Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman' von Mohamed Mbougar Sarr
4.55
4.6 von 5 (14 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman"

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt – Mohamed Mbougar Sarrs großer Roman über die Suche nach einem verschollenen Autor Mohamed Mbougar Sarr erzählt virtuos von der Suche nach einem verschollenen Autor: Als dem jungen Senegalesen Diégane ein verloren geglaubtes Kultbuch in die Hände fällt, stürzt er sich auf die Spur des rätselhaften Verfassers T.C. Elimane. Dieser wurde in den dreißiger Jahren als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert, nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal tauchte er jedoch unter. Wer war er? Voll Suchtpotenzial und unnachahmlicher Ironie erzählt Sarr von einer labyrinthischen Reise, die drei Kontinente umspannt. Ein meisterhafter Bildungsroman, eine radikal aktuelle Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des Kolonialismus und eine soghafte Kriminalgeschichte. Ein Buch, das viel wagt – und triumphiert.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
EAN:9783446274112

Rezensionen zu "Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman"

  1. "Lesen Sie sein Buch, es ist natürlich fabelhaft." (S. 295)

    Ich wünsche Mohamed Mbougar Sarrs Romen „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ sehr viele Leser, denn dieses Werk ist ein unfassbar faszinierendes, schwindelerregendes, verschachteltes mitunter ironisches und bei genauerer Betrachtung sehr widersprüchliches Kunstwerk, das seinesgleichen sucht. Vom Erzählauftakt an, der einer Rahmenhandlung gleicht, wandelt der Leser auf den Spuren des berühmt-unbekannten (kein Widerspruch) Autoren T.C.Elimane – einst gefeiert, dann verdammt.

    Der junge Diégane, ein aufstrebender Schriftsteller aus dem Senegal, gerät in den Bann des einzigen Werks Elimanes und in dem Bestreben mehr über diesen Ausnahme-Literaten und die Begleitumstände des Romans zu erfahren, begibt er sich nicht nur lesend, sondern auch in der Realität mehr und mehr in „Das Labyrinth des Unmenschlichen“. Wie Diégane verfängt auch der Leser sich Seite für Seite immer stärker in diesem Irrgarten aus Geschichten, Mosaiksteinchen und Puzzlestückchen, doch trotz aller scheinbarer Annäherung bleibt Elimane schemenhaft, ein Schatten (so wie auch sein Werk für uns Leser nur eine Idee bleibt). Dabei folgt köstliche Erzählschachtel auf Erzählschachtel, an der Hand unterschiedlicher Figuren, die sich in ihren Erzählungen überlappen und zwischen einander hin- und herwechseln, aber nie den roten Faden verlieren, wandelt man durch einen erzählerisch wirklich ausgezeichnet gemachten Roman. Es folgt Tagebuch auf Brief, auf Artikel, auf Interview, auf Notizbuch, auf Kurzbiographie – alle Formen der Informationsvermittlung treffen hier aufeinander und alle sorgen sie für ein hohes Maß an Authentizität. Diese trifft wiederum inhaltlich auf die schwarze Magie Afrikas, die als Handlungselement so plausibel ist, dass man sie an keiner Stelle anzweifelt. Ich gebe zu, dass ich mich normalerweise mit magischem Realismus sehr schwertue, Sarrs Roman ist tatsächlich der erste, der mich in dieser Hinsicht überzeugt und mir gefällt.

    Inhaltlich deckt der Roman große Fragen ab und befasst sich mit so grundlegenden Themen wie hybrider Identität, den Auswirkungen von Kolonisation auf literarisches Schaffen und die ausgeprägte zur Schau gestellte vermeintliche Überlegenheit europäischer Kultur. Besonders hier ist der Roman außergewöhnlich gut gelungen. Er scheut sich nicht, den herrschenden Trend des Personenkults im Literaturbetrieb explizit und überspitzt der Lächerlichkeit preiszugeben (unvergessen S. 295) und zeigt mit seiner Darstellung des Schicksals der Literaturkritik wie weit sich die momentanen Strömungen vom eigentlichen Text zu entfernen scheinen. In Momenten wie diesen fand ich den Roman einfach nur hellsichtig und großartig, um nicht zu sagen preisverdächtig (ein Preis wurde ja bereits gewonnen).

    Trotz allem hat auch dieser herausragende Text seine Schwächen. Ich wünsche dem Text – wie eingangs erwähnt – zahlreiche Leser, allerdings glaube ich, dass nicht sehr viele die Hürde der Anfangskapitel zu nehmen bereit sind. Die ersten 120 Seiten ziehen sich, sie sind durchtränkt von schwurbeligen Endlossätzen mit unnötigen Fremdwörterergüssen, die die junge selbstverliebte Erzählinstanz glaubt äußern zu müssen. Zwar sind diese Teile selbstverständlich in der Rückschau sehr sinnvoll und erfüllen auch hervorragend ihre Funktion – Freude macht die Lektüre dieser Passagen dennoch nicht. Ebenso gibt es inmitten der wahrlich großen und überzeugenden Handlung zum Ende hin auch noch eine recht lustlos dahingeschriebene Episode, in deren Mittelpunkt die Rückkehr in den Senegal und das Exil in Argentinien steht. Sie wirkt fast wie ein Fremdkörper im Text, ist redundant und grenzwertig langweilig.

    Und dennoch: auch wenn der Roman seine kleineren Unwägbarkeiten hat und mir die Frauenfiguren in ihrer Darstellung durchweg nicht zugesagt haben, so ist doch Sarrs Werk ein unglaublicher Ritt durch die Literatur, durch die Auswirkungen des Kolonialismus, durch die Beziehungen zwischen dem Senegal und Frankreich. Absolut lesens- und empfehlenswert.

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  1. Durch das "Labyrinth des Unsichtbaren"

    Ein Buch mit dem Titel "Das Labyrinth des Unsichtbaren", das (unter anderem) eine mythologische Geschichte über einen grausamen König erzählt, erscheint im Jahr 1938 in kleiner Auflage in einem kleinen Verlag in Paris. Der Autor nennt sich T.C.Elimane, stammt aus dem Senegal, lebt in Paris und schreibt in Französisch. Das Buch löst eine heftige literaturwissenschaftliche Debatte aus, wird von den meisten Kritikern als Plagiatsammlung verrissen, und selbst wer es als Meisterwerk anerkennt, äußert zumeist Verwunderung, dass "ein Neger" es geschrieben haben soll, "der schwarze Rimbaud" - unmöglich eigentlich. Das Buch verschwindet vom Markt, der Kleinverlag geht zugrunde, weil seine Betreiber nach Kriegsbeginn fliehen müssen. Der Autor Elimane veröffentlicht nichts weiter mehr, sein weiteres Schicksal liegt im Dunkeln.

    "Die geheimste Erinnerung des Menschen" wäre einfach zu lesen, wenn es darin einfach um Elimane ginge, was und warum er schrieb und wie es nach dem Misserfolg seines Buchs mit ihm weiterging. Aber so leicht macht der Autor es uns nicht. Der Erzähler in "Die geheimste Erinnerung des Menschen" ist, wie Elimane und wie der Autor Mohamed Mbougar Sarr selbst, ein in Paris lebender Senegalese: Diégane Faye studiert mit Stipendium und fühlt sich weder in Paris noch in seiner Heimat wirklich zuhause; der Tag seiner Heimkehr scheint ihm wie "eine Fata Morgana in der Wüste des Exils" (S. 64). Diese und weitere Parallelen, nicht zuletzt die Begeisterung für die Literatur, teilt er mit Elimane. Er beginnt mit Nachforschungen, um herauszufinden, was aus dem "schwarzen Rimbaud" geworden sein könnte. Bekannte, die Elimane kannten oder wiederum Bekannte von Elimane kannten, erzählen ihm und uns, was sie gehört, gelesen und gesehen haben. Das klingt verwirrend, und genau das ist es auch. "Die geheimste Erinnerung des Menschen" ist zunächst ein Buch mit komplizierter Zeit- und Erzählstruktur. Dinge, die eine oder zwei Generationen zurückliegen, werden erzählt wie Gegenwärtiges, Erzählungen aus zweiter und dritter Hand vermischen sich. Man kann kaum konzentriert genug lesen, um das alles zeitlich und räumlich in Ordnung zu halten. Und vielleicht erwartet der Autor bzw. der Ich-Erzähler auch gar nicht, dass man das tun soll.

    Im Lauf des Romans setzt sich Elimanes weiteres Schicksal wie ein Mosaik nach und nach zusammen. Der Bogen spannt sich von seinem Elternhaus im Senegal (bis 1960 eine französische Kolonie!) über Paris und Amsterdam, dem Erscheinen seines Buches und den vernichtenden (und ungerechten) Kritiken, dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht in Paris bis zum Exil in Argentinien und vielem anderem. Die Vielfalt der Themen und Stilebenen macht das Buch abwechslungsreich zu lesen, in jedem Kapitel kommen neue Puzzlesteine zum Leben des verschollenen Elimane hinzu. In den letzten Kapiteln schließlich geht es wieder nach Dakar und der der Autor zeichnet ein erstaunliches und erschütterndes Bild vom Senegal der Nachkolonialzeit. "Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch - und das ist ihr teuflischster Erfolg - den Wunsch zu werden, was sie zerstört." (S. 406)

    Es gibt bewegende und grässliche Szenen, Milieustudien und abrupte Erkenntnisse - der Autor arbeitet zwar anscheinend absichtsvoll mit einer Überforderung seiner Leser, hat aber selbst alle Fäden souverän in der Hand. Und manchmal, das sei noch erwähnt, passiert so Grelles und Merkwürdiges, dass man sich fragt, ob das alles ernst gemeint ist - die Möglichkeit eines schelmischen Augenzwinkerns zählt zur Grundhaltung des Autors, jederzeit.

    Und was hat es nun auf sich mit dem Buch, das "Das Labyrinth des Unsichtbaren" heißt? Besteht es wirklich nur aus Plagiaten? Und warum heißt das Buch, das wir gerade lesen, "Die geheimste Erinnerung des Menschen"? Wer es gelesen hat, kennt die Antwort. "Die geheimste Erinnerung des Menschen" ist nicht nur eine exemplarische Lebensgeschichte eines im Exil lebenden Afrikaners im 20. Jahrhundert und über die Bemühungen um den Erhalt der gewachsenen Kultur in einem von der Kolonialmacht besetzten Land. Es ist auch ein Buch über Erinnerung, kollektive Erinnerung, Mythologie und die Wurzeln des Geschichtenerzählens - ein Buch über ein Buch, über uns Leser und über alle Bücher.

    Wohlwollende 5 Punkte. Ich habe das eine oder andere kleine Problem mit dem Buch gehabt - vor allem scheint es mir, dass Sarr hin und wieder genussvoll Klischees bedient, und bin nicht sicher, ob das von allen Lesern richtig verstanden wird. Ich bin nicht mal sicher, ob ich es selbst immer richtig verstanden habe. Aber das Buch ist toll zu lesen, setzt sich wichtige Themen und verdient eine große Lesergemeinde, deshalb runde ich ein wenig auf.

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  1. Im Netz eines famosen Erzählers

    Zugegeben: Der Einstieg in den Roman wird einem nicht ganz leicht gemacht. Man muss sich darauf einlassen, denn eine stringente Handlung sucht man vergebens. Worum geht es? Auch diese Frage lässt sich zunächst nur umreißen. Mit dem folgenden Zitat möchte ich mich ein wenig um eine umfassende Inhaltsbeschreibung drücken: „Versuche nie zu sagen, wovon ein großes Buch handelt. (…) In Wahrheit, Diégane, handelt nur ein mittelmäßiges, schlechtes oder banales Buch von etwas. Ein bedeutendes Buch hat kein Thema und spricht von nichts, es versucht einfach nur, etwas auszudrücken oder zu entdecken, aber dieses „einfach nur“ ist schon alles, und dieses „etwas“ ebenso.“(S. 46)

    Diégane Latyr Faye ist ein junger, aus dem Senegal stammender und in Paris lebender Doktorand, der von seinem Durchbruch als Schriftsteller träumt. Sein großes Vorbild ist T.C. Elimane, ein Autor ebenfalls senegalesischer Herkunft, der nur ein Buch schrieb, nämlich „Das Labyrinth der Unmenschlichkeit“, das 1935 in Paris erschien und um das sich Geheimnisse winden. Durch Zufall gelangt dieses Buch in Diéganes Hände, es schlägt ihn sofort in seinen Bann, verzaubert ihn und zwingt ihn, dem verschollenen Urheber nachzuspüren. „T.C. Elimane war kein Klassiker, sondern Kult.“(S. 15)

    Im Zuge seiner Nachforschungen erfährt Diégane immer mehr über Werk und Autor. Er muss feststellen, dass die Literaturkritik seinerzeit nicht fair mit Elimane umging, dass man ihn rassistisch auf seine Hautfarbe reduzierte, ihm unhaltbare Vorwürfe machte und sein Werk dermaßen verfemte, dass der Autor offenbar untertauchte. Als Folge ging sein verlegender Kleinverlag ebenfalls in Konkurs. Doch das ist längst nicht alles. Sarr spannt einen weiten erzählerischen Bogen über verschiedene Kontinente, stellt facettenreiche Figuren vor, zeigt die Folgen des Kolonialismus, webt wichtige historische Ereignisse ein und stellt Bezüge zu ihnen her. Alles wird höchst authentisch erlebbar gemacht.

    Als Informationsquellen dienen Diégane Berichte anderer Suchender, allen voran die der bekannten Schriftstellerin Siga D., deren Faszination für T.C. Elimane gleichsam ungebrochen ist. Darüber hinaus gilt es, Tagebucheinträge, Zeitungsausschnitte, Briefe, Mails und Interviews auszuwerten. Als Leser ist man recht schnell in diesem kunstvollen Labyrinth aus Fakten, Mythen und Vermutungen gefangen, die durch alterierende Sprachstile glänzen. Die Perspektivenvielfalt ist faszinierend. Der Ton variiert je nach Erzähler, ist originell und abwechslungsreich. Die Anlehnungen an die afrikanische Erzähltradition, die sich auch in Dingen wie unsterblichen Geistern, Mythen, kryptischen Weissagungen oder magischen Elementen ausdrücken, sind überall spürbar – stets im Spannungsfeld zu europäischen Gepflogenheiten. Die Probleme des Postkolonialismus sowie afrikanischer Erzähler im Exil werden ohne Pathos und Larmoyanz verdeutlicht. Dabei werden Literatur, Literaten, Kritiker und Schriftsteller mitunter auf die Schippe genommen, vieles darf man mit einem Augenzwinkern lesen. Allerdings gibt es andererseits auch bitterernste Szenen, die den über Jahrzehnte schwelenden Rassismus verdeutlichen, so dass sich die Stimmungen beim Lesen ebenfalls verändern.

    Mohamed M. Sarr versteht es, den Leser zu fesseln, indem er zahlreiche Fährten und Fäden auslegt, sie eine Weile außer Acht lässt, um sie dann wieder aufzunehmen. Daraus ergibt sich eine verschachtelte, kunstvolle Konstruktion, die am Ende ein stimmiges Gesamtkonzept ergibt. Der Roman strotzt vor Erzählfreude. Zahlreiche einprägsame, poetisch-philosophische Sätze, wunderschöne Metaphern, originelle Wortspiele und -schöpfungen gilt es zu bestaunen, gleichsam literarische Bezüge zu bekannten Werken der Weltliteratur. Als Leser sollte man Freude an literarischen Rätseln haben, um die ausgelegten Puzzlesteine in die richtige Reihenfolge zu bringen. Der Roman verlangt Konzentration und ist dermaßen vielschichtig, dass auch eine zweite Lektüre neue Erkenntnisse bringen dürfte. Er verbindet Leichtes mit Schwerem, Historisches mit großer Aktualität – einfach grandios!

    Ich bin vollkommen begeistert. Sehr zu Recht wurde Sarrs Roman mit dem Prix Goncourt 2021 ausgezeichnet. Er sticht wohltuend aus der Masse heraus. Ein riesiges Kompliment ist auch dem Übersetzerteam Holger Fock und Sabine Müller zu machen, das diesen anspruchsvollen Text meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. Für mich ein absolutes Highlight, dem ich viele begeisterte Leser wünsche!

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  1. Mysteriöse Spurensuche

    Was hat es mit dem Buch „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ auf sich? Wo ist es abgeblieben? Und wohin ist sein Autor T. C. Elimane verschwunden? Das will Diégane Latyr Faye herausfinden.

    „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist ein Roman von Mohamed Mbougar Sarr, der mit dem Prix Goncourt im Jahr 2021 ausgezeichnet worden ist.

    Meine Meinung:
    Der Roman besteht aus drei Büchern, die jeweils in weitere Teile untergliedert sind. Er endet mit einem Epilog. Der Aufbau ist allerdings raffinierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Das drückt sich unter anderem durch wechselnde Orte und Zeiten aus.

    In stilistischer Hinsicht ist der Roman erfrischend abwechslungsreich. Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Textformen. Beispielsweise gibt es Tagebucheinträge, Briefe, journalistische Artikel und Dialoge. Auch sprachlich ist der Roman variantenreich. An manchen Stellen sind gehäuft Fremdwörter zu finden, die jedoch zur Geschichte passen.

    Inhaltlich ist der Roman sehr gehaltvoll und vielschichtig. Es geht vor allem um Literatur und deren Rezeption, aber auch um Kolonialismus, Rassismus, kulturelle Differenzen und einiges mehr. Inspiriert wurde der Autor von dem Fall um das Buch „Das Gebot der Gewalt“ von Yambo Ouologuem. Dabei belässt es Sarr nicht dabei, die wahre Begebenheit bloß nachzuerzählen, sondern schafft es, die Geschichte auf eine höhere Ebene zu hieven. Das hat meinen Horizont erweitert.

    Auf den mehr als 400 Seiten bleiben zwar ein paar Fragen offen. Das hat mich letztlich aber ebenso wenig gestört wie die mystischen Elemente, mit denen ich im Allgemeinen wenig anfangen kann. Immer wieder weiß der Roman zu überraschen.

    Der Titel der französischen Originalausgabe („La plus secrète mémoire des hommes“) wurde glücklicherweise wortgetreu übersetzt. Das Cover wirkt auf mich geheimnisvoll und ein wenig düster, was ich als passend empfinde.

    Mein Fazit:
    „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von Mohamed Mbougar Sarr ist ein forderndes, aber auch kunstfertiges Buch. Ein Roman, der mich von Seite zu Seite mehr fesseln konnte und noch eine Weile nachwirken wird. Ein verdienter Preisträger!

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  1. Gefangen in der Erzählkunst eines außergewöhnlichen Autors

    Mohamed Mbougar Sarr hat mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinem Bann gezogen hat. Dabei ist es gar nicht so einfach wiederzugeben, wovon dieser Roman mit seiner Themenvielfalt, den unterschiedlichsten Erzählstimmen und -strängen handelt. Er gleicht einem mehrstöckigem, komplizierten Labyrinth mit zahlreichen Sackgassen, Abzweigungen und Schleifen, die es zu durchlesen gilt. Nichts überlässt Sarr dem Zufall, alles ist durchkomponiert. Er erzählt eine Geschichte, die viele Jahrhunderte umspannt, trotzdem zeitlos erscheint und brandaktuell ist. Dabei wirkt sie zugleich real und wie doch nicht von dieser Welt.

    Im Kern steht ein fiktives, verschollenes Buch eines von der Bildfläche verschwundenen, im Senegal geborenen Autors namens T.C. Elimane. Sein Debüt mit dem Titel „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ sorgte 1938 in Frankreich für Furore und wurde zunächst als Wunderwerk eines Ausnahmeschriftstellers gefeiert. Rassistische Anfeindungen ließen nicht lange auf sich warten. T.C. Elimane wurde vorgeworfen nicht „afrikanisch“ genug geschrieben zu haben. Es wurde angezweifelt, dass ein Autor afrikanischer Abstammung überhaupt in der Lage sei, einen Roman von solcher Qualität zu verfassen und schließlich wurde er noch des Plagiats bezichtigt. Die Vorwürfe bedeuteten nicht nur das Ende seiner Karriere als Autor, sondern auch die Insolvenz des kleinen Verlags, der sein Buch publiziert hatte.

    Zufällig fällt im Jahr 2018 dem ebenfalls aus dem Senegal stammenden, jungen ambitionierten, erfolglosen Schriftsteller Diégane Latyr Faye in Paris ein Exemplar des verschollen geglaubten Kultbuches in die Hände. Die Lektüre bannt ihn, wühlt ihn auf, begeistert ihn. Er spürt, dass er herausfinden muss, wer dieses Ausnahmetalent T.C. Elimane war und warum er sich nie in der Öffentlichkeit zu seinem Buch und den Vorwürfen geäußert hat. Diégane begibt sich auf eine Spurensuche, erhält dabei Unterstützung einer bekannten senegalesischen Schriftstellerin, durchforstet die Archive, stellt das Buch seinen Freund:innen vor, die allesamt fasziniert, tief in ihrem Inneren erschüttert und begeistert sind.

    Sarr geht es immer wieder um das Schreiben. Was macht große Literatur aus? Haben Schriftsteller*innen im Exil eine besondere Verantwortung? Was bedeutet es in der Sprache der Kolonialmächte zu schreiben, Karriere in einer Kultur zu machen, die die „eigene unterdrückte und mit Füßen trat?“ (S. 176). Welche Rolle spielt die Identität von Autor*innen bei der Beurteilung des Werks?

    Sarr liefert keine allgemeingültigen Antworten, er zeigt, dass der Umgang mit diesen Fragen immer auf individueller Ebene erfolgen muss.

    Der Autor bedient sich unterschiedlicher Textsorten (Tagebücher, Zeitungsartikel, Briefe, Gespräche), um uns immer tiefer in das Labyrinth seiner Gedanken und dieser Geschichte hineinzuziehen. Dabei erhaschen wir ebenso einen Blick auf die Situation Frankreichs im Dritten Reich sowie auf das gegenwärtige Leben der jungen, in Paris lebenden, afrikanischen, literarisch interessierten Community und die Lebensumstände im Senegal seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart. Immer wieder verwebt Sarr auch mythologische Geschichten in seinen Text oder lässt traditionelle senegalesische Glaubensvorstellungen einfließen. Je nach Erzählstimme wirken die Textpassagen mal gestelzt, mit Fremdwörtern überfrachtet, dann bildhaft, blumig, nebulös, märchenhaft oder auch nüchtern. Holger Fock und Sabine Müller haben diesen polyphonen Text stimmig aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, was sicherlich eine Herausforderung war.

    Der Text ist voller Anspielungen auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten, die ich vermutlich nur zu einem Bruchteil erfasst habe. Bei aller Ernsthaftigkeit, blitzt immer wieder subtiler Humor durch, wenn Sarr den Blick auf den Literaturbetrieb lenkt. „Die geheimste Erinnerung des Menschen“ strotzt vor Erzählfreude, erfordert Aufmerksamkeit und Gehirnakrobatik. Trotz seiner Vielstimmigkeit und Komplexität war es für mich zu keinem Zeitpunkt ein anstrengendes, sondern ein atmosphärisches, dichtes Lesevergnügen. Zurecht wurde dieser außergewöhnliche Roman 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

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    12. Jan 2023 

    Auf der Suche nach afrikanischer Kultur

    In seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ schickt uns Mohamed Mbougar Sarr auf die Suche nach der afrikanischen Kultur. Er berichtet aus einem afrikanischen Land, in dem die Menschen in einer zerrissenen Kultur leben. Da ist die übergestülpte dominierende Kultur der Kolonialisten und irgendwo dazwischen keimt das Pflänzchen der authentischen afrikanischen Kultur und kämpft um das Erblühen.
    Und dann ist da dieses faszinierende Buch, in dem das Pflänzchen seine ganze Schönheit zeigt: „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ von Elimane. Doch einerseits gibt es Buch und Autor, und andererseits gibt es beide auch wieder nicht. Denn kurz nach dem Erscheinen des Buches verschwinden nicht nur alle gedruckten Exemplare aus der Welt, sondern auch sein Autor wird unauffindbar und der Verlag, der es wagte, diesem Buch das Erscheinen zu ermöglichen, schließt und beendet alle seine Aktivitäten. Und doch bleibt die Wirkung des Romans nicht aus. Sarrs Roman erzählt von der verzweifelten Suche nach Autor und Buch durch Diègane, der als Afrikaner in Frankreich lebt und nach einer Karriere als Autor strebt. Die Suche nach Buch und Autor eröffnet ihm einige Bekanntschaften mit Personen, die irgendwie ebenfalls in Kontakt mit der Faszination des Buches gekommen sind, und treibt ihn in der Welt herum. Überall trifft er auf bleibende Faszination, aber auch auf Unwissen über den Verbleib des Autors und seines Buches, dem in der westlichen Welt der Vorwurf des Plagiats gemacht und nie eine wirkliche Chance gegeben wurde.
    Und so sehen wir die Wirkgeschichte eines kulturellen, literarischen Denkmals, das in das Vergessen geschickt werden sollte und doch irgendwie überlebt.
    Sarr erzählt diese Geschichte, die für mich eine Allegorie auf das Ringen nach einer eigenen, überlebenden Kultur Schwarzafrikas ist, in mehreren Büchern, aus verschiedenen Perspektiven und in stark veränderlichem Sprachduktus. So kann man das Buch phasenweise als Kriminalgeschichte lesen, in der nicht wie üblich ein Mörder, sondern ein Autor gesucht wird. Phasenweise aber ist es auch ein Schriftstellerroman, in dem das Buch im Mittelpunkt steht, obwohl wir als Leser tatsächlich nur ganz wenig über dessen Inhalt erfahren. Der Roman ist in dieser Struktur ein herausforderndes Stück Literatur, das einen unkonventionellen Blick auf das Spannungsfeld „Was macht Kolonialismus mit den kolonisierten Völkern?“ wirft. Für diese interessante Perspektive und die dadurch gefundenen Einblicke gebe ich 4 Sterne.

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  1. Das Elimane-Puzzle

    1968 gewann Yambo Ouologuem (1940 – 2017) aus Mali den Prix Renaudot für seinen Debütroman "Le Devoir de violence" und verschwand nach Plagiatsvorwürfen von der Bildfläche. Dieses Ereignis lieferte dem 1990 im Senegal geborenen Mohamed Mbougar Sarr die Anregung für seinen 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten vierten Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen".

    Ein Kultbuch aus dem Nichts
    Elimane Madag Diouf, ein 1935 geborener Senegalese, kommt 1935 zum Studium nach Frankreich. 1938 veröffentlicht er unter dem Namen T.C. Elimane "Das Labyrinth des Unmenschlichen", ein Kultbuch, das jedoch sowohl in den positiven als auch den negativen Pressestimmen auf die Herkunft und Hautfarbe des Autors reduziert wird. Als ein rassistischer Afrika-Ethnologe zudem Lügen verbreitet und ein Kritiker Plagiatsvorwürfe erhebt, verschwindet das Buch vom Markt, der Verlag geht Pleite, Elimane verstummt und wird zur Legende.

    Suche nach einem Fantom
    2018 spielt der Zufall in Paris ein verbliebenes Exemplar in die Hände eines weiteren literarisch ambitionierten Senegalesen: Diégane Latyr Faye. Von nun an ist er von der Idee besessen, Elimanes weiteren Lebensweg zu rekonstruieren und das Rätsel um sein Schweigen zu lösen. Beharrlich sammelt er Puzzlesteine, zunächst im Pressearchiv, dann hauptsächlich mit Hilfe von Frauen aus Elimanes Umfeld: seiner Verwandten und ebenfalls senegalesischen Schriftstellerin Marème Siga D., seiner ehemaligen Verlegerin Thérèse Jacob, der Journalistin Brigitte Bollème und einer namenlosen haitianischen Dichterin.

    Keine Nebenbei-Lektüre
    Mohamed Mbougar Sarr macht es seinem Publikum nicht leicht und verlangt durch die sprunghaften Erzählerwechsel, verschiedene Zeitebenen und Wechsel zwischen Kontinenten ein Höchstmaß an Konzentration. Im ersten Viertel des Romans hätte ich fast aufgegeben, so unübersichtlich schien mir die Polyphonie, so extravagant die Fremdwörter, deren Sinn sich mir manchmal nicht einmal beim Nachschlagen erschloss. Doch Durchhaltevermögen wird hier belohnt und das scheinbare Durcheinander zunehmend beherrschbarer. Die Identifikation der Stimmen und die Vielzahl der Nebenhandlungen und Einzelgeschichten machten mir zunehmend Spaß und die Tatsache, dass man kaum etwas über "Das Labyrinth des Unmenschlichen" erfährt, stattdessen nur über die ungeheure Wirkung auf die Leserinnen und Leser staunt, hat mich immer weniger gestört. Akzeptieren musste ich jedoch, dass mir garantiert viele Anspielungen und ironische Details verborgen blieben.

    Gedanken, die über die Lektüre hinaus wirken
    Außergewöhnlich an diesem Roman sind einerseits die deutlich unterscheidbaren Stimmen und das Feuerwerk aus unterschiedlichsten Textsorten wie Berichten, Tagebüchern, Pressemeldungen, Gesprächen, Briefen und mit „Biographem“ überschriebenen Abschnitten, andererseits der teils satirische Blick auf die Literaturwelt, die Darstellung des durch die Kolonisation zerrissenen Senegals und die Gedanken über die ganz besonderen Herausforderungen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem frankophonen Afrika. Das Dilemma beschreibt ein kongolesischer Kollege Diéganes so:

    "Er [Elimane] bewies, dass sein kulturelles Wissen alles umfasste, um als Weißer zu gelten; doch man hat ihn nur umso nachdrücklicher daran erinnert, dass er ein Schwarzer war. […] Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischster Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört. Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung." (S. 406)

    Ein würdiger Preisträger, der das Handwerk des Erzählens ohne Frage beherrscht.

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  1. Der magische Tod der Kritiker

    Autor
    Mohamed Mbougar Sarr wurde 1990 in Dakar als ältester von sieben Söhnen geboren. Er besuchte das Prytanée militaire in Saint-Louis. Er studierte in Frankreich Literatur und Philosophie. Sarr hat bereits drei Romane veröffentlicht, für die er u. a. mit dem Prix Stéphane-Hessel und Grand prix du roman métis ausgezeichnet wurde. Für das Werk "Die geheimste Erinnerung der Menschen", seinem ersten Werk, das auf Deutsch erscheint, erhielt er 2021 den Prix Goncourt.

    Inhalt
    Der Roman handelt von einem fiktiven Buch eines ebenso fiktiven senegalesischen Autors namens T. C. Elimane, das 1938 erschienen ist und für einen literarischen Skandal sorgte. Dann verschwand es – wie auch sein Schöpfer – wieder von der Bildfläche. Der angehende Schriftsteller Diégane Latyr Faye begibt sich auf Spurensuche. Wer war der Verfasser T.C. Elimane, der als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert wurde? Warum wurde er rassistisch angefeindet und beschuldigt, ein Plagiat angefertigt zu haben? Sein Werk wurde vernichtet. Die Fragen kann nur der Autor selbst beantworten. Wo ist er?

    Sprache und Stil
    Der junge Schriftsteller Diégane Latyr Faye kommt aus dem Senegal nach Paris. Eigentlich muss er seine Doktorarbeit schreiben, doch er liebt das Pariser Nachtleben, trifft sich mit einem kleinen Intellektuellenzirkel aus der afrikanischen Diaspora und lebt die Literatur.

    „Es ging also darum, mein Opus Magnum zu schreiben, es war Juli, und ich versuchte mich schon seit einem Monat daran, als ich, unfähig, den ersten Satz zu finden, eines Nachts ins Getümmel der Pariser Straße flüchtete.“ (S. 24)

    In einer Bar trifft er auf Siga D., eine bekannte senegalesische Schriftstellerin. Von ihr erfährt er mehr über das Kultbuch, das seit dem zweiten Weltkrieg als verschollen gilt: „Das Labyrinth des Menschlichen“ des senegalesischen Autors T.C. Elimane.

    „T.C. Elimane war kein Klassiker, sondern Kult.“ (S.15)

    Der Roman erscheint 1938 wird zunächst hochgelobt und bejubelt. Elimane erhält die Bezeichnung „schwarzer Rimbaud“.

    „T.C. Elimane wurde in der Kolonie Senegal geboren. Das Labyrinth des Unmenschlichen ist sein erstes Buch, das erste authentische Meisterwerk eines Schwarzafrikaners, der sich dem Wahnsinn und der Schönheit des Kontinents stellt und offen darüber spricht.“ (S. 38)

    Kurz nach seinem Erscheinen wird es wieder vom Markt und aus den Bibliotheken genommen. Die anfängliche Begeisterung schlägt in Misstrauen um. Konnte so ein herausragender Text wirklich aus der Feder eines Afrikaners stammen?

    So schnell wie T.C. Elimane erfolgreich war, geriet er in die Kritik. Ein auf Schwarzafrika spezialisierter Ethnologe kritisiert sein Werk und beschuldigt ihn, ein Plagiat geschrieben zu haben: den Ursprungsmythos einer senegalesischen Ethnie plagiiert zu haben.

    „Ich war lange genug bei den Bassari, um mit Sicherheit sagen zu können: Das Buch von T.C. Elimane ist die beschämende Bearbeitung einer Geschichte, die zur Kosmogonie der Bassari gehört. Die Handlung des Buches „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ beruht im Großen und Ganzen auf dem Gründungsmythus dieses Volks und streut romaneske Episoden ein. […]. Warum schreibt er, als ob diese Geschichte allein seiner Fantasie oder seinem Talent entsprungen wäre?“ (S. 98 ff.)

    Schnell münden die Kritiken in einen rassistischen Ursprung, weil er Afrikaner ist, hat er alles geklaut aus der europäischen oder nordamerikanischen Literaturtradition.
    Es folgen weitere vernichtende Kritiken, die ihn beschuldigen, gar nicht Afrikanisch zu schreiben, und daher kann der Autor keiner aus Afrika sein. Er wird nicht der Schriftsteller, sondern das "Medienereignis eines Ausnahme-Schwarzen erkannt, eine Jahrmarktsattraktion, ein Schriftsteller wie ein Ausstellungsstück in einem Menschenzoo“.

    Das Buch schlägt hohe Wellen und mündet schließlich in einen literarischen Skandal. Der Vorwurf: Ein Plagiat produziert zu haben, eine Aneinanderreihung von Zitaten großer französischer Literaten.

    T.C. Elimane verschwand daraufhin wie vom Erdboden verschluckt und schrieb nie wieder etwas.

    Diégane hält das Buch jedoch für ein Meisterwerk. Er ist wie gefesselt von dem Text und will mehr über den Verfasser herausfinden. Kann ein Mensch aus der Erinnerung gelöscht werden? Diégane begibt sich auf die Suche nach den Gründen des Schweigens. Seine Suche wird zu seiner Obsession, in der er immer weiter in die Tiefe eines Labyrinths hineingerät.

    Der Weg auf die Spur des geheimnisvollen T. C. Elimane führt ihn über Jahrhunderte und Kontinente hinweg vom Senegal über Amsterdam und Paris bis in die literarischen Salons von Buenos Aires.

    Brillant erstellt Sarr eine Collage der Suche nach dem verschollenen Autor im Labyrinth der Literatur. Er jongliert mit Fragmenten zwischen Tagebucheinträgen, Zeitungsartikeln, Interviews, Monologen, Dialogen, mündliche Erzählungen von Familie und Freunden und poetischen und szenischen Elementen.

    Die unterschiedlichen Fragmente der Collage setzen sich zu einem Bild zusammen, die Überraschungsmomente erzeugen, sich T.C. Elimane annähern und wieder entfernen, doch am Ende weist das Bild Lücken auf. Hinweise, die verwirren und wieder einen anderen Weg zeigen, transportieren Leerstellen. Manchmal muss man eine versteckte Andeutung finden, um zu wissen, wer gerade spricht, wenn sich die Erzählperspektive ändert. Oftmals bleibt offen, ob es die Wahrheit ist. Sarr webt in seiner Geschichte Mythen und Legenden ein, so wie in der Tradition des Senegals es noch heute vorzufinden ist.

    Schwarze Tradition, Kultur und weiße Herrschaft stellt der Autor Mohamed Mbougar Sarr mit seinen Figuren der Zwillinge Assane Koumakh und Ousseynou Koumakh gegenüber. Assane geht in die Schule der Weißen, doch Ousseynou bleibt in seinem Dorf und ist bereit, seine Kultur nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

    „Du, Assane Koumakh, wirst aufbrechen in die Welt draußen, um dort neues Wissen zu erwerben, und du, Ousseynou Koumakh, wirst hierbleiben und das Wissen unserer Welt beschützen.“ (S. 143)

    Der Autor spannt seinen Bogen über Themen wie Glaube an Geister und schwarze Magie, die im Westen nur schwer zu verstehen sind, doch in Regionen Afrikas Realität sind. Der Literaturbetrieb Frankreich/Senegal, die rassistische Einstellung, Kolonialismus, die postkolonialen Konflikte in Westafrika mit ihren Greueltaten, die Dekolonisierung und auch die Besetzung Frankreich unter den Nazis werden in dem Roman einbezogen. Die Suche führt Diégane schließlich zurück in den Senegal. Dort gerät er in politische Unruhen, die die Instabilität des Kontinents thematisieren.

    Sarr schreibt leicht, humorvoll, oftmals satirisch und mit einer gehörigen Portion Selbstironie in einer kraftvollen poetischen Sprache.

    Seine Figuren flüstern, poltern, raunen und plötzlich öffnet sich mit einem Donnerschlag wortgewaltig eine brutale Geschichte, die langsam wieder verebbt.

    „Meine Mutter blieb stumm, nach eine Weile sagte der Tod: »Du hast dich entschieden, dich von uns töten zu lassen. […] Wir werden dich töten.« […]
    Ich hörte noch immer alles, dabei hatte ich mir die Finger mit aller Kraft in die Ohren gesteckt. Ich hörte also das feiste Lachen der Kinder des Todes. […] Aber meine Mutter hörte ich nicht“ (S. 401)

    Sarr macht sich über den Literaturbetrieb mit seinen Regeln und Erwartungshaltungen über Stereotype im Zusammenhang mit afrikanischen Autoren lustig. Anders sind die Todesfälle der Kritiker von Elimane nicht zu erklären. Bereits mit dem Vater von Siga D., Ousseynou, beschreibt er den Glauben an Geister und schwarze Magie. Nun sind es die Kritiker, die von der Magie eingeholt werden. Mit Humor zeigt er das Spannungsfeld zwischen Kritiker und Color People auf.

    „Es wäre grauenhaft, wenn Elimane diese armen französischen Kritiker mit Hilfe seiner magischen Kräfte in den Selbstmord getrieben hätte. Allerdings würde ich in diesem Grauen, sollte es so gewesen sein, etwas sehr Komisches sehen. […] Eine finstere Komödie.“ (S. 295)

    Fazit
    Mohamed Mbougar Sarr widmet seinen Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ Yambo Ouologuem ein Schriftsteller aus Mali, dessen Erstlingswerk »Das Gebot der Gewalt« 1968 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde.
    Schnell wurde sein Erfolg durch die Kritiker demontiert und ihm wurde vorgeworfen, ein Plagiat erstellt zu haben. Genau diesen Sachverhalt hat Sarr als Vorlage für seine Kunstfigur T.C. Elimane genommen.

    Ein Literaturkritiker, ein Professor für afrikanische Ethnologie, befindet, dass der Autor lediglich ein „Gründungsmythos eines Volkes“ (S. 99) nacherzählt habe.

    „Darin wird erzählt, wie ein König einst das Königreich der Basare gründetet. Dieser König, der grausam und blutrünstig war, verbrannte seine Feinde und manchmal die eigenen Untertanen.“ (S. 99)

    Diese ausführliche und andere negativen Kritiken lassen die Stimmung komplett drehen. Sarr zeigt insbesondere an dieser Stelle bitterböse Satire, die den Roman begleitet. „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ lädt zu politischen Diskussionen ein, jedoch ohne moralisch oder belehrend zu sein.
    Mohamed Mbougar Sarr hat sich für seinen fulminanten Ronan ebenso von Roberto Bolaño inspirieren lassen. Ein langes Zitat aus „Die wilden Detektive“ leitet seine fiktive Geschichte ein. Wie ein Detektiv verfolgt sein Spiegelbild Diégane Latyr Faye die Spuren Elimanes.

    „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist ein hervorragendes Buch für Leser:innen, die bereit sind, einen ungewöhnlichen Weg durch ein Labyrinth zu laufen und sich dort nur mühsam herausfinden, dann wird es ein Leseerlebnis pur, berauschend, reichhaltig und tiefgründig.

    „Und was ist die Kehrseite des Paradieses? Eine Hypothese: Die Kehrseite des Paradieses ist nicht die Hölle, sondern die Literatur.“ (S. 88)

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  1. Nichts

    "Versuche nie zu sagen, wovon ein großes Buch handelt. Wenn du es dennoch tust, ist die einzig mögliche Antwort: 'von nichts'." (S. 46) Das ist der Rat, den Diéganes Mitbewohner ihm gibt, als ersterer versucht Stanislas den Inhalt eines verschollenen Buches wiederzugeben.

    Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr handelt von der Suche nach diesem Buch "Das Labyrinth der Unmenschlichkeit" und seinem senegalesischen Autor T.C. Elimane, der nach der Veröffentlichung seines ersten und einzigen Werks 1938 spurlos verschwand.

    Ich bin versucht, diesem Rat zu folgen, verstärkt von der Aussicht, dem tödlichen Zauber, der dem abgängigen Schriftsteller nachgesagt wird, sämtliche seiner Kritiker in den Tod getrieben zu haben, zu entgehen.
    Also, vorsichtshalber sage ich mal an dieser Stelle, das Buch handelt von Nichts!

    Und alle anderen, die mutig genug sind weiterzulesen, muss ich enttäuschen (muah, muahaha), den Sarr schafft vor dem Vergnügen der Detektivarbeit, die Mühe zur Überwindung der hochliterarisch, verwirrenden ersten Seiten, die jedem Vergnügungsleser das Beiseitelegen dieses, in warmen Farben und afrikanischen Mustern versehenen, Buches als das weitaus lohnendere Ziel erscheinen lassen. (Tja, nun, wer hier schon scheitert...)

    Und schon verbirgt sich der nächste Stolperstein im vorangegangenen Absatz, "afrikanische Muster"! Das darf auf keinen Fall ein Kriterium der Kritik sein. Niemand soll das Exotische, das Unerwartete, das sowieso nur auf unserem postkolonialistischen Gedankenmist der hellhäutigen Überheblichkeit gewachsen ist, bemerken, sonst...

    Aber Diégane ist selbst Senegalese, hörte schon auf dem Gymnasium von diesem Autor, geht mit einem Stipendium nach Paris und forscht bei jeder Gelegenheit weiter nach diesem Buch. 2018 fällt es ihm dann bei einem Liebesabenteuer unerwartet in die Hände. Seine Gespielin und großzügige Spenderin verbindet ein besonderes Band mit der sagenumwogenen Gestalt Elimanes.

    Zugegeben, die Geschichte ist komplex, voller exotischem Flair, aber auch schlimmen Erinnerungen aus Bürgerkriegen in Afria, der unsäglichen Zeit des dritten Reichs und auch ein bißchen der Behauptung von afrikanischen Schriftstellern im weiß-europäischem Literaturbetrieb. Die Parallelen im geschichtlichen Ablauf und Iterationen vom fiktionalen zum realen Autor sind vielfältig und immer für eine Überraschung gut. Fast kann man an manchen Stellen das schelmische Augenzwinkern sehen, das, und da bin ich mir sicher, Sarr mit diebischer Freude seinen Lesern zuwirft.

    Doch will der Text mit Konzentration gelesen werden, vielleicht sogar ein zweites Mal, damit auch alle Feinheiten dieses anspruchsvollen Romans ihre volle Blütenpracht entfalten können. Zeit und Ort werden mitten im Absatz gewechselt, ganze Themengebiete miteinander verwoben. Hut ab vor der sicherlich nicht immer einfachen Übersetzung aus dem Französichen. Holger Fock und Sabine Müller haben sich dieser Aufgabe gestellt und mit Bravour gemeistert.

    Also, um das Nichts mal in die richtigen Worte zu fassen, dieses Buch ist kein Krimi (wie im Klappentext angedeutet), es ist alles und nichts! Es ist ein Vergnügen für Tüftler, es ist eine Herausforderung für den Geist und eine Offenbarung für Jeden, der schon immer mal wissen wollte, wie man mit zig unzuverlässigen Erzählern, verschwommenen Andeutungen und wechselnden Perspektiven doch nur die eine richtige Wahrheit erzählen kann.

    So, und nun dürfen sich alle Kritiker in die Schusslinie stellen!

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  1. 5
    24. Dez 2022 

    Das Labyrinth des Mohamed Mbougar Sarr

    Würde man sich eine Konzeptzeichnung zum Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von oben anschauen, sähe sie wahrscheinlich aus wie ein Labyrinth. Ein Labyrinth der Literatur, der Leser:innen, der Kritiker:innen und der Autor:innen. Mit unendlich vielen Verschachtelungen, denen man auf den ersten, schnellen Blick nicht folgen könnte. Nur eine behutsame Herangehensweise und aufmerksames Betrachten würde das Unübersichtliche sichtbar und durchschaubar machen. Für die Lektüre dieses Romans begibt man sich zu Beginn in dieses Labyrinth, ohne dass man weiß, dass es eines ist. Am Ende kommt man auch wieder nach draußen. Man tritt aus dem Labyrinth und hätte niemals erwartet, dass man an dieser Stelle rauskommt und man kaum glauben, was man in der Zwischenzeit alles gesehen hat.

    Man begibt sich zunächst mit Diégane, einem jungen mittelmäßig erfolgreichen Autor aus dem Senegal, der in Paris lebt, auf die Suche nach dessen Idol, T. C. Elimane. Einen sagenumwobenen, aber auch mittlerweile vergessenen Autor aus dem Senegal, der in 1938 in Paris das einzige Buch seiner Karriere veröffentlichte, dann von der Bildfläche verschwand und sein Buch gleich mit. Allerdings bleiben wir nicht bei Diégane, denn in diesem Roman von Mohames Mbougar Sarr kommen viele Menschen zu Wort und tragen einen kleinen Teil zum Labyrinth dieser Geschichte bei.

    Dabei ist dies keinesfalls ein einfacher, plotgetriebener Roman. Die Bezeichnung des Verlags, es handle sich unter anderem um eine „soghafte Kriminalgeschichte“, ist meines Erachtens irreführend. Soghaft: auf jeden Fall. Kriminalgeschichte: nein. Es ist vielmehr eine Geschichte über die Rezeption von Literatur und im Speziellen die Rezeption von Literatur aus Afrika. Die Wahrnehmung von Schriftsteller:innen aus afrikanischen Ländern, die im sogenannten „Mutterland“, dem Land, welches sie ehemals kolonialisierte, Gehör und Anerkennung finden wollen. Dabei geht Sarr durchaus stark (selbst-)ironisch mit sich und dem Literaturbetrieb um. Er legt mitunter satirisch aber auch knallhart und ehrlich den Finger in vergangene und immer noch vorhandene Wunden durch den Kolonialismus. „Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischer Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört.“ (S.406)

    Stilistisch schafft dies Sarr auf grandiose Weise. Denn Prämissen, die inhaltlich benannt werden, werden stilistisch in die sehr unterschiedlich geschriebenen Textpassagen überführt. Nach dem recht bildungssprachlich überladen, hochtrabenden Einstieg ins Buch (wovon man sich nicht abschrecken lassen sollte), wird uns dieses Stilmittel an anderer Stelle versteckt angekündigt bzw. erklärt. So wird in einer im Buch eingebauten Kritik geschrieben: „Schade, dass ein offenkundig begabter Autor es vorgezogen hat, sich in sinnlosen Stilübungen zu ergehen und hinter Bildungsbeflissenheit abzuschotten, anstatt uns etwas wiederzugeben, was uns viel mehr interessiert hätte: den Pulsschlag eines Kontinents“ (S.93). Sarr spielt hier gekonnt mit den Erwartungen seiner (europäischen) Leser:innen und hebelt damit das aus, was noch heute häufig in der Wahrnehmung und Bewertung von Literatur vom afrikanischen Kontinent falsch läuft. Diese vielen Hinweise und mitunter gut versteckte Auseinandersetzungen mit diesem Thema waren für mich das zentrale Themengebiet des Romans und haben mich vollends vom meisterhaften Können des Autors überzeugt.

    Eine andere Stelle verdeutlicht die Vielstimmigkeit und Komplexität des vorliegenden Romans. So wird gesagt auf S. 130: „In einer Erzählung befinden wir uns immer – aber vielleicht, allgemeiner, auch zu jedem Zeitpunkt unserer Existenz – zwischen den Stimmen und den Orten, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ Man kann bei der Lektüre durchaus mal kurzzeitig den Überblick verlieren, wer hier eigentlich wann wem was erzählt. Aber man findet sich wieder hinein in den Text und wird belohnt mit augenöffnenden Erkenntnissen, die ich nicht mehr missen möchte. Wie der Autor die inhaltlichen und sprachlichen Ebenen miteinander verwebt ist wirklich großartig. Sarr gibt nie "die eine Antwort", sondern bietet durch seine verschiedenen Protagonist:innen verschiedene Lebenswege und Möglichkeiten der Deutung an. Dabei „war der sagenumwobene Autor T. C. Elimane in dieser ganzen Geschichte immer abwesend, ungreifbar gewesen.“(S.417) Auch dies ein Zitat aus dem Text, auch hier weißt uns Sarr daraufhin, dass sein gesamter Roman durchkonzipiert ist und nichts zufällig passiert.

    Abschließend ist noch diese Idee aus dem Roman für mich herauszustellen: "Es könnte sein, dass jeder Schriftsteller nur ein grundlegendes Buch in sich trägt, ein grundlegendes Werk, das er zwischen zwei Leerstellen schreiben muss." Also ich persönlich hoffe sehr, dass es nicht so ist, und dass Mohamed Mbougar Sarr mit seinen jungen 32 Jahren noch nicht "das eine grundlegende Buch" abgeliefert hat, sondern noch viele weitere, interessante Romane veröffentlichen wird. Ich bin ab jetzt eine begeisterte Leserin seiner (hoffentlich) noch kommenden, ebenso spannenden und intellektuell anregenden Werke.

    5/5 Sterne

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  1. Aberglaube, Literatur und afrikanische Identität

    Kurzmeinung: Handwerklich top - thematisch nicht mein Fall.

    Zunächst findet man sich im französischen Literaturbetrieb wider. In Paris diskutieren und schreiben gleich zwei Autoren aus dem Senegal. Sie sind nach Frankreich gekommen, um zu studieren und zu schreiben und, wenn möglich, berühmt zu werden. Jedoch befinden sie sich auf verschiedenen Zeitebenen in Paris, der eine um 1938, der andere in den 1980igern.
    Der eine, Diégane Latyr Faye, folgt den Spuren des früheren, einem Kerl namens T.C. Elimane. Für Elimane habe ich mich den ganzen Roman über keine Sekunde lang erwärmen können. Anders geht es Diégane!
    Elimane hat in den Augen Diégane Latyr Fayes nämlich den einen, ja DEN bedeutendsten Roman aller Zeiten geschrieben „Das Labyrinth des Unmenschlichen“. Das war, wie gesagt, 1938. Weil Elimane aber alsbald des Plagiats beschuldigt wurde, verschwand er spurlos. Niemals nahm er Stellung zu den Vorwürfen. Sondern, er war beleidigt und in seiner Ehre gekränkt. Keiner Diskussion zugänglich. Typisch afrikanisch? 

    Diégane, in der Jetztzeit, hat das schon vergriffene Buch aufgetrieben, beziehungsweise, es ist ihm zugelaufen – das ist in einem Roman ja ohne Weiteres möglich, und nun ist er dabei, unter allerhand Irrungen und Wirrungen Elimane selbst aufzustöbern. Frankreich, Niederlande, Argentinien, Kongo, Senegal. Von den diversen Schauplätzen bekommt man nicht viel mit, im Senegal, werden Proteste gegen die Regierung geschildert, im Kongo erlebt man einen Ausschnitt des Bürgerkriegs. 

    Die Gralsuche
    Thema des Buchs ist in erster Linie die Suche nach dem heiligen literarischen Gral, das heißt, DEM Buch schlechthin -und dessen Autor. Dem Buch, das alles überstrahlt. Das genial ist. Fast heilig. Gralsuche per se muss man mögen. Ich habe sie leider immer schon für überaus albern gehalten; aus dem einfachen Grund, weil die Beschreibungen der Beschaffenheit eines Grals immer vage ausfallen müssen. Weil es ihn halt nicht gibt. Insofern ist die Suche nach einem wie immer gearteten Heiligen Gral sowohl in der Literatur wie auch im Film immer eine Schimäre! Kaum taucht irgendwo ein heiliger Gral auf, weiß man, man soll als Leser oder Zuschauer mit einem Ring an der Nase durch die Manege geschleift werden! Das heisst, hier, im vorliegenden Roman, wird man durch ein Labyrinth an Textfragmenten geführt. Natürlich wird der Heilige Gral in der „geheimsten Erinnerung der Menschen“ gar nicht Heiliger Gral genannt, aber seine Beschreibung, das Buch aller Bücher, das alle anderen aussticht, entarnt ihn sofort: ein heiliger Gral. 

    Elimane selbst wird buchlang ein von Sarr gewollt Geheimnisvoller bleiben, der in Gesprächen mit anderen Protagonisten jede klarstellende Antwort verweigert, natürlich, sonst wäre er ja nicht mehr geheimnisvoll. Warum bist du verschwunden, Elimane, wen suchst du, wer bist du? Schweigen. Das finde ich ermüdend und langweilig.

    Die Literaturszene und Kritik am Kolonialismus
    Die Kritik Sarrs am Kolonialismus und seinen Spätfolgen entzündet sich in der Anspielung auf den real existenten Fall des malischen Autors Yambo Ouologuem, der 1968 den renommierten französischen Literaturpreis „Prix Renaudot“ erhalten hatte, aber später beschuldigt wurde, er hätte ungekennzeichnete Anleihen bei dem Schriftsteller Grahame Greene gemacht. Analog dazu versetzt Sarr seinen senegalesischen Autor T.C. Elimane in dieselbe Lage und denselben Vorwürfen aus; er setzt den Zeitpunkt dieses Geschehens früher an, mitten in die Zeit des Nationalsozialismus, damit er Rassismus und Kolonialismus und Antisemitismus in seinem Roman unterbringen kann. Denn ein guter Roman, heißt es sinngemaß irgendwo in Sarrs Text, handele immer von allem. 

    Mohamed Mbougar Sarr stellt den Skandal, den das Plagieren fremder Texte in den 1960ern durch Yambo Ouologuem hervorrief, gleich doppelt nach, einmal, in dem er seine Romanfigur Elimane ebenfalls Plagiatsvorwürfen aussetzt und zweitens, indem Sarr dasselbe tut. Sein Verlag enthüllt im Anhang, von welchen Autoren Sarr selbst Textpassagen verarbeitet hat, Roberto Bolaño, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Victor Hugo, Milan Kundera, Stepane Mallarmé, Thomas Sankara. Da ich kein einziges der genannten Werke kenne, ging diese „Entleihe“ an mir spurlos vorüber. Sarr will damit die einstigen Plagiatsvorwürfe gegen Yambo Ouologuem ad absurdum führen. Tatsächlich, ist das sehr gekonnt gemacht! Der Roman ist übrigens auch Yambo Ouologuem gewidmet.

    Humor und Selbstironie
    In Sarrs Roman werden viele Romane erwähnt, angerissen, verhandelt. Die meisten davon sind fiktiv. Quasi jeder, der etwas zu melden hat in Sarrs Roman, schreibt an einem solchen: T.C. Elimanes Cousine schreibt die „Elegie an die finstere Nacht“, der Titel von Diéganes erstem Roman lautet „Die Anatomie der Leere“; „Der barbarische Badam“, „Ebenholzschwarz“, „Die Melancholie des Sands“, „Die Liebe ist eine Kakaobohne“ stammt aus der Feder von Freunden. Man schmeißt sich weg bei diesen Titeln. Die Szene wird auf die Schippe genommen. Besonders „Die Liebe ist eine Kakaobohne“ hat es mir angetan. Ich finde es immer gut, wenn man über sich selber oder über sein eigenes Métier lachen kann. 

    Verschachtelung
    Der Leser bekommt es auf mehreren Zeitebenen mit mehreren Icherzählern zu tun. Der vielfache Wechsel erzählender Stimmen kann verwirrend sein, mit Konzentration kriegt man es aber auf die Kette, sie auseinanderzuklamüsern. Die wechselnden Ebenen, Schauplätze und Icherzäher führen einen in ein kunstvolles Labyrinth, in ein unmenschliches Labyrinth? Es ist ein bisschen viel auf einmal, zuviele Themen, zuviele Protagonisten, zuviel Philosophie, sofern man das Gesagte als Philosophie gelten lässt. Dem Roman fehlt etwas Großes, eine starke rote Linie, eine rote Linie stark wie eine Liane, eine Aussage wie ein Ausrufungszeichen! Der ganz große Wurf ist es deshalb nicht. "Die geheimste Erinnerung des Menschen" verliert sich in raffinierten Verästelungen. 

    Der Spagat zwischen dem alten und dem neuen Afrika
    In der Familiengeschichte Elimanes stößt das alte und das neue Afrika aufeinander und verschmilzt in der Figur des Elimane. Er ist sowohl der moderne junge Afrikaner, der im Ausland studiert und ein genialer Schriftsteller, gleichzeitig aber im Aberglauben verhafet und in schwarzer Magie bewandert. Eine Kunst, die er gegen seine Kritiker einsetzt, was angedeutet, aber nicht bewiesen wird. Die Geistwesen Afrikas trollen sich munter in Sarrs Roman herum. „Genug Afrika?“ hört man den Autor spötteln, der sich darüber mokiert, dass europäische Leser von einem afrikanischen Autor Exotik erwarten. 

    Erotik
    Frauen dürfen Philosophie studieren, aber letztlich sind sie trotzdem nur erotisches Beiwerk und tabledancen und/oder prostituieren sich, was das Zeug hält. Keine Frau, die Diégane und seine Kumpels in ihrer Hauptbeschäftigung des Abhängens treffen, wird nicht beschlafen. Sex ist wie Essen. Liebe ist nur ein Wort. Vor allem unsere Icherzähler Diégane trifft keine Frau ohne nach kurzer Zeit mit ihr im Bett zu landen. 

    Lebensfrage und Sinnsuche
    In dem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ steckt eine Menge Brisanz, Problematik und Satire, Phantasie und Kunst. Oder raffiniertes Handwerk. Aber Handwerk ist nicht alles. Diverse Versatzstücke wie Interviews, Kurzlebensläufe, etc, etc, dienen als literarische Stilmittel und werden durch besinnliche Ausführungen, die als Überleitungen dienen, eingerahmt. Diese langatmigen Ausführungen sind schwach auf der Brust. Geschwafel und Geschwätz ruinieren jeden Roman. Einmal wird lang und breit darüber philosophiert, dass jeder Mensch eine Lebensfrage hätte. Aber die Lebensfrage, die dann ans Licht kommt, lautet schlicht und einfach „Warum er“? und es geht lediglich um eine Frau, die den einen wählte und nicht den anderen. Das ist Satire, ja. Oder lächerlich. Aber letztendlich geht es bei der Sinnsuche und Sinnfrage des Romans um die afrikanische Identität. Kehrt man der Heimat den Rücken und kehrt nie wieder, kehrt man nach jahrelanger Abwesenheit zurück und findet inneren Frieden oder verlässt man weder Heimat noch Dorf jemals? Alle drei Gruppierungen finden ihren Platz in Sarrs Roman.

    Die Icherzähler
    Mehrere Icherzähler stellen ihre Sicht der Dinge in den Raum. Kann man ihnen trauen? Alles ist nur Hörensagen. Vielleicht gibt es ja doch eine ganz normale Erklärung für alles und die schwarze Magie ist nur Einbildung. Die Protagonisten kiffen und sind selten nüchtern. Ist eine geschilderte außerkörperliche Geistwanderung wirklich passiert oder ist diese Erzählung der Drogenerfahrung geschuldet? 

    Prämiert mit dem Prix Goncourt 2021
    Die geheimste Erinnerung der Menschen wurde mit dem Prix Goncourt prämiert. Der Preis ist aufgrund der Verschachtelungen, der Verflechtungen und der Kunstfertigkeit, womit diese ins Werk gesetzt wurden, durchaus verdient, dennoch trifft die Lektüre nicht meinen Geschmack. Zu viel von allem. 

     Fazit:. Was haben wir insgesamt? 

    Ein Sammelsurium: eine komplizierte Matroschkageschichte mit viel Gespenstern, Magie und Flussgott. Afrika pur mit Augenzwinkern. Aber auch Brisanz, Satire, ein bisserl Politik, einen Hauch Bürgerkrieg, hässlich gewiss, aber viel zu plakativ und effekthaschend, eine Art Liebesgeschichte, eine Portion Rassismusvorwürfe, ein Haufen Personal, Läuterung und Nachhausefinden - und seitenlange pathetische Sätze. Gegen Ende lässt Sarr eine seiner Figuren sagen: „Möglicherweise ist in der Literatur gar nichts zu finden“. Nun denn, dieses Nichts ist mir immerhin drei runde satte Sterne wert. 

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag: Hanser, 2022
    Sieger des Prix Goncourt 2021

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  1. Das Labyrinth des Erzählerischen

    Der junge senegalesische Autor Diégane ist auf der Suche nach sich selbst und nach dem großen Roman, der ihm den schriftstellerischen Durchbruch bringen soll. Als er in Paris die rätselhafte Schriftstellerin Siga D. trifft, hat dies für ihn weitreichende Konsequenzen. Denn Siga übergibt ihm ein Buch, das 80 Jahre zuvor den französischen Literaturbetrieb gehörig durcheinander wirbelte: "Das Labyrinth des Unmenschlichen" von T.C. Elimane, der seinerzeit zunächst als "schwarzer Rimbaud" gefeiert, kurz darauf aber als Plagiator verschmäht wurde. Der Roman und das Schicksal des verschwundenen Elimane lassen Diégane fortan keine Ruhe mehr. Und so begibt er sich auf eine weitere große Suche, die ihn in längst vergangene Zeiten und an geheimnisvolle Orte führt...

    "Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist der fünfte Roman von Mohamed Mbougar Sarr - und der erste, der in deutscher Übersetzung vorliegt. Sarr gewann mit ihm den Prix Goncourt 2021, was ihn kurioserweise von seinem heimlichen Protagonisten T.C. Elimane unterscheidet. Denn dessen Roman wurde nach den Plagiatsvorwürfen nicht nur vernichtet, sondern führte auch zur Auflösung des jungen Verlags. Selbiges droht dem Hanser Verlag glücklicherweise also nicht. Wäre auch unfair, denn der Verlag legt sich für Sarrs Werk so richtig ins Zeug - inklusive digitaler Schnitzeljagd, einem wunderbar schillernden Buchumschlag und den beiden Übersetzer:innen Holger Fock und Sabine Müller.

    Und dieser Aufwand hat sich durchaus gelohnt, denn "Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist ein über weite Strecken sehr gelungener Roman, der vor allem formal immer wieder aufs Neue überrascht und überzeugt. Sarr springt wild zwischen 80 Jahren französischer und afrikanischer Literaturgeschichte hin und her und verliert dabei selten einmal den Faden. Er vermischt Tagebucheinträge mit Literaturkritiken, Briefen und erzählerischen Passagen, folgt einem jungen jüdischen Verleger in den Widerstand des Zweiten Weltkriegs, begibt sich auf magische Spurensuche in senegalesischen Dörfern und verfolgt mordende Geister. Dass er sich in diesem "Labyrinth des Erzählerischen" nicht selbst verläuft, ist wohl die größte Leistung des Autors.

    Von der Leserschaft fordert er dabei allergrößte Aufmerksamkeit. Denn bei fehlender Konzentration dürfte es schwierig werden, sofort zu entschlüsseln, welche Figur eigentlich gerade erzählt und in welchem Jahr und an welchem Ort wir uns gerade befinden. Wer sich also auf die im Klappentext erwähnte "soghafte Kriminalgeschichte" freut, könnte enttäuscht werden. Denn erstens sind klassische Genremerkmale kaum vorhanden und zweitens ist "Die geheimste Erinnerung der Menschen" eher ein literarisches Vexierspiel. Ein anspruchsvoller "Schatten des Windes" oder eine rätselhafte Identitätssuche à la "Nach einer wahren Geschichte" von Delphine de Vigan in uns fremden Welten.

    Ein Kritikpunkt ist die Länge des Werkes mit seinen knapp 450 Seiten. Denn gerade zu Beginn des letzten Drittels schafft es Mohamed Mbougar Sarr nicht durchgehend, die Aufmerksamkeit der Leser:innen hochzuhalten. Hier wirkt der Roman mit seinen innerhalb eines Absatzes wechselnden Erzählperspektiven und seiner senegalesischen Gesellschaftskritik bisweilen etwas überambitioniert. Zudem sorgten die zahlreichen Charaktere mit ihren zumeist kurzen Auftritten dafür, dass sich zumindest bei mir letztlich selten einmal eine emotionale Bindung zu ihnen einstellen wollte.

    Dennoch ist es lohnenswert, sich gemeinsam mit Diégane auf die Suche nach der "geheimsten Erinnerung der Menschen" zu begeben. Denn mit seiner Themenvielfalt und seiner Komplexität schafft es Sarr nicht nur, den Intellekt der Leser:innen herauszufordern, sondern richtet den Blick auch auf aktuell relevante Themen wie Identität, Rassismus, Kolonialismus - und natürlich Literatur und ihre Kritik. Sarr persönlich wünsche ich, dass auch die deutsche Leserschaft zukünftig noch von ihm hören wird. Sei es in seinen neuen Romanen oder in den spannend klingenden Vorgängern wie "De purs hommes". Schließlich soll sich in 40 Jahren niemand auf die Suche eines einst bekannten jungen Autors aus dem Senegal begeben müssen, der längst in Vergessenheit geraten ist.

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  1. Faszinierend, ungewöhnlich und beeindruckend

    „Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden.“ (Zitat Seite 16)

    Inhalt
    Das Labyrinth des Unmenschlichen“, ein ebenso umjubeltes wie kritisiertes Buch von T.C. Elimane, wurde 1938 in Paris veröffentlicht. Kurz darauf verschwindet der Autor und auch das Buch ist seither unauffindbar. Diégane Latyr Faye kennt den Namen T.C. Elimane schon seit seiner Zeit auf dem Gymnasium in Senegal. Er träumt davon, Dichter zu werden, interessiert sich für Literatur und entdeckt 2008 im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur einen Artikel über T.C. Elimane und sein Buch. Inzwischen studiert Diégane in Paris, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er hat Elimane und das verschwundene Buch nicht vergessen, aber seine Nachforschungen bleiben erfolglos, bis er eines Tages im Juli 2018 die die senegalesische Schriftstellerin Siga D. kennenlernt. Denn diese besitzt eine Ausgabe von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ und gibt es ihm zu lesen. Das Buch zieht ihn sofort in seinen Bann und er will wissen, was damals wirklich passiert ist. Entschlossen folgt er den Spuren des geheimnisvollen Autors T.C. Elimane.

    Thema und Genre
    Dieser Roman gleicht einer mit einer Fülle von Ideen, vielseitigen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Erzählformen gefüllte Schatztruhe, es geht um Literatur, Literaturkritik, das Schreiben, um den Umgang mit Werken aus anderen Sprachräumen und Kulturkreisen. Ein Thema ist die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität, der persönlichen Geschichte, den Erinnerungen der Familie und der Vorfahren, und der Geschichte, die man als Schriftsteller erzählen will. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.

    Charaktere
    Die Namen der Figuren sind fiktiv, doch die Bezüge zur Realität sind deutlich. Jede der einzelnen Figuren, deren Geschichte wir folgen, fügt sich nach Irrwegen und Überraschungen in das Ganze ein. Das Leben der beiden Hauptfiguren Diégane und Elimane weist zudemde utliche Parallelen auf, wenn auch durch Jahre getrennt.

    Handlung und Schreibstil
    Diéganes aktuelle Geschichte und die intensive Suche nach T.C. Elimane finden innerhalb eines kurzen Zeitraumes statt, es sind die einzelnen Geschichten innerhalb dieser Geschichte, die ein faszinierendes Labyrinth von Menschen und ihren Schicksalen bilden. Der Autor wechselt zwischen Erzählformen, Perspektiven und Sprache, wir finden Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Abhandlungen, Briefen und Biografien. Der Autor nimmt sich Zeit für die Schilderung der Konflikte, der Gefühlsebene seiner Figuren, für die Beziehungen und natürlich auch für die Liebe, wo die Sprache zur Poesie wird. Handlung und Sprache entfalten so eine Vielseitigkeit, die sich jedoch nie verliert und auch offene Fragen beantwortet, die Dinge langsam zusammenfügt und wichtigen Anliegen verbindet.

    Fazit
    „Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“ (Zitat Seite 13) Für mich ist dieser Roman einer der Höhepunkte meines Lesejahres 2022, denn hier stimmt einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren, und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellern nach der eigenen Ausdrucksform. Nach dem Lesen der Beschreibung auf der Buchrückseite und des Klappentextes wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman. Was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen: ein faszinierendes Leseerlebnis.

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  1. "Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung"

    Klappentext:
    Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt – Mohamed Mbougar Sarrs großer Roman über die Suche nach einem verschollenen Autor

    Mohamed Mbougar Sarr erzählt virtuos von der Suche nach einem verschollenen Autor: Als dem jungen Senegalesen Diégane ein verloren geglaubtes Kultbuch in die Hände fällt, stürzt er sich auf die Spur des rätselhaften Verfassers T.C. Elimane. Dieser wurde in den dreißiger Jahren als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert, nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal tauchte er jedoch unter. Wer war er? Voll Suchtpotenzial und unnachahmlicher Ironie erzählt Sarr von einer labyrinthischen Reise, die drei Kontinente umspannt. Ein meisterhafter Bildungsroman, eine radikal aktuelle Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des Kolonialismus und eine soghafte Kriminalgeschichte. Ein Buch, das viel wagt – und triumphiert.

    Zum Autor (Quelle Verlag):
    Mohamed Mbougar Sarr, geboren 1990 in Dakar, wuchs im Senegal auf und studierte in Frankreich Literatur und Philosophie. Er hat bereits drei Romane veröffentlicht, für die er u.a. mit dem Prix Stéphane-Hessel und Grand prix du roman métis ausgezeichnet wurde. Für "Die geheimste Erinnerung der Menschen", seinem ersten Werk, das auf Deutsch erscheint, erhielt er 2021 den Prix Goncourt. Sarr ist damit der erste senegalesische Autor, dem dieser Preis zugesprochen wurde. Die Übersetzungsrechte wurden in mehr als 22 Sprachen verkauft.

    Mein Lese-Eindruck:
    „Für Yambo Ouloguem“- so die Widmung zu Beginn. Der Fall Yambo Ouloguem: ein junger Literat aus Mali gewann 1968 einen Literaturpreis in Frankreich, wurde bejubelt und dann wegen Plagiats fallen gelassen. Ouloguem kehrte nach Mali zurück und starb 2017.

    Hier findet Sarr seine literarische Vorlage: seinen Helden Diégane und v. a. Elimane geht es genau so wie Ouluguem. Diégane erkennt in seinem verschollenen Landsmann Elimane einen Schicksalsgefährten und beginnt daher ca. 50 Jahre nach dem Skandal und dem Verschwinden seinen Spuren zu folgen. Und so entsteht der Roman.

    Ein Kernthema des Romans ist das Selbstverständnis bzw. Fremdverständnis der Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs. In einer bitterbösen Satire reiht Sarr fiktive Kritiken an Elimanes Roman aneinander und klagt die rassistische Diskriminierung an. Einige Beispiele: Ein so kunstvolles Werk könne nicht von einem Schwarzen stammen, denn Afrika sei das Land der Barbarei und der Gewalt. Oder: Das Werk habe zu wenig „tropisches Kolorit“. Oder: Der Autor sei gebildet, aber wo sei die „afrikanische Seele“? Überhaupt: ein Jude als Schriftsteller ginge ja noch, „aber der Neger nie“.

    Und so geht es Fragen der kulturellen Aneignung, um den nach wie vor wirkmächtigen Kolonialismus und um den Spagat zwischen einem traditionsverhafteten Leben und dem Eintritt in die weiße Welt der ehemaligen Kolonialherren.

    Das hört sich trocken an, aber Sarr entfaltet eine derart unbändige Freude am Erzählen, dass der Leser davon gepackt wird. Er arbeitet mit Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikel, Interviews, Erzählerberichten und jeder Menge Berichte von Zeitzeugen aus 3. und 4. Hand, die Handlungsorte wechseln, und immer wieder wechselt er mitten im Text die Erzählerperspektive. Manchmal allerdings war mir persönlich das Pathos der Sätze zu plakativ. Zugegeben: es war nicht immer leicht, den verschlungenen Pfaden des Buches zu folgen, und auf manche prätentiöse Fremdwörter wie „phaläkische Verse“ hätte ich auch verzichten können.

    Das Fazit des Romans ist hart: „Wer war eigentlich Elimane? Das gelungenste und zugleich tragischste Produkt der Kolonisation. … Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung.“

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