Die Wahrheit der Dinge: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Wahrheit der Dinge: Roman' von Markus Thiele
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Wahrheit der Dinge: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:240
Verlag:
EAN:9783710900938

Rezensionen zu "Die Wahrheit der Dinge: Roman"

  1. Ein Strafrichter im Gewissenskonflikt

    Markus Thiele ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Rechtsanwalt. Insofern wundert es nicht, dass „Die Wahrheit der Dinge“ sehr authentisch und von großer Sachkenntnis geprägt wirkt. Der Roman ist fiktional, verarbeitet aber zwei wahre Rechtsfälle: den Fall Marianne Bachmeier sowie den Fall Amadeu Antonio Kiowa. Es geht also um Selbstjustiz und rechtsextreme Gewalt.

    Protagonist Frank Petersen ist ein passionierter, gewissenhafter Strafrichter in Hamburg. Seine Frau Britta hat ihm eine eheliche Auszeit verordnet, sie kann „seine Selbstgerechtigkeit nicht mehr ertragen“. Offensichtlich hat das Ehepaar über eines seiner jüngeren Gerichtsurteile, die „Korkmaz-Sache“, völlig unterschiedliche Ansichten. Der Streit darüber eskalierte und führte zur Trennung. Die Kritik seiner Frau trifft Petersen hart. Er liebt seinen Beruf und fühlt sich dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet. Den Vorwurf, er ließe sich von seinen Vorurteilen leiten, hält er für unangemessen. Trotzdem nimmt er sich eine berufliche Auszeit, um Grundsatzfragen zu klären und sein Gleichgewicht wiederzufinden.

    Die Geschichte wird auf mehreren Zeitebenen erzählt. Im direkten Zusammenhang mit Petersens Zweifeln steht ein vier Jahre zurückliegender Fall von Selbstjustiz, in dem Corinna Maier den mutmaßlichen Mörder ihres 19-jährigen Sohnes kurz vor der Urteilsverkündung mit acht Schüssen niederstreckte. Seit jenem Tag hat Petersen Zweifel und offene Fragen, zumal das BGH seitdem vier seiner Urteile aufgehoben hat. Er hat das Gefühl, sein Leben sei durch den Vorfall völlig aus dem Ruder gelaufen.

    Jetzt wird Corinna Maier vorzeitig aus der Haft entlassen. „Er ist auf ihre Entlassung nicht vorbereitet. Oder ist er es doch? Wie könnte er nicht darauf vorbereitet sein, wenn seither kaum ein Tag vergangen ist, an dem er nicht an damals gedacht hat? Immer wieder reißen ihn die Schüsse aus dem Schlaf, (…) die nicht mehr den Angeklagten, sondern ihn, Petersen, treffen, die ihn schweißgebadet aufschreien lassen.“ (S. 22)

    Petersen holt Corinna Maier aus der Haftanstalt ab. Er erhofft sich Antworten und Aufklärung, im Gegenzug hilft er ihr, erste Schritte in der wieder gewonnenen Freiheit zu machen. Es ergibt sich eine Art Roadmovie, in dessen Rahmen Petersen interessante Menschen trifft, die seine Weltsicht erweitern. Weitere Zeitebenen führen zurück in die Studienzeit Corinnas, zu ihrer ersten großen Liebe und zu ihrem Leben im Vorfeld der Gewalttat. Die unterschiedlichen Ebenen werden perfekt verzahnt. Der Leser bleibt lange darüber im Ungewissen, was die eigentliche Ursache der Schüsse war und was es mit der Korkmaz-Sache auf sich hat.

    Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit der Innensicht des Strafrichters, die zu einer umfassenden Charakterstudie desselben führen. Petersen hinterfragt sich selbst, seine Intuition, seine (Vor-)Urteile, seine Überzeugungen, bestehende Gewissenskonflikte und seine Professionalität. Der Leser darf tief in die Gedankenwelt des getrieben wirkenden Richters eintauchen, der auch philosophische Überlegungen anstellt, die teilweise im Dialog mit anderen Figuren weiter ausgeführt werden. Er setzt sich mit seiner Vergangenheit, aber auch mit der Kritik an seinen Urteilen auseinander, wodurch dem Leser ein Eindruck darüber vermittelt wird, wie schwierig es ist, Recht zu sprechen. „„Gerechtigkeit ist Wunschdenken.“, sagt seine Chefin zu ihm, „Daran können sich Philosophiestudenten austoben. In unserem Job geht es einzig und allein um Gewissenhaftigkeit. Mehr haben wir nicht abzumachen.““ (S. 31) Der Fokus legt sich auf die Graubereiche der Justiz. Obwohl zu Protagonist „Petersen“ (auch durch die unpersönliche Titulierung) Distanz aufgebaut wird, kommt man ihm als Leser nah.

    Der anspruchsvolle, konsequent im Präsens gehaltene Schreibstil hat mich gefangen genommen. Der Roman regt zum Nachdenken an, die Thematik wird vielschichtig beleuchtet. Das norddeutsche Setting ist perfekt gewählt und wird bis ins Detail gut umgesetzt. Man hört das Geschrei der Möwen und riecht das salzige Meer. Neben Hamburg lernt man Husum und weitere Schauplätze kennen. Sowohl Haupt- als auch Nebencharaktere werden absolut glaubwürdig dargestellt. Manchmal hätte ich mir nur gewünscht, dass die Handlung etwas schneller fortschreitet.

    Im Laufe des Romans werden verschiedene Standpunkte zu den Themen Migration und Fremdenfeindlichkeit aufgezeigt. Es werden die Graubereiche der Justiz beleuchtet. Das schlüssig-glaubwürdige Ende, bei dem der Autor nicht der Versuchung erlegen ist, ideologischen Komponenten den Vorzug einzuräumen, fügt sich wunderbar in die Gesamtkonstruktion des Romans ein. Und ein bisschen Happyend gibt es auch. Sehr gelungen!

    Ich habe diesen sorgfältig konstruierten Justizroman sehr gerne gelesen und werde den Autor Markus Thiele gut im Auge behalten.

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