aber neue Lücken gerissen hat.
    Jo Lendle erzählt die Geschichte seines Großonkels Ludwig, der zur Jahrhundertwende geboren, die Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs durchlebte, die junge DDR kennenlernte, seinen Lebensabend aber in der BRD beschloß. Umkreist wird diese Vita von dessen, nur wenige Jahre jüngeren, früh verwaistem Patenkind Alma und der Zugehfrau Paula Gerner.
    Ludwig widmet sein Leben der Wissenschaft und forscht auf dem Gebiet des Schlafes und der Narkose, welches sich in Kriegszeiten auch auf Giftgase erweitert. Alma verliebt sich in Ludwig, der diese Liebe aber nicht erwidern kann, da er im eigenen Geschlecht die größere Leidenschaft entdeckt. Almas Jugend in den Goldenen Zwanzigern führen sie auch nur über lose Männerbekanntschaften in die Einsamkeit an Ludwigs Seite und so begleiten sie sich ein Leben lang.
    Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen leiten episodenhaft durch die Geschichte, in der wir viele bekannte Namen aus der Forschung begegnen dürfen und auch von seinem gespaltenen Verhältnis zu seinem Bruder Wilhlem und den immer tieferen Bruch zu seiner Mutter erfahren.
    Wilhelm ist es, der eine Familie gründet und Kinder bekommt. Ludwigs Neffe führt dann die Geschichte auch weiter, entpuppt sich dieser doch als Jo Lendles Vater, obwohl der Autor diese Unmittelbarkeit durch die hartnäckige Bezeichnung als "der Neffe" auf Abstand zu halten versucht. Erst mit seiner eigenen Geburt und der kurzen Zeitspanne des Zusammenseins mit seinem Großonkel, wird Tacheles gesprochen, da ist die Geschichte aber auch schon zu Ende und man blickt verwundert zurück.

    Verwundert, weil die Sprache Jo Lendles doch eine sehr feinsinnige, umschreibende, niemals ins Unflätige abfallende, Sprache ist, der man gern zuhört. Sie hat auch viel zu erzählen. Aber bei genauerer Betrachtung ist es ein Flickenteppich der Geschichte, die uns hier präsentiert wird. Es ist ein Teil der eigenen Familiengeschichte, ein Teil seiner Trabanten und ein Teil eines Jahrhunderts, der nicht nur Lendles Familie sondern allen und allem Umbrüche und Neuorientierung abverlangt hat.

    Mir fehlte die Konzentration auf Jemanden oder Etwas. Ludwig könnte der Mittelpunkt sein, doch dazu fehlte Jo Lendle der Mut zum Auserzählen, zum Füllen der Lücken, die die wenigen Hinweise, die er in Ludwigs Tagebüchern fand, mit Fiktion ein wenig hätten ausschmücken können. Stattdessen flüchtet er sich in den Nebenfiguren, rast durchs Geschehen, schneidet die Schlaf- und Narkoseforschungen an und philosophiert ein wenig über den Schlaf. Der Text ist gespickt mit vielen interessanten Sidesteps, die neugierig machen, aber leider auch ablenken. So schweiften meine Gedanken oft ab, das Buch war mir dabei ein ruhiger, nicht ins Wort fallender Begleiter.

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  1. Blick auf den Großonkel in einem verlorenen Jahrhundert

    Jo Lendle beschäftigt sich im vorliegenden Roman mit seiner eigenen Familie und zwar primär mit dem Leben seines Großonkels Ludwig Lendle, Jahrgang 1899. Dieser hat zahlreiche Notizhefte über sein Leben, seine Gedanken und seine Zeit hinterlassen, die die Grundlage dieser Geschichte bilden. Der Großonkel hatte später eine zugeneigte Beziehung zum Sohn seines Bruders Wilhelm, der wiederum der Vater des Autors wurde.

    Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag und schildert, wie im Jahr 1912 die 11-jährige Alma Grau durch unglückliche Zufälle kurz hintereinander beide Elternteile verliert. Nach langer Zeit in wechselnder Obhut darf sie im Alter von 16 Jahren endlich zu ihrem unwesentlich älteren Patenonkel, eben jenem Ludwig Lendle, ziehen, der in einer geräumigen Frankfurter Wohnung zusammen mit seiner Haushälterin Fräulein Gerner lebt. Über Jahrzehnte hinweg bildet dieses Trio eine Schicksalsgemeinschaft, „eine Art Familie“, in der man gegenseitig füreinander sorgt und füreinander da ist.

    Alle Drei haben in ihrem Leben bereits Enttäuschungen und Verletzungen ertragen müssen, gehen aber unterschiedlich damit um. Insbesondere Ludwig ist ein zur Melancholie neigender Charakter, der sich in stillen Stunden philosophischen und tiefsinnigen Gedanken hingibt. Insbesondere leidet er unter unerfüllten Leidenschaften, wirkt zuweilen orientierungslos. Alma fühlt sich sehr zu Ludwig hingezogen, unglücklicherweise kann er mit ihren Avancen jedoch nichts anfangen. Alma macht das Beste aus dieser Situation. Fräulein Gerner kann man als die gute Seele des Haushalts bezeichnen. Ludwig studiert Pharmakologie. Später wird er als Professor den Schlaf erforschen, woran sich Versuche in Richtung optimaler Narkosemittel anschließen. Im Dritten Reich wird er an der Erforschung von Giftgasen und deren Gegenmitteln arbeiten.

    Der Roman zeigt die gesellschaftlichen Verhältnisse und den Zeitgeist des vergangenen Jahrhunderts. Man erfährt viel über die Schrecken des Großen Krieges, den Zusammenbruch der Monarchie, über die lebendigen 1920er Jahre, die in die Wirtschaftskrise und später in die Zeit des Nationalsozialismus münden, über die Entnazifizierung bis hin in die 1960er Jahre. Die Geschehnisse orientieren sich an den Erlebnissen und Erinnerungen Ludwigs. Es wird nichts wirklich auserzählt. Man bewegt sich von Episode zu Episode. Der Schreibstil selbst ist aus meiner Sicht sehr ansprechend. Lendle schreibt eindringlich und klar in kurzen Sätzen. Manches bleibt im Raum schweben, so dass man zwangsläufig über dessen Bedeutung nachsinnen muss. So zum Beispiel über den Schlaf: „Wir schenken ihm große Teile unseres Lebens, als hätten wir nichts Besseres zu tun. Eine Opfergabe, und niemand fragt, was er dafür bekommt. Wir tun es einfach.“ (S. 97) Oder über den Krieg: „Auch wenn er im Alltag lange vergangen schien, war der Krieg eben erst vorbei. Die Schrecken waren nicht fort, sie waren nur vorüber.“ (S. 322) Derlei Bonmots gibt es zahlreich.

    Zum Zeitgeschehen selbst wird meistens Distanz gehalten, es spielt sich mehr im Hintergrund ab und wird weder reflektiert noch kommentiert. Im Vordergrund steht Ludwig Lendle, im Verlauf des Romans immer stärker. Wir erfahren vieles über seinen beruflichen Werdegang, seine Familie, seinen Lebensverdruss. Das konnte mich nicht in dem Maße fesseln, in dem es dargestellt wird. Manches war mir einfach zu privat oder nicht von allgemeiner Bedeutung. Während in der ersten Hälfte des Romans auch Alma eine tragende Rolle innehat und in ihrer Experimentierfreude einen guten Kontrast zu Ludwig bildet, wird ihr Anteil in der zweiten Hälfte geringer.

    Für mich trat die Handlung zunehmend auf der Stelle, die inneren Befindlichkeiten Ludwigs erschienen mir redundant. Obgleich ich mit großer Begeisterung in den Roman eingestiegen bin, hat er mich im Verlauf verloren. Das sprachlich hohe Niveau mit tiefgründigen Sätzen und stimmiger Metaphorik konnte mir die fehlende Entwicklung oder eine Spannungskurve nicht ersetzen. Es war eine zähe Lektüre. Als Pluspunkt muss man den Überblick über ein bewegtes, "verlorenes" Jahrhundert aus Sicht eines Soldaten/Studenten/Wissenschaftlers vermerken. Immer wieder blitzt Gesellschaftskolorit auf, im Kleinen wie im Großen wird man anhand der Biografie Lendles durch die Zeit, ihre Umstürze und Veränderungen geführt. Da gibt es auch Dinge zu entdecken, über die man vorher wenig wusste.

    Für mich ein durchwachsenes, ambivalentes Leseerlebnis, für das ich nur eine eingeschränkte Empfehlung geben möchte.

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  1. "Drei eigenartige Menschen, von Zufällen zusammengewürfelt"

    Der Roman erzählt die Lebensgeschichte Ludwig Lendles, der im ersten Weltkrieg als Soldat gedient hat und dort seine große Liebe Gerhard kennen gelernt hat. Zeit seines Lebens ist es ihm nicht möglich seine Homosexualität offen auszuleben, statt dessen lebt er in einer Art Familie.

    Seine Familie besteht aus Alma Grau, deren Vater als Gardist bei einem Attentat im Jahr 1912 ums Leben kommt. Tragischerweise stirbt auch ihre Mutter auf dem Weg zu ihrem toten Mann. Da ist Alma 11 Jahre alt und nachdem sie in einigen Pflegefamilien gelebt hat, wird sie zu ihrem Paten geschickt: Ludwig Lendle, der jedoch kaum älter als sie und auch nicht mit ihr verwandt ist. Er liebt klassische Musik und ist noch im Studium. In der Wohnung, die er vom Ehepaar Mensch gemietet hat, lebt auch die Haushälterin Fräulein Paula Gerner, gemeinsam bilden sie ein Zweckgemeinschaft, die mit wenigen Unterbrechungen, bis zum Lebensende Ludwigs bestehen bleibt.

    Der Roman erzählt die verschiedenen Lebensstationen Ludwigs, der der Großonkel des Autors ist, der Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen gefunden hat und auf deren Basis diese Biographie entstanden ist. Das Tagebuch, in dem auch Alma immer heimlich gelesen hat, scheint recht sachlich und trocken formuliert zu sein, so dass auch der Roman selbst relativ nüchtern erscheint und nur wenig Innensicht bietet - am ehesten noch erfahren wir Almas Gedanken, die sich in ihren Paten verliebt - hoffnungslos.

    Wilhelm, Ludwigs Bruder, wird überzeugter Nationalsozialist, während er selbst sich politisch neutral verhält, allerdings mit Giftgasen und ihren Gegenmitteln experimentiert. Seine Notizen bleiben auch in dieser Lebensphase nüchtern, selbst beim Anblick der jüdischen Ghettos - ein Umstand, der meines Erachtens stärker hätte problematisiert werden müssen.

    Nach dem Krieg bleibt er zunächst im Osten, in Leipzig, gelangt jedoch noch lange vor dem Mauerbau in den Westen. Eine Episode, die recht interessant erzählt wird. Immer wieder rückt auch Alma in den Mittelpunkt, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und von Ludwig finanziell unterstützt wird. Am Ende des Romans steht der Vater des Autors im Fokus.

    Der Roman schildert das Leben Ludwig Lendles, bietet einen Einblick in die deutsche Geschichte nach dem 1.Weltkrieg bis zum Ende der 60er Jahre, Alltagsgeschichte sozusagen. Auch Almas Entwicklung wird erzählt, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie sich nur wenig verändert. Daneben enthält der Roman teilweise interessante Gedanken und Denkanstöße, trotzdem hat mich die Lektüre eher gelangweilt. Man springt von Lebensstation zu Lebensstation, ohne dem Menschen Ludwig Lendle wirklich nahe zu kommen. Das mag an der Außenperspektive liegen oder auch daran, dass diese Lebensgeschichte mich nicht ausreichend interessiert hat oder auch an der episodenhaften Erzählweise. Nur die Sprache hat mir gefallen.

    Insgesamt kein Roman, den ich weiterempfehlen würde.

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  1. 5
    13. Okt 2021 

    Eine gebrochene Familiengeschichte

    Die Familie, die Jo Lendle uns in „Eine Art Familie“ in einem Zeitraum, der sich über die große Spannbreite des 20. Jahrhunderts erstreckt, vorstellt, passt nicht in das klassische Familienmuster, sondern wäre besser als lebenslange Wohngemeinschaft zu beschreiben. Die Spannung dabei liegt darin, dass eine solche Lebensform eben alles andere als normal und selbstverständlich war in den Zeiten, über die wir hier hauptsächlich sprechen. Im Zentrum der Gemeinschaft steht Lud, ein Wissenschaftler, der sich pharmakologischen und medizinischen Fragen widmet, den vor allem der Schlaf und die davon abgeleitete Anästhesie fasziniert. Zu ihm gesellt sich seine nur 2 Jahre jüngere Patentochter, die Tochter von Freunden (nicht Familie!), nachdem diese beiden dramatisch ums Leben kamen und ihre Tochter Alma als Waise zurücklassen. Als dritte im Bunde gesellt sich Fräulein Gerner, die „übriggebliebene“ Bedienstete der Vorbesitzer der Wohnung hinzu. Also ein zusammengewürfelter Haufen von 3 eher wenig zueinander passender Menschen, die aber mit einigen Pausen zeitlebens eine Wohngemeinschaft bilden werden und die Unbilden der Zeit miteinander erleiden, erleben und durchstehen.
    Ihre Gemeinschaft beginnt zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, der die Welt und die Menschen enorm zeichnet. Lud ist als sehr junger Kriegsteilnehmer mit dabei. Die Zeit danach erleben die Figuren des Romans als wirre Zeiten und verunsichert durch die Entwicklungen der Gesellschaft und Politik, von denen Lud und mit ihm Alma so gar nicht wissen, was sie damit anfangen sollen und wie das einzuordnen ist. Mitmachen ist keine Option, aber Nicht-Mitmachen bedeutet auch nichts Gutes, so empfindet es Lud:
    „Die revolutionäre Umformung des deutschen Volkes auch im Geistigen schreitet fort. Ich muss die Unabweisbarkeit dieser Entwicklung einsehen, aber ich kann nicht mitmachen. Fühle die Unmöglichkeit zu einem heroischen Leben. Ich bin also zur absoluten Resignation verurteilt, somit überflüssig. Selbstmord erwogen.”
    Alma ist derweil vor allem mit den Unwägbarkeiten ihrer körperlichen Gefühle und Sehnsüchte beschäftigt. Lud wäre ihr Wunschpartner, doch der ist ihr allenfalls freundschaftlich gewogen, hat auch erkennbar die falsche sexuelle Orientierung. Und so muss Alma ihre Sehnsüchte anderweitig ausleben und tut das in einer für ihre Zeit wohl sehr emanzipierten und freien Art und Weise.
    Luds wissenschaftliche Arbeit ist über den gesamten Zeitraum von Weimarer Republik, Drittem Reich und Nachkriegsdeutschland (DDR/BRD) niemals frei von politischer Einflussnahme und so forscht er an Dingen, die er sich bestenfalls schönredet und die doch letztlich kriegstreibend und machterhaltend wirken müssen.
    Und so verfolgen wir die beiden zusammengewürfelten Leben von Lud und Alma über das 20. Jahrhundert hinweg. Der Roman liefert eine romanhafte Schilderung deutscher Zeitgeschichte auf einem Hintergrund, den die gebrochene Familienperspektive für mich als Leserin sehr interessant gemacht hat. Die zerbrochene Tasse auf dem Buchcover steht stellvertretend für diese zerbrochene heile Familienwelt. Luds Nachname im Roman (Lendle) lässt darauf schließen, dass diese fiktionale Geschichte einen realen, wahren Kern hat und tatsächlich eröffnet uns der Autor im hinteren Teil des Romans seine eigene Identität in dem Personengeflecht als Großneffe von Lud Lendle. Und so hat uns der Autor mit diesem Buch eine unterhaltsame und den Zeitgeist mit vielen Brechungen einfangende Geschichte geschenkt, wohl aus dem Verlangen heraus, diesen unkonventionellen Zweig seiner Familie aufzuarbeiten. Gern gebe ich dafür 5 Sterne.

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  1. 4
    10. Okt 2021 

    Die Patentochter

    Almas Eltern versterben früh. Über verschiedene Stationen kommt sie Anfang der 1920er nach Frankfurt zu ihrem Patenonkel, der eigentlich nicht ihr Patenonkel ist. Ludwig Lendle ist kaum älter als sie. Pate war eigentlich sein Vater, der nicht mehr am Leben ist. Ludwig hat Alma gewissermaßen geerbt. In Frankfurt lebt er wegen des Studiums. Im Haus der Familie Mensch hat er eine Wohnung, die er sich mit Fräulein Gerner teilt. Und Alma vervollständigt die ungewöhnliche Wohngemeinschaft. In diesen ersten Jahren ist die Zeit relativ leicht, der erste Weltkrieg, in dem auch Ludwig diente, ist vorbei und es hat den Anschein, als genieße die Gesellschaft die Freiheit.

    Der Autor zeichnet, wie im Umschlagtext erläutert, die Geschichte seines Onkels nach. Wohl aus Erzählungen von Alma und aus Tagebüchern, die Ludwig hinterlassen hat. Nicht nur um die ungewöhnliche Wohngemeinschaft von Ludwig und den zwei Frauen geht es, auch um Ludwigs Bruder Wilhelm, dem die Eltern verbundener scheinen. Die Ursprungsfamilie wirkt wie ein Gegenpol zu Ludwigs Lebenswirklichkeit. Und doch mag sich Ludwig nicht fügen. Lieber studiert er, forscht und bleibt distanziert. Alma dagegen wirkt neugierig und nimmt die Dinge des Lebens in die Hand. Einen richtigen Beruf zu ergreifen, ist ihr nicht vergönnt.

    Diese Lebensbeschreibung verläuft trotz der turbulenten und auch grausamen Zeit, in der sie sich abgespielt hat, eher ruhig. Ludwig lässt Leidenschaft nur erahnen und Alma findet sich mit der Vergeblichkeit ab. Das Fräulein Gerner scheint den Rahmen der Sicherheit für ihr Wohlbefinden zu wünschen. Findet man sich mit der Beschreibung ab, die Höhen und Tiefen glättet, hat man eine interessante Familiengeschichte, die sehr authentisch wirkt. Zwei Arten von Familien, die sich durchs Nazi-Regime lavieren und irgendwie durchkommen. Wobei gerade Ludwigs Dreierfamilie für die Zeit wohl bemerkenswert ist. Das mag etwas fade klingen, die Geschichte sticht aber gerade deshalb hervor, weil sie so ungewöhnlich normal oder normal ungewöhnlich ist. So wird es häufig gewesen sein, man war dabei oder schwamm mit und hat die Augen verschlossen. Die Lebensbeschreibung des Ludwig Lendle bleibt zwar etwas distanziert gefällt aber durch ihre Ehrlichkeit.

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