Ein simpler Eingriff

Buchseite und Rezensionen zu 'Ein simpler Eingriff' von  Yael Inokai
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ein simpler Eingriff"

Format:Audible Hörbuch
Seiten:0
EAN:

Rezensionen zu "Ein simpler Eingriff"

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    04. Dez 2022 

    Lobotomie...

    Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen. (Klappentext)

    Einen ruhigen Roman hat Yael Inokai geschrieben, erzählt aus der Ich-Perspektive der jungen Krankenschwester Meret. Sie lebt im Schwesternwohnheim, teilt sich das Zimmer mit einer anderen Krankenschwester, fährt nur selten nach Hause zu ihren Eltern. In ihrer Arbeit als Krankenschwester hat sie eine Lebensaufgabe gewonnen, der sie sich mit Hingabe widmet. Der Professor wird auf sie aufmerksam, weil sie gegenüber den Patientinnen, die sie betreut, ein besonderes Einfühlungsvermügen aufweist. Er bezieht Meret zunehmend in seine Arbeit ein in der Behandlung psychisch kranker oder labiler Frauen. Er erprobt eine neue Methode und bittet Meret um ihre Assistenz, während er die nicht bewusstlosen Frauen am Gehirn operiert. Meret hat die Aufgabe, die Frauen abzulenken und zu beruhigen, so dass der Professor seine Arbeit ungestört verrichten kann.

    Marianne ist eine der Patientinnen, die der Professor operieren soll, nicht schlimmer als ein Zahnarztbesuch, verspricht dieser. Da Marianne aus gut betuchten Kreisen stammt, wird Meret dieser Patientin exklusiv zugeteilt. Sie soll sich ausschließlich um deren Belange kümmern und so lernt Maret die junge Frau besser kennen als jede Patientin davor. Als bei der Operation offensichtlich nicht alles so läuft wie geplant und sich hinterher Komplikationen einstellen, gerät Merets festes Weltbild allmählich ins Wanken. Die Bemerkungen ihrer Zimmergenossin Sarah tun ihr Übriges, zumal sich die beiden Frauen näher kommen. Was soll Meret nun glauben? Und wie soll es weitergehen?

    Yael Inokai hält vieles vage, auch die Zeit, zu der der Roman spielt, vermeidet konkrete Beschreibungen des Grauens, vieles müssen sich die Lesenden/Hörenden denken. Aber es ist rasch deutlich: hier geht es um die Lobotomie, einer Methode, die v.a. an psychisch auffälligen Frauen praktiziert wurde (schwerpunktmäßig in den 1940er und 50er Jahren), um sie wieder unauffällig und funktionsfähig in die Gesellschaft entlassen zu können. (Wer genaueres dazu wissen möchte, dem empfehle ich den Artikel aus dem GeoMagazin: https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/7221-rtkl-lobotomie-tiefe-schnitte-ins-gehirn). Der absolute Fortschrittsglaube, der Allmachtswahn der Ärzteschaft, die fehlenden empirischen Studien (es gab trotzdem den Nobelpreis für die "Erfindung" dieser Methode!) - all das wird hier nur leise angerissen, hinterlässt dennoch ein Grauen. Zudem die Andeutung, dass auch Merets Liebesverhältnis zu ihrer Zimmergenossin Sarah ein Grund für einen solchen Eingriff wäre.

    So kurz wie das (Hör-)Buch auch sein mag (4 Stunden und 34 Minuten, ruhig vorgetragen von Lisa Hrdina), so vage auch die Andeutungen sind, ist es doch ein sehr eindringliches Hörerlebnis. Die Rückblicke in Merets Familiengeschichte (auch nicht unkompliziert), die Liebesgeschichte zwischen Meret und Sarah (kein bisschen kitschig) und die Ereignisse um die experimentellen Eingriffe am Gehirn in der Klinik - all das bildet eine geschickt verwobene Erzählung, und die allmähliche Veränderung der Einstellung von Meret ist spannend zu beobachten. Wohin das letztlich führt, hat mich tatsächlich sehr überraschen können.

    Alles in allem ein empfehlenswerter Roman um eine junge Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen zunehmend den Glauben an die Macht der Medizin verliert. Die Platzierung auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises ist für mich absolut nachvollziebar.

    © Parden

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