Der Mann mit den Facettenaugen

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Mann mit den Facettenaugen' von Ming-Yi Wu
5
5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Mann mit den Facettenaugen"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:317
EAN:9783751800693

Rezensionen zu "Der Mann mit den Facettenaugen"

  1. Bedrohung Wohlstandsmüll

    Eine riesige Insel aus Müll treibt im Pazifik. Leider spielt diese nicht nur im Roman von Ming-Yi Wu eine Rolle - sie ist gefährlich real. Der große pazifische Müllstrudel (Great Pacific Garbage Patch) soll etwa zwanzigmal so groß wie Österreich sein und ist ein riesiges Problem für unser Ökosystem.

    In „Der Mann mit den Facettenaugen“ treibt ein Teil dieses gigantischen Müllteppichs auf die Ostküste Taiwans zu mit weitreichenden Konsequenzen für Flora, Fauna und die dort lebenden Menschen.

    Es ist schwer etwas über Ming-Yi Wus Roman zu schreiben, ohne zu viel vom Inhalt zu verraten. Der Autor, der einer der bekanntesten taiwanesischen Schriftsteller ist, verwebt auf eine sehr besondere Art knallharte reale Fakten mit der Mythologie taiwanesischer indigener Völker, aber auch dem normalen Alltagsleben der dort lebenden Menschen. Parallel dazu entwickelt er eine fiktive Kultur, deren Abschnitte sich wie Märchen aus längst vergangenen Zeiten lesen. Unabhängig davon tauchen im Verlauf der Geschichte mehrmals Elemente auf, die an magischen Realismus erinnern.

    Zu Beginn lernen wir die kleine Insel Wayowayo mitten im Pazifischen Ozean kennen. Der Autor lässt dort eine fiktive Welt entstehen, die isoliert und von der restlichen Welt vergessen mit eigenen Vorstellungen, Bräuchen und Tabus existiert. Eine der wichtigsten Regeln dort sieht vor, dass zweitgeborene Jungen im Alter von 15 Jahren die Insel mit einem Boot verlassen müssen. In den Weiten des Ozeans kommt dies einem Todesurteil gleich. Atile’i ist ein Zweitgeborener, ein hervorragender Schwimmer, der sein kleines Boot beherrscht und im Rahmen einer Abschiedszeremonie fortgeschickt wird. Er strandet auf besagter Müllinsel und wird mit dieser nach Taiwan gespült.

    Unmittelbar an der taiwanesischen Ostküste lebt in einem freistehenden Haus die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Alice. Sie ist Han-Chinesin und hat einen Lehrauftrag an der Universität in Taipeh. Auf einer Europareise lernte sie ihren Mann Thom kennen, der als passionierter Abenteurer und Bergsteiger gerne seine dänische Heimat verließ, um mit Alice in Taiwan zu leben. Die beiden bauten, inspiriert vom schwedischen Architekten Gunnar Asplund ein „sommarhus“ am Meer. Seit ihr Mann Thom und ihr Sohn Toto nicht mehr von einem Kletterausflug zurückkehrten, hat Alice jedoch ihren Lebensmut verloren und spielt immer häufiger mit Selbstmordgedanken. Das Meer kommt ihrem Haus bedrohlich näher - ungewöhnlicher Starkregen und der steigende Meeresspiegel sind dafür verantwortlich, dass ihr Haus dem Untergang geweiht ist. Ebenso unmittelbar betroffen von den klimatischen Veränderungen sind die Fischer der Ostküste, aber auch Hafays Kneipe, die direkt am Meer liegt. Hafay gehört zum Volk der Amís - auch ihre Geschichte erfahren wir im Laufe des Romans, ebenso wie die von Daho, der u.a. als Bergretter arbeitet und dem Volk der Bunun angehört. Wichtig für die Geschichte sind außerdem der Geologe Konrad, der maßgeblich an einem Tunnelprojekt in den Bergen Taiwans beteiligt ist und seine Partnerin Sarah, promovierte Meeresbiologin und Umweltaktivistin.

    Ein zentrales Thema des Romans ist der maßlose Umgang mit natürlichen Ressourcen, eine zügellose nach immer mehr Wohlstand strebende Menschheit, die durch ihr Verhalten nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst gefährdet. Während die indigenen Völker und auch die fiktive Kultur auf Wayowayo mythologisch begründete Regeln haben, die letztendlich die Natur vor übermäßigem Eingreifen der Menschen schützen, ist genau das der vom Kapitalismus geprägten Welt verloren gegangen.

    „Der Mann mit den Facettenaugen“ ist ein Roman, der deutlich Konsumkritik betreibt und den Klimawandel, die Ausbeutung und die Vermüllung der Erde als existenzgefährdende Faktoren in den Mittelpunkt stellt. Es geht aber auch auf unterschiedlichen Ebenen um Verlust, Trauer, Verbundenheit, Menschlichkeit und Freundschaft. Der Roman bietet nicht nur einen Blickwinkel auf diese Themen, sondern zeigt zahlreiche Weltsichten, die zum Nachdenken anregen und wartet gegen Ende noch mit einem erstaunlichen Plottwist auf.

    Ich hatte zu Beginn einige Schwierigkeiten, in diese sehr besondere Geschichte hineinzufinden, einige Kleinigkeiten haben mich gestört. Doch je weiter die Geschichte voranschritt, umso faszinierter war ich von der Welt, die Ming-Yi Wu entfaltet, von den Verbindungen, die er zieht.

    Wer auf der Suche nach einem außergewöhnlichen Roman ist, sich an phantastischen und märchenhaften Elementen nicht stört, sollte hier zugreifen. Ich vergebe 4,5 Sterne für dieses phantasievolle, atmosphärisch ruhige, nachhallende Werk, das ich bestimmt noch ein weiteres Mal lesen werde.

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