Dunkelblum: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Dunkelblum: Roman' von Eva Menasse
4.85
4.9 von 5 (14 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Dunkelblum: Roman"

Jeder schweigt von etwas anderem. Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Kleinstadt wie jede andere. Doch hinter der Fassade der österreichischen Gemeinde verbirgt sich die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens. Ihr Wissen um das Ereignis verbindet die älteren Dunkelblumer seit Jahrzehnten – genauso wie ihr Schweigen über Tat und Täter. In den Spätsommertagen des Jahres 1989, während hinter der nahegelegenen Grenze zu Ungarn bereits Hunderte DDR-Flüchtlinge warten, trifft ein rätselhafter Besucher in der Stadt ein. Da geraten die Dinge plötzlich in Bewegung: Auf einer Wiese am Stadtrand wird ein Skelett ausgegraben und eine junge Frau verschwindet. Wie in einem Spuk tauchen Spuren des alten Verbrechens auf – und konfrontieren die Dunkelblumer mit einer Vergangenheit, die sie längst für erledigt hielten. In ihrem neuen Roman entwirft Eva Menasse ein großes Geschichtspanorama am Beispiel einer kleinen Stadt, die immer wieder zum Schauplatz der Weltpolitik wird, und erzählt vom Umgang der Bewohner mit einer historischen Schuld. »Dunkelblum« ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:528
Verlag:
EAN:9783462047905

Rezensionen zu "Dunkelblum: Roman"

  1. 3
    28. Feb 2023 

    Kleinstadt

    Lowetz kehrt nach dem Tod seiner Mutter zurück in die Kleinstadt Dunkelblum, um zu entscheiden, was mit seinem Elternhaus geschehen soll. Noch ist Sommer und er genießt die Tage. Er hat ja noch Zeit. Zur gleichen Zeit erscheint auch ein Fremder in der Stadt, der im Hotel ein Zimmer nimmt. Es ist das Jahr 1989 und man spürt schon die Veränderung in den Osteuropäischen Ländern. Lowetz erfährt, dass seine Mutter Informationen über die kleine Stadt und ihre Einwohner gesammelt hat. Die Zeit zum Ende des zweiten Weltkriegs hat sie besonders interessiert. Doch die Notizen sind verschwunden.

    So ein friedlicher Ort. Und plötzlich kommen Fremde oder ehemalige Kinder der Stadt zurück. In Dunkelblum gerät einiges in Aufruhr, was eigentlich unter dem Deckel bleiben soll. Sind da gegen Ende des Krieges nicht einige Menschen umgekommen? Sind nicht ein paar Nazis auf die Füße gefallen, weil sie sich die Wahrheit so zurecht gebogen haben, wie es günstig war? Und was kann auf dem alten überwucherten Judenfriedhof zutage kommen, der gerade von Studenten freigelegt wird? Lowetz überlegt, was seine Mutter recherchiert haben könnte. Aus was für einem Ort kommt er überhaupt? Und was für Namen murmelt die alte Agnes vor sich hin?

    Dunkelblum könnte überall sein. In welchen Städten wird denn noch nach der Vergangenheit gesucht? Nötig und sinnvoll wäre das sicher noch häufiger. Doch auch die Dunkelblumer beschäftigen sich nicht aus eigenem Antrieb mit der Chronik ihres Ortes. Im Jahr 1989 ist eher eine Zeit des Aufbruchs als eine der Rückbesinnung. Die Grenzen öffnen sich, da will niemand rückwärts denken. Und Hinweise, die es gibt, werden nicht gesehen. Beinahe als sollten die zu unrecht davongekommenen wieder durch die Maschen schlüpfen. Etwas kommt aber doch heraus und viele im Ort stecken wieder den Kopf in den Sand. Vieles in diesem Roman wird nur angedeutet, da ja wie immer nicht offen geredet wird. Ob einem als Leser das so gut gefällt, muss man entscheiden. Vielleicht würde man lieber deutlich lesen, was damals geschah und wer beteiligt war. So waren es irgendwie alle und der ganze Ort hat sich schuldig gemacht. Auch wenn man sich mit der behäbigen Erzählung ein wenig schwer tut, so handelt es sich doch um einen Roman, den es schon längst hätte gegeben haben sollen.

    3,5 Sterne

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  1. Hervorragend

    Herbst 1989, kurz vor dem Fall des Ostblocks. In Dunkelblum, einem kleinen Ort an der östrreichisch-ungarischen Grenze, wird ein Skelett gefunden. Schnell werden unliebsame Erinnerungen an das Kriegsende 1945 wach, da damals ein furchtbares Verbrechen in dem kleinen Ort stattgefunden hatte. Das anschließnede kollektive Schweigen hat es für immerhin 40 Jahre geschafft, die Erinnerung zu verdrängen, doch nun kommt alles um so eruptiver an die Oberfläche. Durch das Dorf geht ein Riss, vor allem die älteren Bewohner möchten nicht an die unliebsamen Vorgänge erinnert werden, zumal die damals Verantwortlichen weitgehend ungeschoren davon gekommen sind. Doch einige Jüngere streben nach Aufklärung, der Riss geht sogar durch einzelne Familien.

    "Dunkelblum" ist nach "Vienna" der zweite Roman aus der Feder Eva Menasses, den ich gelesen habe, und ähnlich wie beim ersten Mal bin ich schwer beeindruckt von der fesselnden Erzählkraft dieser österreichischen Autorin. Es gelingt ihr auf höchst ansprechende Weise, das aktuelle Geschehen von 1989 mit Episoden aus der Vergangenheit zu verbinden, was durchaus einen tiefen Einblick in die Mentalität der Österreicher vermittelt.

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  1. Geheimnis? Nie gehört!

    Klappentext:

    „Auf den ersten Blick ist Dunkelblum eine Kleinstadt wie jede andere. Doch hinter der Fassade der österreichischen Gemeinde verbirgt sich die Geschichte eines furchtbaren Verbrechens. Ihr Wissen um das Ereignis verbindet die älteren Dunkelblumer seit Jahrzehnten – genauso wie ihr Schweigen über Tat und Täter. In den Spätsommertagen des Jahres 1989, während hinter der nahegelegenen Grenze zu Ungarn bereits Hunderte DDR-Flüchtlinge warten, trifft ein rätselhafter Besucher in der Stadt ein. Da geraten die Dinge plötzlich in Bewegung: Auf einer Wiese am Stadtrand wird ein Skelett ausgegraben und eine junge Frau verschwindet. Wie in einem Spuk tauchen Spuren des alten Verbrechens auf – und konfrontieren die Dunkelblumer mit einer Vergangenheit, die sie längst für erledigt hielten.“

    Autorin Eva Menasse nimmt den Leser hier mit nach Dunkelblum - ein Ort, in dem ein dunkles Geheimnis von allen gehütet wird…Das dieses Geheimnis irgendwann bricht und an die Oberfläche will, ahnt man und man verfolgt diese Geschichte sehr genau. Menasse hat einen speziellen Sprachstil und Ausdruck. Ich persönlich mag dies sehr und find dies zu ihrer Geschichte mehr als passend, aber ich denke, es wird Leser geben, die sich damit schwer tun. Eva Menasse beleuchtet hier wieder ein Stück Weltpolitik und hält mit vielen Fakten auch einfach nicht hinter‘m Berg. Die Art und Weise wie sie die Bewohner zeichnet und wie sie dieses Geheimnis eingewoben hat, ist großartig. Hier geht es um Schuld und Sühne, um Schweigen und die Frage, ob dies so richtig war und gerechtfertigt. Dieses Geheimnis sitzt auf den Seelen der Dorfbewohner wie ein Fluch und die langsame Auflösung, nicht nur beim Leser, bringt ein gewisses Bild, ein gewisses Licht ins Dunkel. Der Spannungsbogen ist hier enorm und hat mich echt begeistert. Hier steht: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen - was ich nicht sage, kann niemand kennen und wissen, was ich nicht weiß, können andere auch nicht wissen. Dunkelblum nimmt einen ein und man muss gewaltig aufpassen, nicht in die Fänge der Dorfbewohner zu gelangen…Denn hier stellt sich die Frage, was passiert wohl wenn das Geheimnis gelüftet wird?? Ach ja! Welches Geheimnis? Haben Sie etwas von einem Geheimnis gelesen? Doch nicht in Dunkelblum!

    Ich vergebe 5 von 5 Sterne.

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  1. Die langen Schatten der Vergangenheit

    Die österreichische Kleinstadt Dunkelblum an der Grenze zu Ungarn im Sommer 1989: Auf den ersten Blick ist es nicht ersichtlich, aber ein furchtbares Verbrechen verbindet die älteren Einwohner des Ortes. Bisher haben sie darüber den Mantel des Schweigens gelegt. Doch jetzt, während gleich hinter der Grenze Hunderte Flüchtlinge aus der DDR warten, taucht ein rätselhafter Fremder in der Kleinstadt auf und setzt mit seinen Fragen einiges in Gang. Auf einer Wiese wird ein Skelett gefunden, eine junge Frau verschwindet. Die langen Schatten der Vergangenheit holen die Einwohner ein…

    „Dunkelblum“ ist ein Roman von Eva Menasse.

    Meine Meinung:
    Der Roman besteht aus drei Teilen, die wiederum in jeweils 17 Kapitel mit einer angenehmen Länge untergliedert sind. Erzählt wird aus einer auktorialen Perspektive, die sich hervorragend für diese Art von Geschichte eignet.

    Atmosphärisch stark ist der Schreibstil des Romans. In sprachlicher Hinsicht beweist die Autorin ihr schriftstellerisches Talent. Jeder Satz sitzt, jedes Wort wirkt wohl bedacht. So ist beispielsweise der Ortsname nicht zufällig gewählt. Etwas schwer habe ich mich allerdings mit dem österreichischen Vokabular getan. Zwar gibt es ein Glossar der Austriazismen. Das Hin- und Herblättern ist jedoch ein wenig nervig. Mit der Zeit gewöhnt man sich beim Lesen an die entsprechenden Wörter.

    Die Handlung spielt sich überwiegend in der Kleinstadt und der näheren Umgebung ab. Auf den Innenklappen ist ein beschrifteter Ortsplan von Dunkelblum abgedruckt. Dieses sinnvolle Extra hilft bei der Orientierung.

    Die Charaktere sind mit viel psychologischer Tiefe ausgestaltet. Fast jeder scheint ein Geheimnis zu haben, was die Figuren interessant macht. Dennoch wirken die Charaktere nicht überzeichnet, sondern durchaus authentisch. Vor allem zu Beginn ist das umfangreiche Personal des Romans recht unübersichtlich. Um besser in die Geschichte zu kommen, hätte ich mir eine Personenliste gewünscht. Mit der Zeit legt sich aber die Verwirrung.

    Inhaltlich ist der Roman erstaunlich komplex und facettenreich. Sehr gekonnt hat die Autorin ein beeindruckendes Netz aus Verbindungen geflochten, in dem sie sich bis zum Schluss nicht verheddert. Fast alle losen Fäden sind am Ende miteinander verknüpft. Eins fügt sich schlüssig zum anderen. Zwar bleiben noch einige wenige offene Fragen. Dass der Roman aber damit Interpretationsspielraum lässt, passt nach meiner Ansicht sehr gut zu der Geschichte.

    Thematisch geht es vor allem um Kriegsverbrechen und Vergehen während der Naziherrschaft, über die die Einwohner von Dunkelblum schweigen. Dort leben sowohl Opfer als auch Täter. Hintergrund des Romans ist eine wahre Begebenheit: das Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern im Ort Rechnitz. Ein wichtiges Sujet, das dafür sorgt, dass das Buch noch länger bei mir nachhallen wird.

    Obwohl dies zunächst nach ernster, schwerer Kost klingt, gelingt es der Autorin, mit bissigem Humor ein wenig Leichtigkeit in den Roman zu bringen und ein besonderes Lesevergnügen zu schaffen. Auf den rund 500 Seiten entstehen kaum Längen. Die Geschichte hat mich zunehmend für sich eingenommen.

    Das kunstvolle Cover ist etwas nichtssagend, aber nicht unpassend. Der prägnante und naheliegende Titel gefällt mir.

    Mein Fazit:
    Auch wenn es Eva Menasse ihren Leserinnen und Lesern nicht ganz einfach macht, ist ihr Roman „Dunkelblum“ unbedingt lesenswert. Eine ausgeklügelte, vielschichtige und sprachgewaltige Lektüre, ein Lesehighlight 2021.

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  1. Phänomenologie des Schweigens

    Als „letzte hochtrabende Führerbunker-Phantasie“ (S. 259) plante das Oberkommando der Wehrmacht den sogenannten Südostwall als Bollwerk gegen die Rote Armee von den Weißen Karpaten bis an die Drau. Unter den zum Bau Zwangsverpflichteten waren 30.000 bis 40.000 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter, von denen viele bei Massenhinrichtungen am Kriegsende starben. Traurige Berühmtheit erreichte das Massaker von Rechnitz, bei dem in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 während eines Festes der Nazi-Kollaborateurin Gräfin Margit von Batthyány, geborene Thyssen, etwa 200 jüdische Zwangsarbeiter erschossen wurden. Im Gegensatz zu anderen Orten wurde das Rechnitzer Massengrab nie gefunden und die unerhörten Vorkommnisse wurden Stoff verschiedener Filme, Sachbücher, Romane und Theaterstücke.

    Basierend auf den historischen Fakten hat die 1970 in Österreich als Tochter eines jüdischen Vaters geborene Eva Menasse ihren Roman "Dunkelblum" konzipiert. Die fiktive Kleinstadt im österreichischen Burgenland direkt an der ungarischen Grenze war bis zum Brand des Schlosses 1945 gräflicher Familiensitz. Im alten Teil von Dunkelblum, den Nikolaus Heidelbach im Vor- und Nachsatz illustriert hat, scheint die Zeit still zu stehen:

    "Ohne großen Dekorationsaufwand hätte man hier Filme drehen können, die die lang vergangenen Zeiten zeigten." (S. 29)

    Ruhestörungen
    Eine Idylle ist Dunkelblum jedoch keineswegs:

    "In Dunkelblum lastete es von unten." (S. 44)

    "Wo man in Dunkelblum mit dem Fingernagel kratzt, kommt einem eine Schandtat entgegen." (S. 371)

    Das Schweigen, das so lange ein „gedeihliches Zusammenleben“ (S. 326) garantierte, gerät im Spätsommer 1989 bedrohlich ins Wanken: Ein Fremder kommt und stellt unangenehme Fragen, langhaarige Wiener Studierende der Zeitgeschichte restaurieren den verwahrlosten jüdischen Friedhof, der Stadel der argwöhnisch beäugten Bio-Winzerfamilie Malnitz brennt ab, der homosexuelle Außenseiter Rehberg recherchiert für eine Ortschronik derweil seine Helferin Eszter Lowetz überraschend verstirbt, Drohbriefe kursieren, über ein Ortsmuseum und die Wasserversorgung wird gestritten, Flocke Malnitz, die in alten Geschichten „stierlt“, verschwindet spurlos, die Grenze zu den „Drüberischen“ wird plötzlich durchlässig und bei Grabungen nach Quellen taucht eine alte Leiche auf. Das alles stört die beinahe vergessene „lokale Schicksalsbestie“ in ihrem „Dornröschenschlaf“ (S. 15) und bringt den Interimsbürgermeister Koreny ins Grübeln:

    "Er hatte nicht geahnt, wie wenig es brauchte, um alles miteinander zu verknüpfen. Nur ein bisschen Phantasie und es pickte zusammen, Phantasie funktionierte offenbar wie Mörtel oder Montagekleber, sogar das Abgelegenste fügte sich ein. Wo hinein? In eine jahrzehntelange Verschwörung des Grauens." (S. 441)

    Nicht das Massaker steht im Mittelpunkt dieses herausragenden Romans, sondern das Schweigen danach:

    "Und daher ging es quasi direkt nach den alten Römern mit den Russen weiter, mit der erbärmlichen, demütigenden Nachkriegszeit […] Vom Leid, der Not und den Verbrechen gegen die Mädchen und Frauen erzählten die Alten so bereitwillig, wie sie vom unmittelbaren Davor schwiegen." (S. 196)

    Ein Lesehighlight 2021
    In kurzen Kapiteln stehen unzählige verschiedene Figuren im Mittelpunkt, was mich ohne Personenregister (dafür mit Glossar der Austriazismen) sehr gefordert hat: Nazis, wie der Stratege Dr. Alois Ferbenz und der gefürchtete Schläger Horka, Mitläufer, Profiteure der Arisierung jüdischen Eigentums wie die Hotel-Besitzerin Resi Reschen, Rückkehrer wie der Jude Antal Grün, Opfer von Fememorden und Täter. Zusammen mit der schwarzhumorigen Erzählweise begeisterten mich jedoch genau diese Vielstimmigkeit der filigran gezeichneten, oft ambivalenten Figuren und der historische Hintergrund. Warum dieses pralle Kleinstadtpanorama nicht zur engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreis 2021 gehört, ist mir rätselhaft.

    Am Ende finden die Fäden höchst gekonnt zusammen – aber halt:

    "Das ist nicht das Ende der Geschichte." (Schlusssatz S. 512)

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  1. 5
    17. Okt 2021 

    Dunkelblum ist überall

    Und schon wieder ein Buch über die Nazivergangenheit - hat man doch bereits -zigmal gelesen, mag so Manche/r denken.
    Aber dieses Buch ist etwas Besonderes und unbedingt lesenswert, auch wenn der Inhalt vielleicht nicht ganz so überraschend sein mag.

    Dunkelblum ist eine fiktive Kleinstadt in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Ungarn, dort "wissen die Einheimischen alles voneinander, und die paar Winzigkeiten, die sie nicht wissen, die sie nicht hinzuerfinden können und auch nicht einfach weglassen, die sind nicht egal, sondern spielen die allergrößte Rolle: Das was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch."
    Meist sind es Dinge aus der Vergangenheit, damals als der Horka der Schrecken des Ortes war. Während der Naziherrschaft konnte dieser ohne Folgen seinen sadistischen Neigungen nachgehen und als die Russen das Sagen hatten, brachte er es sogar zum Polizeichef. Doch nun, es ist 1989, beginnt die junge Generation sich für längst Vergangenes zu interessieren: Die jüngste Tochter des Biobauern plant mit dem Dorfchronisten ein Heimatmuseum und beginnt, unangenehme Fragen zu stellen. Und aus der Hauptstadt reisen Studierende an, um den örtlichen jüdischen Friedhof zu restaurieren. Als auf einer Wiese ein Skelett gefunden wird und die Presse davon Wind bekommt, wird das Interesse an Dunkelblums Vergangenheit immer größer, die wider Willen der BewohnerInnen deutlich bis in die Gegenwart reicht.

    Eva Menasse präsentiert uns hier eine Vielzahl von Menschen eines Ortes, die aufgrund ihrer Herkunft alle miteinander verbunden sind, im Guten wie im Schlechten. Einen solchen Mikrokosmos zu entwerfen haben bereits Andere vor ihr gemacht (beispielsweise Juli Zeh in Unterleuten oder Raphaela Edelbauer in Das flüssige Land), doch nicht mit derart feinen Verflechtungen innerhalb eines sozialen Netzes und ebenso wenig mit diesem wundervoll schwarzhumorig-ironischen Tonfall.
    "Unserer Frau Balaskó hat sie gesagt, sie sucht nach Dunkelblumer Kriegsverbrechern, stell dir das vor, Kriegsverbrecher, bei uns! Das Mädel ist Anfang zwanzig, früher haben sich die jungen Leute für was anderes interessiert, für Tanzen und Flirten . . .".

    Auch wenn die Geschichte auf der des realen Ortes Rechnitz beruht, ist es keine Aufarbeitung der dortigen Geschehnisse. Es geht um den Umgang mit der Vergangenheit Jahrzehnte danach: Verdrängung, Rechtfertigung, Verleugnung ... Und was mit den Menschen geschehen ist und geschieht, wenn sich die Wahrheit ans Licht drängt. Ein grandioses Buch!

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  1. 5
    16. Okt 2021 

    Kollektives Schweigen

    Dunkelblum ist eine fiktive Kleinstadt im Burgenland, an der österreichisch-ungarischen Grenze. Hier brodelt es im Sommer 1989.
    Es beginnt damit, dass sich ein fremder Herr aus Boston im Hotel Tüffer einquartiert und unbequeme Fragen nach einem Massengrab stellt, in dem ermordete jüdische Zwangsarbeiter liegen sollen.
    Außerdem hat sich eine Gruppe Wiener Studenten - Hippies - im Ort eingefunden, um den alten, verwahrlosten jüdischen Friedhof zu restaurieren.
    Der örtliche Reisebüroleiter Rehberg, der sich als Hobbyhistoriker mit der Geschichte des Ortes beschäftigt, plant mit der umtriebigen, jungen Lehrerin Flocke ein Heimatmuseum. Nicht alle sind darüber begeistert. Gibt es doch Jahre, über die der Mantel des Schweigens gelegt wurde und keiner sollte ihn lüften.
    Im übrigen haben die Bürger momentan ganz andere Sorgen. Der noch amtierende, nun aber todkrank in der Klinik liegende Bürgermeister hat der Gemeinde einen Vertrag mit dem Wasserwerk eingebrockt. Dabei wollen einige, allen voran der Bauer Faludi, autark bleiben. Auf der Suche nach dem möglichen Standort eines Wasserturms wurde nun aber ein menschliches Skelett ausgegraben.
    Und große weltpolitische Geschehnisse machen auch vor Dunkelblum nicht Halt. Der Ostblock zerfällt, Flüchtlinge drängen sich an der ungarisch-österreichischen Grenze.

    Es sind sehr viele Handlungsstränge und ein großes Aufgebot an Figuren, die Eva Menasse hier gekonnt zusammenführt und die der Leser erst einmal im Blick behalten muss.
    Über allem liegt eine düstere Grundstimmung des Misstrauens und des Schweigens. Etwas Schreckliches muss damals geschehen sein, kurz vor Kriegsende. Doch die Alten, die davon wissen müssen, wollen nicht darüber reden oder verlieren sich in Andeutungen. Jeder hat seine ganz eigenen Gründe dafür.
    „ Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.“ Die Autorin aber lässt den Leser tief in die Herzen und in die Köpfe der Dunkelblumer blicken. Nach und nach erschließen sich ihm die Geheimnisse, die Verbindungen, die Abhängigkeiten der Figuren. Und die meisten Fragen werden beantwortet:
    Welche Rolle spielte damals der heute noch hoch angesehene Alois Ferenz, der sich in einem Videointerview mit einer jungen Filmemacherin als unbelehrbarer Nazi entlarvt?
    Wer war Horka, der „ Schwarze Mann von Dunkelblum“, der Mann fürs Grobe?
    Wie wurde aus dem ehemaligen Dienstmädchen Resi die Wirtin des Hotels Tüffer?
    Was hat den Hotelgast nach Dunkelblum geführt?
    Eine Leerstelle im Roman bleiben aber die Geschehnisse in jener Nacht, als die Zwangsarbeiter ermordet wurden.
    Eva Menasse benennt die Täter und erzählt von den Opfern. Manche sind beides. Es sind schreckliche, grausame Geschichten, die hier zutage kommen, aber auch anrührende.
    Dabei bezieht sich die Autorin auf ein tatsächliches historisches Ereignis, das Massaker von Rechnitz. ( Österreichischen Lesern wird das ein Begriff sein, deutschen Lesern nun auch.) In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945, die Nacht auf Palmsonntag, wurden nach einem Fest auf Schloss Rechnitz an die 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet und vergraben. Das Massengrab wurde bis heute nicht gefunden. Rechnitz war aber kein Einzelfall. Hier im Burgenland ließ die deutsche Wehrmacht kurz vor Kriegsende noch den sog. Südostwall als Schutz vor der heranrückenden Roten Armee errichten. Dazu wurden 30.000 ungarische Juden als Zwangsarbeiter verpflichtet. Ähnliche Verbrechen wie in Rechnitz gab es an ca. 120 Orten entlang des Walls.
    Dunkelblum steht stellvertretend nicht nur für Rechnitz, sondern für alle Orte, an denen es solche Massaker gab.
    Eva Menasse geht es in ihrem Roman aber nicht um das damalige Morden, sondern um das jahrzehntelange Schweigen darüber. Was macht so etwas mit den Menschen innerhalb einer Gemeinschaft? Wie lebt man weiter mit den eigenen Verstrickungen oder mit dem Wissen um die Taten anderer? Ist ein Zusammenleben nur möglich, wenn man verdrängt, vergisst?
    Die Autorin ist zu bewundern, wie souverän sie alle Fäden in der Hand hält und wie virtuos der Roman aufgebaut ist. Es gibt drei große Teile, mit jeweils 17 relativ kurzen Kapiteln. Die Gegenwartsebene im Jahr 1989 wechselt mit Rückblicken und Erinnerungen bis in die 1930er Jahre. Es gibt einen auktorialen Erzähler, der von einer Figur zur nächsten wechselt. Der Erzähler ( und somit der Leser ) weiß oftmals mehr als die jeweilige Figur.
    Anfangs stellt das Buch einige Anforderungen an den Lesenden. Es ist nicht leicht , den Überblick zu bewahren. ( Ein Personenregister wäre hilfreich gewesen, zusätzlich zum Stadtplan auf der Umschlagsinnenseite.) Doch mit der Zeit gewinnen die Figuren an Profil. (Man fühlt sich wie ein Zugezogener in dieser Kleinstadt, der nach und nach vertrauter wird mit den Bewohnern hier. ) Es sind nur wenige, die sich eindeutig in Gut und Böse einteilen lassen. Es sind zutiefst menschliche Personen , stimmig in ihrer Vielschichtigkeit.
    Was diesen Roman zu einer wahren Lesefreude macht, trotz des beklemmenden Themas, ist die Sprache der Autorin. Sie lehnt sich in der Satzstellung, im Rhythmus und in vielen Ausdrücken an ihrer österreichischen Muttersprache an. ( Im Anhang findet sich dazu ein Glossar der Austriazismen.). Das trägt zusätzlich zur Authentizität der erzählten Geschichte und der Personen bei. Auch der leicht humorige Unterton macht den Inhalt erträglicher . Dabei findet die Autorin großartige Bilder und Metaphern: „ In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt.“
    „ Dunkelblum“ ist ein Roman, der eine Zweitlektüre erfordert. Erst dann werden sich alle Andeutungen und Bezüge so richtig erschließen.
    Eva Menasse ist eine wahre Meisterin ihrer Zunft. Sprach- und stilsicher, brillant komponiert, thematisch relevant ist „ Dunkelblum“ eines der herausragenden Romane in diesem Bücherherbst ( völlig unverständlich, warum es das Buch nicht auf die Longlist geschafft hat). Eine absolute Leseempfehlung!
    „ Die Gruppe ist stärker als ein einzelnes Gewissen, aber vielleicht ist es auch andersherum: Der große, aufrechte, komplexe Mensch, die Krone der Schöpfung, ist so entsetzlich schwach im Gegensatz zur Gruppe, wehrlos ist er, wie ein vom Baum gefallenes Blatt.“

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  1. Vergangen, vergessen - wieder auferstanden

    Dunkelblum ist eine kleine, österreichische Stadt an der Grenze zu Ungarn und wir schreiben das Schicksalsjahr 1989. Es könnte ein idyllischer Sommer sein, doch Unruhe macht sich breit. Nicht nur der Besucher, der aufgetaucht ist und Fragen stellt, oder die Studenten aus dem fernen Wien, die unaufgefordert beginnen den verwilderten jüdischen Friedhof freizulegen, sondern auch ein schwelendes Wasserbauprojekt, dass dem Interimsbürgermeister Ärger mit den Großbauern einbringt, lassen das Herannahen eines geschichtlichen Großereignisses in den Hintergrund treten. Hinter der Grenze sammeln sich DDR-Flüchtlinge und wollen über Österreich in die BRD.

    Flüchtlinge? Ja, mit Flüchtlingen hatte man es schon mal zu tun, damals, als das Österreich-Ungarische Reich zerplatzte und die Menschen sich entscheiden mussten, auf welche Seite sie gehörten. Darüber sprechen die Alten in Dunkelblum noch und denken mit Wehmut an das Schloss, dass ihre Stadt einst zierte und sie mit Bedeutung füllte. Aber alles was danach kam, warum das Schloss abbrannte, dass es nicht nur Flüchtende, sondern auch Zwangsarbeiter gab, die den Verteidigungswall gegen die Russen bauen sollten, daran wollen sie nicht erinnert werden. Jeder hat da so seine eigene Wahrheit, aber vor allem seine eigenen Geheimnisse, wie sie ihre Geschicke gelenkt haben, oder ihnen der Zufall wohlgesonnen war, wenn das von jüdischen Besitzern eiligts verlassene Hotel in den eigenen Besitz überging, einfach so.

    Aber nun wird an allen Ecken gerüttelt und der Streit mit der Wasserbehörde verlangt nach einer Erklärung, warum man nicht die eigenen Wiesen aufbuddeln sollte. Immerhin wird eine Leiche gefunden, unvollständig. Die fehlenden Puzzleteile tauchen in den Dunkelblumer Stuben auf, dafür gibt es andere Stücke, die der Leiche eine flasche Identität geben. Warum?

    Eva Menasse erschafft mit ihrem Roman Dunkelblum ein Kaleidoskop einer Stadt, die nur den äußeren Anschein der Verschlafenheit erweckt. Sie lässt jeden einzelnen Dunkelblumer antreten und sich in die Angelegenheiten verstricken, die sich alle zur gleichen Zeit kumulieren. Der eine versucht seine Vergangenheit zu finden, andere tappen ahnungslos in den Sumpf einer Geschichtsdokumentation über die Stadt, wieder andere legen Grabmäler frei, die sogleich beschmiert werden und die latente Gesinnung der Mitbürger offenbaren. Und dann verschwindet auch noch ein junges Mädchen.

    Eva Menasse trägt mit ihrem atmosphärisch dichten Roman zur Erinnerungskultur unserer Nachbarn bei und erzählt eine, in ihren Grundzügen wahren Geschichte von der Suche nach Massengräbern von Zwangsarbeitern, die man aushalten muss, mit der man sich aber auch versöhnen kann, weil endlich erzählt wird, was lange tabu war. Weil vieles, was in Dunkelblum geschah, so, oder so ähnlich, tausendfach geschah und niemand mit dem Finger auf andere zeigen kann. Und man hält es aus, weil Menasse eine talentierte Erzählerin ist, die keinen ihrer Protagonisten vergisst, keine Handlung versanden lässt und kleine Überraschungen für den aufmerksamen Leser im Text bereithält. Sie hat mich mit ihrer Schreibkunst überzeugt und ist in meinen persönlichen Olymp der Lieblingsschriftstellerinnen aufgestiegen.

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  1. Ein sehr geistreiches und wichtiges Werk

    Ein sehr geistreiches und wichtiges Werk

    1989, ein kleines Städtchen namens Dunkelblum, dient als fiktive Vorlage um über das Massaker in Rechnitz zu berichten, dass während des Naziregimes 1945 an jüdischen Zwangsarbeitern verübt wurde.
    Eva Menasse zeigt anhand des Verhaltens der Bewohner wie leicht es ist, solche dunklen Taten zu vergessen, sie soweit zu verdrängen, als ob nichts geschehen wäre.

    Das Werk bietet dem Leser eine enorme Anzahl an Personen, die ebenso vielen kleinen Geschichten aufwarten. Geschichten, die erst nach und nach zusammenfließen und ihre Wichtigkeit enthüllen. Gerade zu Beginn der Lektüre beschleicht einen direkt das Gefühl, dass jeder im Dorf etwas zu verheimlichen hat. Dadurch wird eine Atmosphäre aufgebaut, die sich nur schwer beschreiben lässt. Bei mir löste es zum einen aus, dass ich auf der Hut war, zum anderen traute ich erstmal keinem über den Weg.
    Als ich dann nach und nach alle Bewohner von Dunkelblum näher kannte, sie besser zuordnen konnte, passierte gleichzeitig mehr. Die Andeutungen verdichteten sich, es gab konkretere Vermutungen worin das Geheimnis des Städtchens liegen könnte.
    Als sich die Überlegung zu einer Grabung auf einer nahegelegenen Wiese immer mehr verdichtete und eine Leiche ausgegraben wurde, hatte ich meinen roten Faden.
    Doch dieser rote Faden wurde von Frau Menasse erst über viele Umwege entknotet.
    Ich werde hier bewusst nicht die einzelnen Personen vorstellen, damit ließe sich wahrscheinlich in einer Rezension schlecht etwas anfangen. Aber sie sind es trotzdem, die die Geschichte tragen, denn mir wurde klar, dass auch schweigen sehr aussagekräftig sein kann. So aussagekräftig, dass diese Stadt es über Jahre tatsächlich geschafft hat, ein schlimmes Ereignis auszuradieren. Es war soweit hinten in den Köpfen der älteren Bewohner verborgen, dass die Jungen gar nicht mehr auf die Idee kamen es anzurühren, auch wenn die Hinweise auf der Hand lagen.
    Erst als ein Mann in die Stadt kommt, der lange Zeit nicht dort war, und viel Leid aus eben diesem verborgenen Winkel aufzuarbeiten hat, und eine Dunkelblumerin, die eher forsch veranlagt ist die richtigen Fragen stellt, kommt alles ins Rollen.

    Diese Geschichte hat mich komplett überzeugt. Der Sprachstil der Autorin ist wunderbar. Die Idee, eine Stadt und ihre Bewohner als Schauplatz gegen das Vergessen zu rüsten, in meinen Augen genial. Die Komplexität ist enorm, und ich habe immer noch das Gefühl, dass sich mir manche kleinere Anekdoten und Zusammenhänge entgangen sind. Wenn Sie dieses Buch lesen sollten, was ich Ihnen nur ans Herz legen möchte, ein kleiner Tipp! Alles hier ist wichtig, auch wenn es noch so banal erscheinen mag. Eine nicht funktionierende Ladenklingel kann mehr sein als nur ein defektes Gerät.

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  1. Das tosende Dunkelblumer Schweigen

    Es passiert einiges 1989, was die Bewohner von Dunkelblum beunruhigt. Sie hatten schon immer ihre Probleme mit den Drüberen und nun sammeln sich erneut hinter der Grenze Flüchtlinge. Außerdem taucht ein Fremder auf, der überall Fragen stellt, und dann gibt es noch die Differenzen zum Thema Wasserversorgung. Zu allem Übel kommen dann noch junge Menschen, die den verschlossenen und verwahrlosten „dritten Friedhof“ in Ordnung bringen wollen. Die Bewohner von Dunkelblum waren in stiller Übereinkunft davon ausgegangen, dass niemand an der Vergangenheit rührt, doch nun kommen die Erinnerungen hoch.
    Dunkelblum ist ein fiktiver Ort mit fiktiven Bewohnern, der in der Nähe zur ungarischen Grenze angesiedelt ist, genau in dem Teil des Burgenlandes, wo sich in den letzten Kriegstagen das Massaker von Rechnitz zugetragen hat.
    Eva Menasse hat es mir am Anfang nicht leicht gemacht mit ihrem Roman, denn es gibt reichlich Personen und sie springt zwischen den Personen und den Zeiten hin und her. Es taten sich unzählige Fragen auf und sobald sich eine beantwortet hatte, gab es weitere Fragen. Doch je länger ich gelesen habe, umso mehr konnte sie und die Dunkelblumer mich packen. Die Autorin fabuliert mit Lust und legt so viele Fäden aus, dass man sich wundert, wie daraus am Ende etwas Ganzes entstehen kann. Doch diese Zweifel sind nicht angebracht, denn der Autorin gelingt es vorzüglich diese losen Fäden zu verknüpfen.
    Die Figuren sind sehr gut und facettenreich gezeichnet. Auch wenn die Dunkelblumer nicht unbedingt sympathisch sind, so sind sie doch menschlich, denn jeder hat wohl seine hellen und seine dunklen Seiten. Die, welche die Vergangenheit miterlebt haben, sind wahre Meister im Verdrängen, Vergessen und Vertuschen. Dabei wissen nicht alle, was da wirklich geschehen ist, das wissen laut Eva Menasse nur „alle Beteiligten gemeinsam“. Doch ihnen allen ist gemein, dass sie an der Vergangenheit nicht rühren wollen. Gleichwohl erfahren wir Leser, was geschehen ist, wie man sich schuldig gemacht oder weggesehen hat, wie man eingesteckt und ausgeteilt hat, wie dies so zurechtgerückt wurde, dass das Leben weitergehen konnte, als sei nichts geschehen.
    Die Atmosphäre in Dunkelblum ist ziemlich düster und die Geheimnisse sind es auch.
    Ich bin froh, dass mich meine Anfangsschwierigkeiten mit „Dunkelblum“ nicht abgeschreckt haben, denn dieser Roman ist wirklich ein Highlight und er schreit förmlich danach, nochmal gelesen zu werden, weil es in dieser komplexen Geschichte sicherlich noch einiges zu entdecken gibt.

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  1. "Gott hat es zusammen mit dem Teufel gebaut zur Mahnung" (9)

    Eine dunkle Welt offenbart sich den Leser*innen zu Beginn des Romans. "Dunkelblum", der Name ist Programm, denn in dem Dorf im Burgenland, das ganz nahe an der ungarischen Grenze liegt, verbirgt sich ein Geheimnis aus der NS-Zeit.

    "Das, was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch." (9)

    Der Roman wartet mit einer Fülle von Figuren auf, die man erstmal überblicken muss:
    Die Grafen und die alte Gräfin, die längst verschwunden sind, nachdem ihr Schloss zerstört und abgebrannt ist.

    "Seit die Grafen ihre Gruft vier- und damit ihren Exodus besiegelt hatten, war die Zeit im Grunde stehengeblieben." (12)

    Vor allem bei den Alten, die den Krieg noch mit erlebt haben, allen voran der Alt-Nazi Dr. Alois Ferbenz, der mit den Heuraffl-Brüdern, mit Bernecker, dem geflickten Schurl und dem jungen Graun jeden Tag im heruntergekommenen Hotel Tüffer trinkt, das die Reschen Resi von der jüdischen Familie übernommen hat, als diese den Ort verlassen musste.

    "Die Geschichten des Ortes sedimentierten in der alten Frau Reschen wie in einer unzugänglichen Mine. Was sie aufnahm, blieb drin, es wurde dort handlich und glänzend und von ihr gelegentlich in Ruhe betrachtet." (164)

    Da gibt es Antol Grün, den Greißler (=kleiner Lebensmittelhändler), der von Ängsten geplagt wird und der den Fremden, der seit kurzem im Hotel wohnt, überall Fragen stellt und Holzkästl mit sich führt, noch von früher kennt. Der Fremde will, dass die Toten bestattet werden können und die ewige Ruhe haben.
    Welche Toten? Wer ist der Fremde? Woher kennt Antol ihn?

    Während des Lesens werden zahlreiche Fragen aufgeworfen, unablässig stellt man Hypothesen auf, um sie zu verwerfen oder sie bestätigt zu sehen. Es ist ein sehr aktiver Leseprozess, der fordert, gleichzeitig aber auch einen Sog erzeugt, weil man hinter die Geheimnisse dieses Ortes und die der Menschen blicken möchte.
    Mit dem Fremden trifft gleichzeitig Lowetz wieder in Dunkelblum ein, dessen Eltern gestorben sind und der entscheiden muss, was mit seinem Elternhaus geschieht. Seine Mutter ist von drüben, eine Ungarin, und das Haus liegt im alten Teil von Dunkelblum, das
    "war eine Welt für sich, unübersichtlich, labyrinthisch, im Sommer lauschig und kühl. Man konnte ihn als unheimlich empfinden, wie einen traumhaften Irrgarten, imstande, einen zu verschlingen, aber eben so sehr als Zuflucht, wo niemand einen finden konnte, der nicht von hier war." (32)

    Lowetz Haus steht neben dem von Fritz, der im Endkampf um Dunkelblum verletzt wurde, und dessen Mutter Agnes 1956 wahnsinnig geworden ist, vom „Ungeheuer“, das sich wieder regte. Und wieder erwacht der mörderische Lindwurm aus seinem Dornröschenschlaf, denn an der Grenze warten Menschen aus der DDR, die in den Westen wollen, im Sommer 1989.

    Zudem arbeiten plötzlich junge Leute auf dem jüdischen Friedhof von Dunkelblum, dessen Existenz man gerne vergessen würden. Ein Störfaktor ist auch Flocke, die jüngste Tochter vom Malnitz, die auf einer Gemeinderatssitzung dem designierten, überforderten Bürgermeister Koreny vorschlägt ein Grenzmuseum zu eröffnen. Eine Rolle spielt der Reiseunternehmer Rehberg, der von Ferbenz Leuten in der Vergangenheit tyrannisiert wurde und an einer Ortschronik schreibt. Geholfen hat ihm dabei Lowetz Mutter, die plötzlich verstorben ist. Ein Zufall? Und wo sind die Unterlagen, die sie gesichtet hat?

    Man hat das Gefühl alles hängt mit allem zusammen und wie ein Spinnennetz ziehen sich die Abhängigkeiten durch Dunkelblum. Auch die, die dieses Geflecht teilweise durchschauen oder etwas wissen wie die alte Graun bleiben stumm.

    "Sie stimmte in das tosende Dunkelblumer Schweigen mit ein." (255)
    "Sie hatte sich damals nicht getraut. Sie wollte nicht die Einzige sein. Sie kannte die Machtverhältnisse, alle kannten sie." (249)

    Eine mächtige Figur der Vergangenheit ist Horka, einst die rechte Hand des Dr. Ferbenz.
    "Der Horka war der Schwarze Mann von Dunkelblum" (74), er steht stellvertretend dafür, dass die Verbrechen nach dem Kriegsende nicht abrupt geendet haben.

    "Die bösen Nazis brachten weiterhin ungestört die guten Nazis um und alle möglichen anderen auch. Allein im ersten Jahr nach Kriegsende waren es mindestens drei Morde, der Radfahrer in den Weingärten, eine Schießerei an der Grenze, bei der offenbar ein missliebiger Zeuge umgebracht worden war." (250)

    Die metaphorische Sprache, die Anspielungen, die geheimnisvollen Andeutungen, die düstere Atmosphäre verführen von Beginn an weiterzulesen und fast glaubt man, man habe einen Krimi vor sich. Doch Menasse geht es weniger darum, das Geheimnis dieses Ortes öffentlich aufzudecken, ein Ort, der tatsächlich an der ungarischen Grenze existiert und in der sich ein schreckliches Verbrechen zugetragen hat.
    Ihr geht es um die Psychologie der Menschen, die bereit sind, dieses Geheimnis zu bewahren, die Machtstrukturen akzeptieren, es dulden und gutheißen, dass die Nazi-Schergen auch nach dem Krieg weiterhin ihr Unwesen treiben können und größtenteils unbehelligt bleiben.

    "Dunkelblum" muss man zweimal lesen, um alle Bezüge und Hinweise zu entschlüsseln. Beeindruckend, wie Menasse alle Fäden in der Hand hält und mutig, letztlich nicht alles eindeutig aufzuklären und einige Fragen in der Schwebe zu lassen. So ist man als Leser*in selbst gefordert, die Leerstellen zu füllen.

    Ein Roman, der einen so schnell nicht loslässt und den ich uneingeschränkt weiter empfehlen kann.

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  1. Lebendiges Diorama von der Grenze

    "Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis."

    Dunkelblum ist eine fiktive Kleinstadt im österreichischen Burgenland, nahe der ungarischen Grenze. Durch diese Grenznähe hat der Ort seit jeher eine bewegte Vergangenheit. "Drüben" nennt man Ungarn, "drüberisch" die Sprache, die viele Dunkelblumer noch beherrschen, obwohl sie seit Jahren unpopulär geworden ist. Wir befinden uns im Jahr 1989, die Grenze zum Ostblock beginnt durchlässig zu werden, die Öffnung zeichnet sich ab. Es gibt ein Grafenschloss in Dunkelblum, das längst abgebrannt ist, nur ein Turm und die Gruft stehen noch, die Grafenfamilie kommt selten zu Besuch vorbei. Es gibt drei Friedhöfe, darunter einen vergessenen und vernachlässigten jüdischen, der von einigen Studenten aus der Hauptstadt wieder in Ordnung gebracht werden soll. Ein Fremder kommt mit dem Zug angereist, um zwei alte Frauen aufzusuchen, die er von früher kennt - und um vergessene Gräber zu finden. Und der junge Lowetz, der schon lange aus Dunkelblum abgehauen ist, kommt zurück, um das Haus seiner verstorbenen Mutter auszuräumen. Es passiert vieles gleichzeitig, was die Vergangenheit des kleinen Ortes aufrührt.

    Die Autorin stellt nicht geringe Anforderungen an die Leserschaft. Das Personal ist unübersichtlich, eine Menge Namen tauchen auf. In mehr oder weniger ungeordneten Zeitsprüngen wird die Vergangenheit des Ortes miterzählt. Die den aktuellen Dunkelblumern vorhergehende Generation vermehrt die Personenliste noch. Eine große Anzahl von Einzelschicksalen wird ausgebreitet. Es ist bewundernswert, wie Eva Menasse alle Fäden ihrer Erzählung straff und kontrolliert in der Hand hält, aber jene Fäden bilden ein vielfach verfitztes buntes Knäuel. Zum Glück ist Frau Menasses Stil leicht, treffend und von trockenem Humor. Jede der handelnden Personen tritt mit ihren Eigenarten plastisch hervor, ist einfühlsam charakterisiert, so dass jeder sein Gesicht bekommt. Motoren des Geschehens sind vor allem der junge Lowetz, der nach den Papieren seiner toten Muttere Eszter sucht, eine "goscherte", d.h. vorlaute jüngste Tochter eines ansässigen Weinbauern namens Flocke Melnitz, der Ladeninhaber Antal Grün, der wegen seiner jüdischen Herkunft aus Dunkelblum vertrieben wurde und zurückkehrte, um den Laden seiner Mutter wieder zu öffnen, und der wenig beliebte und vom Leben enttäuschte Reisebüroinhaber Rehberg, der Vergangenheitsforschung betreibt.

    In immer neuen und bewegten Szenen schält die Autorin die Vergangenheit nach und nach ab wie die Schalen einer Zwiebel. Es ist bewundernswert, welche Vielzahl an Einzelereignissen (die dann doch wieder alle zusammenhängen) sie auffächert und mit neu geschaffenen Verbindungen immer wieder neu beleuchtet. Unter den vielen Verbrechen der Jahre vor Kriegsende gibt es eines, das einer großen Feier im Grafenschloss folgte und von dem alle damals lebenden Dunkelblumer wissen, das aber beharrlich vertuscht werden soll, und diese Vertuschung zieht immer neue Übeltaten nach sich bis in die Gegenwart der achtziger Jahre. Der große erleichternde Knall, der nach Krimiart alles auflöst, bleibt aus. "Das ist nicht das Ende der Geschichte" stellt die Autorin im letzten Kapitel fest. Es ist eine interessante Eigenart dieses Romans, dass am Ende die Leser mehr wissen als die Personen - eben deshalb, weil, wie Menasse schreibt, die "ganze Wahrheit" immer von vielen Beteiligten gemeinsam gewusst wird, und jeder weiß nur ein Stück von ihr.

    "Dunkelblum" ist ein Buch, das gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Natürlich ist es, muss man feststellen, das x-te Vergangenheitsbewältigungbuch. Das aber auf eine Art und Weise frisch und neu geschrieben ist, wie man es nicht kennt. Obwohl es von finsteren Zeiten handelt, von Verbrechen und Vertuschen übelster Sorte, ist "Dunkelblum" kein schwieriges und bedrückendes Buch. Bringt man die nötige Aufmerksamkeit beim Lesen mit, ist es sogar - in bestem Sinne - unterhaltsam, weil die Autorin mit stilistischer Anmut und Feinheit das Dunkle und Schwere der Handlung mildert. Es gibt in Dunkelblum Verbrecher und Unbelehrbare, Mittäter und Mitläufer, Mitwisser und - immer noch - Opfer. Doch unter den Hauptpersonen gibt es nur wenige, für die man nicht irgendwie Verständnis aufbringen könnte, so menschlich und humorvoll schildert die Autorin ihre Eigenheiten und Schicksale. Ganz, ganz große Erzählkunst in einem unbedingt preiswürdigen Buch. Ich würde gern sechs von fünf Punkten geben!

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  1. Eine jahrzehntelange Verschwörung des Grauens

    „In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt.“

    Schon mit diesem ersten Satz wird die Atmosphäre in der fiktiven Kleinstadt Dunkelblum sehr gut umrissen, einem Ort, der im Burgenland direkt an der ungarischen Grenze liegt. Dieser Grenze, die den Ort seit Jahrzehnten isoliert, wird Ende August 1989 wieder Leben eingehaucht. Der eiserne Vorhang bröckelt, zunächst kommen nur einzelne DDR-Flüchtlinge, später strömen die Trabbis hindurch gen Westen. Während sich also Weltgeschichte in Dunkelblum ereignet, wird der Ort zur gleichen Zeit mit seiner lange zurückliegenden Vergangenheit konfrontiert.

    Dunkelblum ist ein Mikrokosmos. Nicht nur der Name klingt düster. Von Beginn an ist klar, dass hier etwas Schlimmes geschehen ist, was weitere Akte von Misstrauen, Unrecht und Intrigen nach sich zog. Alles beginnt damit, dass nach Wasseradern für die örtliche Wasserversorgung gesucht wird und dabei die Überreste einer vor mindestens 40 Jahren getöteten Person zutage treten. Das weckt Erinnerungen im Dorf. Bereits seit Längerem gibt es Pläne, ein kleines Heimatmuseum zu gründen, wofür schon Dokumente, Erinnerungen und Ausstellungsstücke gesammelt wurden. Nicht jeder Bewohner befürwortet dieses Projekt, es existiert sogar offener Widerstand dagegen. Gerüchte gibt es genug. Nun kommt auch noch ein Fremder in den Ort, der ebenfalls unbequeme Fragen stellt und sich für verschwundene Juden sowie den seit Jahrzehnten verwahrlosten jüdischen Friedhof interessiert, in dem zu allem Überfluss neuerdings junge Leute aus der Stadt arbeiten und Grabsteine freilegen, um „die unendlich langsame Zerstörungskraft der Vegetation“ zu stoppen. Dazu kehrt auch noch ein Sohn nach langer Zeit Heim - eigentlich um das Elternhaus zu verkaufen, aber dann entwickelt sich für ihn doch alles ganz anders.

    All diese Entwicklungen rühren an den Grundfesten der Dorfbewohner. Es gibt eine Allianz der Alten, der Wissenden, die sich in einem einig sind, nämlich dass man über bestimmte Ereignisse, die sich rund um das Kriegsende 1945 und darüber hinaus zugetragen haben, den Mund halten muss. Zahlreiche Andeutungen legen nahe, dass damals eine Massenerschießung von jüdischen und unliebsamen Zwangsarbeitern stattgefunden haben muss. Wer ist dafür verantwortlich, wer ist dahinein verstrickt, wen trifft die Schuld, wen belastet vielleicht sein Gewissen? Gab es in Folge sogar Vergeltungsmaßnahmen, um Mitwisser zum Schweigen zu bringen?

    Eva Menasse entfaltet eine finster-spannende Atmosphäre, führt den Leser zurück in die Kriegs- und Nachkriegsjahre. Sie erzählt von jüdischen Familien, die den Ort auf verschiedene Art verlassen haben und ihre Habe zurücklassen mussten, sie erzählt von Nazis und Mitläufern, von Tätern und Opfern, sie entrollt tragische Familienschicksale voller Vertreibung, Leid, Trennung und Tod, sie lässt das Kriegsende mit dem barbarischen Einfall der russischen Armee nicht aus.

    Am Anfang fühlt man sich angesichts der vielen Figuren noch leicht überfordert. Dieses Gefühl lichtet sich jedoch schnell. Die Haupt- und Nebencharaktere werden mit (Lebens-) Geschichten gefüllt, wodurch sie sich leichter einprägen lassen. Eins kommt zum anderen. Der Roman gleicht einem vielschichtigen, ineinandergreifenden Puzzlespiel. Es tauchen immer mehr Fakten, Vermutungen und Erinnerungen auf, die sich langsam zu stimmigen Bildern zusammensetzen. Nichts geschieht zufällig, alles hat Kalkül. Dabei geht es am Ende nicht mehr primär um das Massaker selbst, sondern vielmehr um die Konsequenzen, die sich daraus ergeben haben.

    Trotz des grundernsten Themas ist es ein Genuss, diesen Roman zu lesen. Es ist Eva Menasse gelungen, zutiefst menschliche Charaktere zu erschaffen. Die wenigsten sind schwarz oder weiß, sondern haben viele Facetten. Auch die Täter haben ihre ureigenen Beweggründe für das (amoralische) Verhalten, sie kommen zu Wort, dürfen sich rechtfertigen. Der Leser darf ihnen in die Seele schauen, er ist bei wesentlichen Gesprächen und Ereignissen dabei, darf wie die zu Anfang zitierten Blüten und Gräser hören, sehen und empfinden. Die Autorin beschreibt ihr Dunkelblum teilweise auch mit trockenem, bitter-subtilem Humor, das Lachen darüber bleibt zumeist aber im Halse stecken. Es gibt eine wertende, allwissende Erzählinstanz, die die Figuren samt ihrer Geheimnisse kennt. Als Leser nimmt man großen Anteil an den Geschehnissen in turbulenten Zeiten. Man verurteilt die massive Wand aus Verdrängen, Lügen und Schweigen, freut sich über deren Aufweichung durch die engagierte junge Generation.

    Die stilistische Raffinesse kann man gar nicht genug rühmen. Nicht nur inhaltlich ist dieser Roman so perfekt komponiert und strukturiert, dass sich die ausgelegten Fäden zum Ende finden und gekonnt verzahnen. Auch sprachlich ist Dunkelblum ein großer Wurf. Es gibt eindrückliche Sprachbilder, fantasievolle Wortkreationen und tiefgängige Formulierungen zu entdecken. Menasse ist eine Geschichtenerzählerin erster Güte, eine wahre Wortakrobatin. Der Roman ist in österreichischem Sprachduktus verfasst, teilweise auch mundartlich, immer zur jeweiligen Figur passend. Im Anhang findet man ein siebenseitiges Glossar der Austriazismen, das man jedoch nur vereinzelt wirklich braucht, vieles erschließt sich von selbst.

    Für mich ist Dunkelblum ein 6-Sterne-Buch, dem ich riesigen Erfolg wünsche. Es setzt sich gekonnt mit der österreichischen Verdrängungsgeschichte auseinander, beleuchtet viele persönliche Schicksale und hat reale Vorbilder. Das Vergangene kontrastiert dabei eindrucksvoll mit der Gegenwartshandlung von 1989. Der Roman ist auf eine beeindruckende Weise hochkomplex und verträgt auch eine wiederholte Lektüre.

    Ein Highlight des Jahres! Dringende Lese-Empfehlung!

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  1. Die Geschichte von Dunkelblum

    Kurzmeinung: Dicke Leseempfehlung! Mein Lesehighlight 2021.

    Im Zweiten Weltkrieg gab es auch in Dunkelblum jüdische Zwangsarbeiter. Diese sind wie durch Zauberhand verschwunden. Wo sind ihre Leichen verscharrt? Die alten Dunkelblumer wissen Bescheid. Aber keiner machts Maul auf. Trotzdem kommen eines Tages Einzelheiten ans Licht und versetzen die Alten in Angst und Schrecken. Was wird noch heraus kommen? Besonders die Rotensteinwiese ist ein heißes Pflaster. Der Bürgermeister wird angewiesen, er möge Grabungen und Bebauungen dort unbedingt verhindern.

    In dem oberflächlich betrachtet beschaulichen Dorf brodelt es unter der Oberfläche. Gerüchte. Alte Gschichten. Ungeklärtes Verschwinden Missliebiger. Schlecht vertuschte Strafaktionen. Von der NSZeit spricht man kryptisch. Man ist homophob, antisemitisch bis in die Knochen und xenophob bis ins Mark. Da kommt eine Jugendgruppe ins Dorf, die den jüdischen Friedhof renoviert. Jahrzehntelang hat niemand mehr diesen „dritten Friedhof“ betreten. Und nun stehen dessen Tore plötzlich offen und die Existenz dieser toten Juden sickert wieder ins öffentliche Bewusstsein. Und im Wasserstreit drohen Bohrungen. Und wo? Auf der Rotensteinwiese. Ausgerechnet. Um Himmels Willen!

    Der Kommentar:
    In ihrem neuen (2021) Roman „Dunkelblum“ schreibt Eva Menasse gegen die österreichische Geschichtsvergessenheit an. Eigentlich gegen die österreichische Geschichtsverdrängung bezüglich der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Das hat auch Raphaela Edlelbauer in ihrem Roman „Das flüssige Land“ gemacht, der Roman schaffte es auf die Long/Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019. Wo auch Eva Menasses Roman „Dunkelblum“ 2021 hingehört hätte! Warum stehen dort eher alberne Titel wie Identitti, Drei Kameradinnen und Die Nibelungen?

    Welchen der beiden vorgenannten Romane man vorzieht, „Dunkelblum“ oder „Das flüssige Land“, um noch einmal in die Hintergründe der Gräuel des Zweiten Weltkrieges einzusteigen, ist eindeutig Geschmacksache. Für mich ist Edelbauers Roman zu kafkaesk und zu unbestimmt geblieben, geisterhaft sogar, ich brauche etwas Handfesteres. Ich mag deshalb ungleich mehr, was Eva Menasse macht: Sie verortet ihren Roman mutig im Realen! Zwar nennt sie keinen Klarnamen, aber wer sich eine Karte vornimmt, identifiziert Ross und Reiter schnell.

    Fazit: Geschichtsaufarbeitung auf höchstem Niveau. Eva Menasse ist eine große Erzählerin, die alles kann: Eine Sprachvirtuosin und Komponistin ohnegleichen. Ich empfehle diesen Roman von ganzem Herzen. Mein Lesehighligt 2021!

    Kategorie: Belletristik. Historischer Roman.
    Verlag: KiWi, 2021

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