Die Übung (Quartbuch)

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Übung (Quartbuch)' von  Claudia Petrucci
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Übung (Quartbuch)"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783803133434

Rezensionen zu "Die Übung (Quartbuch)"

  1. Vielschichtiger, psychologisch dichter Beziehungsroman

    Giorgia und Filippo, beide Anfang 30, leben in einem preiswerten Mehrfamilienhaus in Mailand. Filippo hat die Bar seines Vaters übernommen, der es an Gästen mangelt, Giorgia arbeitet seit Kurzem als Kassiererin in einem Supermarkt. Sie kommen mehr schlecht als recht über die Runden. Beide scheinen irgendwie gestrandet, auf den kleinsten Nenner zurückgeworfen zu sein: „Alle Möglichkeiten sind schön, bevor sie Wirklichkeit werden, sie sind das Bild, das zu malen du dir vorstellst, das Lied, zu dem zu tanzen du dir vorstellst. Erst wenn man zwangsläufig mittendrin steckt, versteht man die Dinge wirklich.“ (S. 19)

    Giorgia hat ein drängendes psychisches Problem: Sie kann sich nicht von anderen Personen abgrenzen, hat Halluzinationen. Starre Verhaltensmuster helfen ihr, ein halbwegs normales Leben zu führen. Ihre Routine wird unterbrochen, als sie Mauro wiedertrifft, ihren ehemaligen Schauspiellehrer. Heftige Gefühle branden auf. Offenbar spielte sie unter seiner Regie Theater, wurde aufgrund ihres herausragenden Talents bewundert, tauchte dann jedoch plötzlich ab und verschwand. Von diesem Teil ihres Lebens hat sie Filippo nie erzählt, irgendetwas muss dort vorgefallen sein… Als Leser nimmt man verschiedene Hinweise auf, dass der Schlüssel zu Giorgias schwieriger Persönlichkeit in der Vergangenheit liegen muss: „Manche Vergangenheiten sitzen so tief in deinem Atem, deinem Magen, dass es kein Entrinnen gibt“. (S. 30)

    Mauro bietet Giorgia eine neue Rolle an, die sie zögernd annimmt. Die Proben scheinen ihr zunächst gut zu tun, am Premierenabend kommt es aber zu einem tragischen Zwischenfall, der Georgia für lange Zeit in die psychiatrische Klinik befördert. Mauro steht in diesen schweren Monaten an Filippos Seite. Gemeinsam besuchen sie die Patientin regelmäßig und lesen ihr wiederholt dasselbe Theaterstück vor. Wochenlang reagiert sie nicht. Nach dem Aufwachen aus der Apathie scheint sich Giorgia mit der gehörten Rolle aus dem Stück identifiziert zu haben. Sie spricht und bewegt sich gänzlich nach den Anweisungen des vorgelesenen Skripts.

    Da die Ärzte ratlos sind, kommen die beiden Männer auf eine verwegene Idee: Kann man für Giorgia eine neue Rolle finden, ihr ein neues, glückliches Leben einprogrammieren? Kann man mittels bekannter Daten ein neues Skript schreiben, das ihr den Weg hinaus aus der Klinik und zurück in ihr Leben ermöglicht? Mauro und Filippo nennen dieses Projekt „Die Übung“ und setzen damit einen Prozess in Gang, der sich schon bald ihrer Einflussnahme entzieht.

    Was mit hehrer Zielsetzung beginnt, entwickelt zunehmend eine eigene Dynamik. Die Übung scheint zunächst zu funktionieren, jedoch ist die menschliche Psyche ein komplexes Wesen und nicht uneingeschränkt manipulierbar. Wie wird Giorgia reagieren, wenn sie keine konkreten Anweisungen in ihrem Unterbewusstsein findet? Der Roman entfaltet sich zunehmend als psychologischer Spannungsroman. Jede Figur wird lebendig in ihrem Umfeld mit Stärken und Schwächen gezeichnet, mit fortschreitender Lektüre gibt es interessante Wendungen. Das Beziehungsgeflecht der Protagonisten, zu denen auch Mauros Schwester Amelia gehört, entwickelt sich vielschichtig. Insbesondere Mauros Rolle im Ganzen gibt Rätsel auf. Er scheint der Zeremonienmeister zu sein. Als Leser wird man im Unklaren darüber gelassen, ob er sich wirklich völlig altruistisch um die Menschen seines Umfeldes kümmert oder andere Ziele verfolgt.

    Die Beeinflussung Georgias erinnert mich an eine programmierbare künstliche Intelligenz. Ich kann nicht abschätzen, inwiefern die beschriebenen Manipulationen medizinisch denkbar oder realistisch sind. Dem Romangeschehen tut das aber keinen Abbruch. Zu spannend sind die Interaktionen der Figuren, zu gut durchdekliniert ist die Handlung als solche. Es lohnt sich, ganz am Ende des Buches noch einmal zur Vorgeschichte zurückzublättern, dort finden sich lose Fäden, die mit dem Ende verknüpft neuen Sinn ergeben. „Ich leide nicht unter diesem Ich-Mangel, diesem Fehlen von mir als Individuum, das ist ein abstraktes Konzept, letztlich wertlos“, beklagt sich Giorgia auf S. 49. Das könnte die Erklärung sein, warum sie problemlos mit anderen Identitäten und Rollen verschmelzen kann. Eins passt ins Andere.

    Auf den ungewöhnlichen, innovativen Plot muss man sich als Leser einlassen. Die Welt des Theaters hat auch etwas mit Fantasie und Vorstellungskraft zu tun. Die braucht man hier, um die Entwicklung Giorgias nachempfinden zu können. Das ist aber im Grunde gar nicht das Entscheidende, denn hinter den Kulissen ergeben sich weitere, tiefgreifende Fragestellungen, über die man nachsinnen kann. Es geht natürlich um Identität, um Schein und Sein, um den Wunsch nach einem idealen Partner (Liebe und Manipulation), um die Sehnsucht nach Erfüllung, nach einem glücklichen Leben. Es geht um Freundschaft, Familienverstrickungen und Sinnsuche.  Man verfolgt die vier jungen Menschen gern. Jeder hat eine Vergangenheit, die den Charakter geprägt hat. Der Roman hat viele Ebenen, die zum Nachdenken anregen. Auch sprachlich hat er mir sehr gut gefallen, er enthält wunderschöne tiefgründige Formulierungen und Bilder. Die Übersetzung ist Mirjam Bitter exzellent ohne Stolpersteine gelungen. Einzig mit dem Titel bin ich ein wenig unglücklich, der offenbar wörtlich aus dem Italienischen (L´esercizio) übernommen wurde. Der englische Titel heißt „The Performance“ und trifft es meines Erachtens besser - einen vergleichbaren deutschen Begriff bleibe ich aber auch schuldig.

    Ich spreche eine dicke Lese-Empfehlung für diesen ungewöhnlichen, psychologisch und sprachlich dichten Roman aus, der sich ideal für Lesekreise eignet und zum Diskutieren einlädt.

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