Die Taube

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Taube' von Patrick Süskind
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Taube"

In fünf Monaten wird der Wachmann einer Pariser Bank, der als einzigen Nutzen seiner Tätigkeit das Öffnen des Tores vor dem Direktionswagen erkannt hat, das Eigentum an seiner kleinen Mansarde endgültig erworben haben, wird ein weiterer Markstein seines Lebensplanes gesetzt sein. Doch dieser fatalistische Ablauf wird an einem heißen Freitagmorgen im August 1984 jäh vom Erscheinen einer Taube in Frage gestellt."

Format:Taschenbuch
Seiten:112
EAN:9783257218466

Rezensionen zu "Die Taube"

  1. Eine raffinierte, psychologisch intensive Geschichte

    „Er sei zu Tode erschrocken gewesen – so hätte er den Moment wohl im nachhinein beschrieben, aber es wäre nicht richtig gewesen, denn der Schreck kam erst später. Er war viel eher zu Tode erstaunt.“ (Zitat Seite 15)

    Inhalt
    Jonathan Noel ist über fünfzig Jahre alt. Er arbeitet als Wachmann in einer Bank in Paris. Seit vielen Jahren wohnt er zufrieden und zurückgezogen in einem kleinen Einzimmerappartement im sechsten Stock eines Hauses in der Nähe seines Arbeitsplatzes. Doch an diesem Freitag im August des Jahres 1984 wird die ruhige Routine seines Tagesablaufs empfindlich gestört. Eine Taube sitzt im Flur, nicht weit von seiner Türschwelle entfernt, und scheint ihn anzustarren. Dies versetzt ihn in Panik und seine geordnete Welt gerät völlig aus den Fugen.

    Thema und Genre
    In dieser Novelle geht es um einen Mann, dessen genau festgelegter Tagesablauf durch das zufällige Auftauchen einer Taube gestört wird.

    Charaktere
    Jonathan Noel verabscheut Überraschungen, denn es gab gravierende Ereignisse in seinem Leben, die er am liebsten vergessen möchte, die sich dennoch immer wieder in seine Erinnerung drängen. Pflichtbewusst, genügsam, manchmal in den Gedanken leicht überheblich gegenüber seinen Mitmenschen, ist Jonathan keine besonders sympathische Hauptfigur, dennoch empfindet man Mitleid mit ihm.

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte spielt an einem einzigen Tag. Es ist ein heißer Freitag im August, der mit einem unvorhergesehenen Ereignis beginnt. Diese Taube im Hausflur versetzt Jonathan Noel in einen Schockzustand, mit spontanen Entscheidungen, die ihn im Laufe des Tages ins Chaos stürzen. Es sind nicht nur seine Erlebnisse, sondern vor allem seine Gedanken und Gefühle zwischen Panik und Pflichtbewusstsein, seine verzweifelten Versuche, an seinem korrekten, in seinen Augen untadeligen Verhalten festzuhalten, während seine Gedankenphantasien sich von genau diesen Zwängen zu lösen scheinen.

    Fazit
    Eine moderne Novelle, beklemmend und psychologisch vielseitig interpretierbar.

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  1. Meisterhafte Erzählung

    Inhalt

    "Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, daß ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Welsentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod." (S.5)

    Mit nur wenigen Sätzen umreißt der Erzähler das tragische Leben des Protagonisten, dessen Eltern als Juden im 2.Weltkrieg aus Frankreich deportiert wurden, so dass Jonathan gemeinsam mit seiner Schwester im Süden auf dem Bauernhof seines Onkels aufwächst. Anfang der 50er Jahre schickt ihn dieser zum Militärdienst, er wird nach Indochina verschifft und dort verletzt. Als er zurückkehrt, ist seine Schwester nach Kanada ausgewandert.
    Er soll verheiratet werden, doch seine zukünftige Frau verlässt ihn vor der Hochzeit, da ist sie von einem anderen schwanger.
    Diese tragischen Ereignisse werden in sachlichem Ton kurz und knapp zusammengefasst und gipfeln in Jonathans Erkenntnis:
    "daß auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt." (S.8)

    So trifft er seine erste eigene Entscheidung und zieht nach Paris. Dort mietet er sich eine winzige Mansarde, in der er heimisch wird und tritt eine Stelle als Wachmann einer Bank an. Täglich öffnet er dem Direktor der Bank das Tor, salutiert, während der Wagen vorüber fährt und verabschiedet ihn. In fünf Monaten kann er von seinem Ersparten endlich seine winzige Wohnung sein Eigentum nennen, alles verläuft nach seinem fatalistischen Plan - bis eines Tages jene Taube im engen Gang für seiner Tür sitzt:
    "Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt und glotzte Jonathan mit ihrem linken Auge an. Dieses Auge, eine kleine, kreisrunde Scheibe, braun mit schwarzem Mittelpunkt, war fürchterlich anzusehen. Es saß wie ein aufgenähter Knopf am Kopfgefieder, wimpernlos, brauenlos, ganz nackt, ganz schamlos nach außen gewendet und ungeheuer offen; zugleich aber war da etwas zurückhaltend Verschlagenes in dem Auge" (S.15)

    Die Taube und ihr Blick - ein Symbol für all das, was Jonathan sein Leben lang verdrängen will? Ein Blick in sein Inneres, auf das Verlassensein, seine tiefe Einsamkeit? Sie blickt ihn schamlos an, sieht ihn - erkennt ihn und sein Leben.
    Fast traut er sich nicht mehr hinaus, ist nicht in der Lage sich seinem Leben zu stellen. Meisterhaft beschreibt Süskind in zeitdehnendem Erzählen und der ihm so eigenen Beobachtungsgabe, die alle Sinne umfasst, wie Jonathan sich durch seinen Tag quält. Wie plötzlich alle Selbstverständlichkeiten durcheinander geraten, wie das endlose Stehen vor der Bank, das gleichzeitig sein Leben widerspiegelt. Stillstand, keine Veränderung, Kontrolle und Disziplin gegen die Unwägbarkeiten des Lebens; der immer gleiche Tagesablauf als Schutz vor Verletzungen und dem erneuten Verlassen werden.
    Doch die Taube hat seine Welt auf den Kopf gestellt:

    "Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, so daß sie die Säule berührten. Dann ließ er sich sachte zurückfallen, gegen die eigenen Hände und gegen die Säule, und lehnte sich an, zum ersten Mal in seiner dreißigjährigen Dienstzeit. Für ein paar Sekunden schloß er die Augen. So sehr schämte er sich." (S.51)

    Seine Panik geht so weit, dass er in einem Hotel übernachtet, bis ein reinigendes Gewitter, das großartig beschrieben ist, ihn rettet.

    Bewertung
    Auf der Rückseite des Buches ist eine Rezension des Rheinischen Merkurs abgedruckt:

    "Ein rares Meisterstück zeitgenössischer Prosa, eine dicht gesponnene, psychologisch raffiniert umgesetzte Erzählung."

    Treffender lässt sich die Erzählung nicht bewerten. Meisterstück für mich vor allem wegen der genauen Beschreibung der inneren und äußeren Vorgänge Jonathans. Sein körperliches Unwohlsein, seine Ängste beim Anblick der Taube, seine Unsicherheit, das ist als Leser/in unmittelbar erfahrbar. Alle Sinne werden angesprochen, das ist Süskind, so wie ich ihn auch aus dem Roman "Das Parfüm" kenne.
    Der Schutzpanzer, den sich der Protagonist über Jahre aufgebaut hat, wird seziert und am Ende erfolgreich aufgebrochen.

    Eine kurze Erzählung, die nachdenklich stimmt und beim Lesen viel Freude schenkt.

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  1. Wunderbar kurzweilig...

    Eine wahrlich entzückende Geschichte. Trotz ihrer Kürze gewährt sie einen tiefen Einblick in alle möglichen Gedankenwirrgänge, die sich auftun können, wenn man unerwarteten Lebenssituationen ausgesetzt wird. Selbst als geringfügig einzuschätzende Schwierigkeiten können manchmal zu scheinbar unlösbaren Konfrontationen mutieren. Besonders musste ich immer dann schmunzeln, wenn ich eigene Züge, natürlich in gemilderter Form, im Wesen des Protagonisten erkannt habe. So sehr man sich anfangs über Jonathan amüsieren mag, habe ich zunehmend auch Verständnis und Sympathie für ihn entwickelt. Rundum ein wunderbares kleines Buch. Einzig fand ich persönlich Begriffe wie "Pisse" völlig überflüssig, zudem auch irgendwie unpassend zu dem sonst ganz wunderbaren Text.

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