Die Lüge

Rezensionen zu "Die Lüge"

  1. Der ‚Regenbogenfamlien-Kokon‘

    Was bedeutet es für ein Kind, wenn es in einem Kokon aufwächst? Der Kokon umfasst allein Onkel Slawa, dessen Lebenspartner Lew und Miki selbst, und das im schwulenfeindlichen Russland! Niemand darf von dieser Konstellation wissen, denn sonst würde Slawa das Sorgerecht entzogen. Slawas Schwester, die Mutter von Miki, hatte sich das vor ihrem Tod (Brustkrebs), als Miki 4 Jahre alt war, so wünscht. In einem Brief, den sie ihm hinterließ, schrieb sie unter anderem: "Wenn du mit Slawa und (wie ich sehr hoffe) dem Mann, den er liebt, aufwächst, wird das für dich eine nicht einfache, aber unschätzbar wertvolle Erfahrung…….. Du wirst lernen, hinter die gesellschaftlichen Schablonen zu blicken und den wahren Menschen zu sehen, aber vor allem wirst du lernen, frei zu denken."

    Ich gestehe: manchmal wurde mir Mikis Baden im Selbstmitleid (und seine Wut, die daraus resultierte) zu viel! Andererseits kann ich mir wahrscheinlich auch nicht im Entferntesten vorstellen, was so ein Leben im Einzelnen bedeutet: wenn jemand Fremdes in die Wohnung kommen will, müssen sämtliche Familienbilder der Drei + die Regenbogenfähnchen weggeräumt werden, Miki darf nie die Partnerschaft von Slawa und Lew erwähnen, er muss sich dumme Witze und Sprüche über Schwule anhören, sollte aber keine Stellung dazu beziehen, weil er ja dadurch das Konstrukt verraten könnte. Fazit: er lebt permanent mit einer Lüge!

    Miki ist sehr introvertiert. Veranlagung oder sind es die Umstände? Slawa und Lew sind – obwohl unterschiedlich, aber sich perfekt ergänzend – großartige Eltern, die man jedem Kind nur wünschen kann! Voller Verständnis und trotzdem auf Regeln bestehend, sind beide für ihn die Felsen in einer Brandung. Wunderschöne Szenen, wie z.B. das Heimkommen nach dem Kennenlernen seines leiblichen Vaters, das tiefgründige Gespräch mit Lew nach seinem Selbstmordversuch, der Besuch im Kinderheim und viele mehr berührten mich tief!

    Begeistert hat mich auch Lews Erklärung, die Einstellung der Menschen gegenüber queeren Paaren wäre vergleichbar mit der Zeit, in der die Menschheit dachte, die Erde wäre eine Scheibe und deren Festhalten daran. „Weil die Dinge, die sie (die Gelehrten) gesagt haben, für die anderen ungewohnt und seltsam waren. Den anderen Menschen fiel es schwer, etwas zu akzeptieren, das sie nicht verstanden haben. Obwohl die Gelehrten die Wahrheit gesagt haben, war es für die Leute einfacher, sie umzubringen, als ihre eigenen Ansichten zu ändern.“

    Auch von der russischen Gesellschaft bekommt der Leser einiges mit: z.B. ‚Ich bin diese verfluchte Wahl zwischen Gewalt und Gewalt so leid. Hier bleibt selbst den Kindern nichts, als sich ihre Henker auszusuchen.‘ oder ‚Wenn ich doch nur wüsste, wie man dieses wuchernde Übel ausrottet, dieses Waisentum trotz lebender Eltern‘.

    Fünf Sterne gebe ich diesem emotionalen Roman, der mich stark beeindruckte und dem ich viele, viele Leser wünsche! Ich hoffe, dass auch weniger aufgeschlossene Menschen dieses Buch lesen und ihre Einstellung zu diesem Thema auf den Prüfstand stellen.

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  1. Auswirkungen einer homophoben Gesellschaft

    Mikita (Miki) ist gerade fünf Jahre alt als seine Mutter nach langer Krankheit stirbt. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen. Doch zum Glück gibt es Slawa, seinen Onkel mütterlicherseits, der sich bereits während zahlreicher Krankenhausaufenthalte der Mutter, intensiv um den Jungen kümmerte und den Mikita sehr liebt. Mit Lew, dem Lebensgefährten von Slawa, versteht sich Mikita anfänglich nicht, doch über die Jahre wächst auch zwischen den beiden eine tiefe Bindung. Das Familienleben mit zwei Vätern in einer russischen Kleinstadt könnte unproblematisch und ungetrübt sein, wäre da nicht die homophobe Gesellschaft mit ihren Vorurteilen und Anfeindungen.
    Die große Lüge beginnt als Mikita in die Schule kommt. Er muss lernen, dass er in der Öffentlichkeit nur Slawa, der ihn adoptiert hat, als seinen Vater bezeichnen darf. Kommen Schulkamerad:innen zu Besuch, werden Familienfotos und Regenbogenfähnchen versteckt; auch Schulaufsätze über das Familienleben müssen angepasst werden. Immer schwebt die Gefahr im Hintergrund, das Jugendamt könnte von den „unmoralischen“ Verhältnissen, in denen Miki aufwächst, Wind bekommen und Slawa das Sorgerecht entziehen.
    Der Druck, der auf Miki täglich lastet, weil er sich verstellen muss, nimmt zu und irgendwann richten sich sein „Hass“ und seine Verzweiflung auch gegen seine Väter. Als Mikita in der Pubertät feststellt, dass er sich auch zu Jungen hingezogen fühlt, versucht er, diese Tatsache mit aller Kraft zu verdrängen, wird gewalttätig und psychisch krank.
    Gut gefallen hat mir, dass wir es hier mit einer - in der Literatur so seltenen - intakten Familie zu tun haben. Auch Slawa und Lew sind nicht perfekt, machen Fehler - unter dem Strich sind sie aber tolle Eltern, die Miki lieben, sich mit ihm auseinandersetzten, ihn fördern, Werte und Weltoffenheit vermitteln und immer zu ihm stehen.
    Alle ernsthaften Konflikte haben ihren Ursprung in der Gesellschaft mit ihren starren Vorstellungen von Familie, Männlichkeit und Moral.
    Zwei Punkte haben mich beim Lesen allerdings gestört.
    Der Roman liest sich zwar flüssig, kommt sprachlich aber sehr einfach daher. Es gibt keine einzige Stelle, wo mich ein sprachliches Bild oder eine Formulierung berührt hätte. Infolgedessen habe ich die Geschichte zwar gerne gelesen, tief bewegen konnte sie mich allerdings nicht.
    Zudem konnte ich Mikis Reaktionen manchmal nicht nachvollziehen. Eine Überdramatisierung von Erlebnissen passt zwar zum Alter des Protagonisten, war mir in der Intensität aber trotzdem eine Spur zu viel. Es gab für mich eine unauflösbare Diskrepanz zwischen dem Aufwachsen Mikis und seinen eigenen homophoben Gefühlen. Ich verstehe nicht, dass ein Kind, das so behütet mit zwei Vätern aufwächst, die Moral der homophoben Gesellschaft derart internalisiert, dass sich ein Hass gegen seine Väter, sich selbst und andere homosexuelle Menschen überhaupt entwickeln kann. Dagegen kann ich den Wunsch nachvollziehen, nicht auffallen und den gesellschaftlichen Normen entsprechen zu wollen.
    Thematisch gesehen ist „Die Lüge“ ein lesenswertes Debüt, das ich mit 3,5, aufgerundet auf vier Sterne, bewerte.

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  1. Aktuell und beeindruckend

    „Und obwohl wir einer normalen Familie immer ähnlicher wurden, beschlich mich das Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmte.“ (Zitat Pos. 324)

    Inhalt
    Mikita, doch alle nennen ihn Miki, ist fünf Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Sein Onkel Slawa, der Bruder seiner Mutter, ist nur sechs Jahre älter als Miki. Er war schon immer wie ein großer Bruder für ihn und nimmt Miki jetzt auf. Doch Slawa lebt nicht allein, er lebt mit dem Arzt Lew zusammen. So hat Miki eine neue Familie, ohne Mutter, dafür mit zwei Vätern und das darf niemand wissen. Je älter Miki wird, desto mehr bedrückt ihn die Situation und dazu kommen noch seine eigenen Gefühle, die ihn in Verwirrung stürzen. Sein Leben ist plötzlich ein wütendes Chaos und er erkennt sich selbst nicht mehr. Was ist nur mit ihm los?

    Thema und Genre
    In diesem modernen Coming-of-Age- und Gesellschaftsroman, der in Russland spielt, geht es um Freundschaft, Familie, Verständnis, Pubertät, Psychologie. Themen sind alle Facetten von Liebe und unterschiedliche Beziehungsformen.

    Charaktere
    Mikita verbringt seine Kindheit und Jugend in einer Familie mit zwei Vätern. Zunächst fällt ihm das nicht auf, doch im Schulalter beginnen die mit dieser Situation verbundenen Lügen und Geheimnisse. Dies, in Verbindung mit den Problemen der Pubertät führen zu einem Gefühlschaos zwischen Depression und Aggression.

    Handlung und Schreibstil
    Mikita wächst mit zwei Vätern auf und erzählt als Ich-Erzähler. Die Handlung umfasst chronologisch und zeitnah die wichtigen Jahre der Kindheit und Jugend. Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch Erinnerungen an einzelne, prägende Episoden der frühen Kinderjahre. Die Form des Ich-Erzählens lässt auch Raum für die Schilderung der intensiven Gefühle und Stimmungen, Konflikte und Probleme dieser speziellen Familienform in der unterdrückten Öffentlichkeit des konservativen Russland. Mikita ist ein sympathischer, ehrlicher Erzähler und die Geschichte ist nachvollziehbar. Die Sprache passt zum Alter des Ich-Erzählers und wir glauben ihm.

    Fazit
    Ein einfühlsamer Roman zu einem zeitlos aktuellen Thema, geschrieben in der erfrischend direkten, offenen Sprache eines jungen Ich-Erzählers. Eine trotz zahlreicher Konflikte und Probleme sehr positive Geschichte.

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