Der Halbbart

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Halbbart' von Charles Lewinsky
4.9
4.9 von 5 (11 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Halbbart"

Der Sebi ist nicht gemacht für die Feldarbeit oder das Soldatenleben. Viel lieber hört und erfindet er Geschichten. Im Jahr 1313 hat so einer es nicht leicht in einem Dorf in der Talschaft Schwyz, wo die Hacke des Totengräbers täglich zu hören ist und Engel kaum von Teufeln zu unterscheiden sind. Doch vom Halbbart, einem Fremden von weit her, erfährt der Junge, was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet – und wie man auch in rauhen Zeiten das Beste aus sich macht. Ein Roman voller Schalk und Menschlichkeit, der zeigt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:688
Verlag:
EAN:9783257071368

Rezensionen zu "Der Halbbart"

  1. Der Halbbart

    Leicht macht es Charles Lewinsky seinen Lesern in seinem neuen Roman „Der Halbbart“ nicht gerade, gespickt mit Schweizer Mundartausdrücken und der Historie der Schweizer Gründungslegende im Hintergrund, die sich nur schwer erschließt. Aber es ist ein Schmökerroman im allerbesten Sinne, ein Schelmenstück und ein Balanceakt, der sprachlich und erzählerisch absolut gelungen ist, wenn man es schafft, sich auf den Autor und seine Geschichte einzulassen.

    Sebi, ein einfacher Schweizer Bube um 1300, wächst auf als Halbwaise mit seinen Brüdern Geni und Poli, bevor er auch noch seine Mutter verliert. Er hat es nicht leicht in einem Dorf, in dem Gut und Böse verschwägert sind und der Totengräber immer reichlich zu tun hat. Ein misstrauisch beäugter Fremder, äußerlich versehrt und weit gereist, nimmt den Sebi unter seine Fittiche und erzählt ihm in Bruchstücken seine Geschichte, die immer wieder eng mit den Geschicken des Dorfes verwickelt ist, geprägt von Schicksalsschlägen und Intrigen und Gewalt.

    Sebi, der Sensible, hat es schwer, seinen ihm angedachten Platz einzunehmen. Die Klosterobhut endet traumatisch, beim Dorfschmied findet er zwar Geschwisterersatz bei dessen Tochter, doch ohne Bestand. Durch den Widerstreit zwischen den Habsburgern und Wittelsbachern gibt es Gemetzel, Plünderungen und viel Leid, das Sebi gottesfürchtig aber nicht realitätsblind zu ertragen weiß. Schließlich führt ihn sein Weg zum Teufels-Anneli, wo er zum Geschichtenerzähler ausgebildet wird.

    Der Geschichtenerzähler Eusebius, oder Sebi, lässt den Leser teilhaben an der mittelalterlichen Welt mit großem Leid, Glaubenssätzen und einem von Not und Krieg geprägtem Alltag, bei dem das große Ganze verwischt, aber nie aus dem Auge verloren wird. Mit bestechend klarem Ton, der Neugier eines Kindes und der Klarsicht eines Erwachsenen erzählt Sebi, mit Witz und Verstand.

    Lewinsky präsentiert in diesem Roman schelmisch und fast philosophisch seine Fabulierlust, seinen Sprachwitz und seine Klugheit mit Themen, die erst auf den zweiten Blick augenscheinlich werden. Neben der frechen Neuerzählung der Gründungsgeschichte der Schweiz reibt er sich an der Gewaltfrage, an Gottesfürchtigkeit und Glauben und am Teufelsbild, ohne dabei zu moralisieren. Verspielt, nachdenklich über einer andere denkbare Realität und doch wenig utopisch, ist das Buch ein sehr gelungenes Gegenstück zu althergebrachter historisch geprägter Literatur mit all ihrer Schwere.

    Die von Lewinsky neu erzählte Vorgeschichte der Schlacht von Morgarten im Jahr 1315 ist gut recherchiert, auch wenn man als Leser die Fakten keinesfalls vom Autor serviert bekommt, sondern sich diese selbst erarbeiten muss. Seine Figuren, der jüdische Flüchtling Halbbart und der Geschichtenerzähler Sebi, scheinen auch nicht unbedingt jener Zeit entsprungen, sondern entsprechen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln eher dem individuellen und modernen Menschen. Beide stehen dem frommen Glauben und Aberglauben skeptisch gegenüber. Das Geflecht der Gesellschaft, in der sich die beiden bewegen, ist aber mit allen existenziellen Nöten, Konflikten und Gewalttaten durchaus der historischen Epoche des Mittelalters zuzuordnen und wirkt authentisch.

    Naiv, mit Augenzwinkern und bestechender Leichtigkeit trotz der sprachlich durch die Schweizerdeutschen Ausdrücke etwas rustikalen Atmosphäre führt Lewinsky den Leser durch die Geschichte um den Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Landleuten des Ortes Schwyz. Er verpasst den historischen Ereignissen einen familiären Touch, macht aus der großen Schlacht bei Morgarten ein eher unheroisches Gemetzel und läßt seinen fulminanten Roman clouhaft durch die Macht des Wortes ein rundes Ganzes werden, das man beim Lesen kaum weglegen möchte. Bravo!

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  1. Geschichten erzählen

    1313, in einem kleinen Dorf in der Schwyz lebt Sebi mit seiner Mutter und den älteren Brüdern Origenes und Polikarp. Für das raue Leben im Mittelalter ist der Sebi nicht gemacht, Eher klein und schmächtig -ein „Finöggel“ wird er genannt - eignet er sich nicht für die Feldarbeit, nicht fürs Klosterleben und fürs Soldatensein schon gar nicht. Ein Fremder siedelt sich in der Talschaft an. Er hat ein von Brandwunden verunstaltetes Gesicht – so kam der „Halbbart“ zu seinem Namen - ein Flüchtling, der für sich bleibt, einer mit einer geheimnisvollen Vergangenheit. Doch der Sebi sucht sich den Mann zum Freund aus, nimmt ihn zum Vorbild. Der Halbbart wiederum bringt dem Sebi nicht nur das „Schachzabel“ bei, sondern auch die Welt außerhalb des eigenen Dorfes näher. Eine Welt, die der Sebi nicht immer versteht.

    Vieles passiert in diesem Dorf und der Umgebung, gutes wie schlechtes, alltägliches wie abenteuerliches. Mit dem Sebi hat Charles Lewinksy ein erzählfreudiges Alter Ego. Geschichten erzählen ist das, was der Sebi will, und Geschichten erzählen ist das, was Charles Lewinsky kann.

    „Ich glaube, wenn es keine Geschichten gäbe, die Leute würden an der Langeweile sterben wie an einer Krankheit.“

    Harte Arbeit, Gewalt, Hunger, Glaube und Aberglaube. Das Leben der einfachen Menschen damals, der Bauern und Handwerker, ist davon geprägt. Im Streit um Land und Herrschaft werden sie Spielball der geistlichen und weltlichen Machthaber. Der historische Marchenstreit gibt den zeitlichen Rahmen vor. Doch Charles Lewinsky gibt uns keinen Geschichtsunterricht. Vielmehr lehrt er uns die Kraft der Geschichten und welche Wirklichkeiten daraus entstehen können, je nachdem wer denn diese Geschichte(n) erzählt.

    »Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.«

    Der Halbbart ist ein kraftvoller historischer Roman der etwas anderen Sorte. Sprachlich gewandt, überraschend und ohne schmachtvollen Firlefanz weiß Charles Lewinsky die Leserin bestens zu unterhalten.

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  1. Toller Roman, absolutes Lesehighlight

    Toller Roman, absolutes Lesehighlight

    Darf ich vorstellen? Mein Name ist Sebi! Abkürzung von Eusebius! Ein toller Kerl ist er dieser Sebi, der mich als Erzähler durch eine wunderbare Geschichte geführt hat. Auch wenn der Sebi noch sehr jung ist, kein Mann wie er es wahrscheinlich selbst ausdrücken würde, kaufe ich ihm diese Geschichte voll und ganz ab. Welche Geschichte werden dem Leser hier geboten? Na, die um den Halbbart, das Kätterli, des Teufels-Anneli und natürlich den Marchenstreit. Wobei der, trotz des wahren geschichtlichen Hintergrundes, gar nicht so wichtig ist wie der Rest.
    Doch so einfach ist das alles natürlich nicht, erst recht nicht, wenn der Autor Charles Lewinsky sich dem annimmt. Es müssen erst viele Geschichten erzählt werden, damit dem Leser ein Licht aufgeht......

    Sebi wohnt im kleinen Dorf Schwyz um 1300. Jeder kennt jeden, was die Sache nicht immer leicht macht. Seine beiden älteren Brüder mag er sehr, und natürlich seine Mutter, einen Vater gibt es nicht mehr. Doch am meisten fühlt er sich vom Halbbart angezogen, einem Mann, der sich abseits des Dorfes niedergelassen hat, versteckt hält. Der Halbbart weiß viel, und führt mit dem Sebi Gespräche, als wäre dieser ebenfalls erwachsen, das gefällt ihm sehr.
    Durch einen schweren Unfall seines Bruders Geni wird der Halbbart zum Retter dessen Beines, was ihm im weiteren Verlauf fast selbst das Leben gekostet hat. Doch das ist eine andere Geschichte.
    Ab da wird der Halbbart ins Dorf integriert, und hilft als Heiler wo er nur kann.
    Der Sebi geht nach dem Tod der Mutter ins Kloster, und viele weitere Dinge geschehen.
    Eine Aneinanderreihung von Abenteuern geschieht, und das größte Abenteuer hängt für den Sebi wohl mit dem Teufels-Anneli zusammen, aber das sollte jeder selbst lesen. Genauso wie die Lebensgeschichte des Halbbarts, die interessant und traurig zu gleich ist, sollte man sich vom Sebi erzählen lassen.
    Nun, wo ich den Roman ausgelesen habe, vermisse ich den Sebi und seine Geschichten. Mehr muss ich dazu glaube ich nicht sagen. Der Roman ist für mich ein persönliches Lesehighlight gewesen!

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  1. Geschichte(n) aus dem mittelalterlichen Schwyz

    Charles Lewinsky ist einer der facettenreichsten Autoren, die ich kenne, ein Wortakrobat im besten Sinne, ein Künstler im Umgang mit der deutschen Sprache. Kaum ein anderer kann aus so vielen verschiedenen Plots, Perspektiven und Grundstimmungen heraus schreiben. Jeder Roman aus seiner Feder ist ein Unikat. Mit dem Halbbart hat mich Lewinsky wieder einmal restlos begeistert.
    Hauptperson und Ich-Erzähler ist der 13-jährige Eusebius (Sebi), der zusammen mit seiner Mutter und den zwei älteren Brüdern Geni und Poli Anfang des 14. Jahrhunderts im Dorf Schwyz unweit des Benediktinerklosters Einsiedeln lebt. Man erfährt viel über den von harter Arbeit geprägten Alltag der Bauernfamilien. Sebi ist ein versierter Erzähler mit gutem Gedächtnis, der vermeintlich alltägliche Begebenheiten spannend und mit Witz darstellen kann. Allerdings ist er auch ein Außenseiter, der weder für die Feldarbeit noch für das Soldatenleben taugt. Als Alternative steht ein Leben hinter Klostermauern im Raum.

    Unruhe verbreitet das Erscheinen eines geheimnisvollen Neuankömmlings im Ort. Der Fremde, der von allen nur der Halbbart genannt wird, sieht eigenartig aus, denn eine seiner Gesichtshälften ist entstellt und vernarbt. Schnell gilt der Einsiedler als komischer Vogel, in Windeseile entwickeln sich verschiedene Legenden um seine Existenz. Tatsache ist, dass der Halbbart eine bescheidene, stille Natur hat und sich auf Kräuter und Heilkunde versteht. Zunächst freundet sich nur Sebi mit ihm an. Tatsächlich haben die beiden auf den ersten Blick ungleichen Menschen viele Gemeinsamkeiten. Beide sind kluge Nachdenker, die ihre Mitmenschen kritisch hinterfragen und auch keine Scheu haben, tradierten Regeln auf den Grund zu gehen. Der Halbbart wird zu einem väterlichen Freund für den Jungen und bringt ihm auch sein Lieblingsspiel Schachzabel bei, das ihnen vergnügliche Stunden bereitet. Nur mit ihm kann er über seine Beobachtungen und Gedanken sprechen, sie mit ihm reflektieren und korrigieren. Der Halbbart verfügt über die erforderliche Lebenserfahrung. So erklärte ihm der Halbbart:

    „Wer befehlen könne, sei immer stärker als wer gehorchen müsse, mit den Muskeln habe das nichts zu tun. Und die Menschen, die das Sagen hätten, würden dafür sorgen, dass das Starksein, also das Befehlen, in ihrer Familie bliebe, nur deshalb gäbe es Grafen und Herzöge und Könige. So einer könne einen Buckel haben oder dünne Beine wie ein Storch, und trotzdem könne er alles befehlen, was ihm gerade in den Sinn komme, und ein ganzes Land müsse rennen, um es auszuführen.“ (S. 107)

    Mit der Zeit gewinnt der Halbbart auch die Freundschaft vom Geni und etabliert sich als Heilkundiger im Ort. Es könnte alles so schön sein – wenn die Zeiten nicht so unruhig wären. Sebis Geschichten sind nämlich eingebettet in die Zeit des Marchenstreits. Das Kloster Einsiedeln (protegiert vom Habsburger König) kämpft um mehr Landbesitz und Rechte, was sich die Schwyzer Bauern nicht gefallen lassen wollen. Ihnen kommen arbeitslose Söldner zur Hilfe, aus Recht wird Unrecht, Gewalt erzeugt Gegengewalt. Sebi berichtet über die verschiedenen Ereignisse äußerst erfrischend. Er ist klug, aber nicht altklug. Man nimmt ihm seine aufmerksame Beobachtungsgabe ab, auch weil er manchmal an die Grenzen seines Alters stößt. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der schwierige Zusammenhänge vereinfacht und trotzdem auf den Punkt bringt. Der Leser bekommt ein umfassendes Panorama des Mittelalters geschildert. Sebi berichtet in seinen Geschichten über Standesunterschiede und daraus resultierende Ungerechtigkeiten, über brutale Übergriffe und Kampfhandlungen, über Glauben, Aberglauben, Heuchelei und Hexenverfolgung, aber auch über Familienbande, Freundschaft, Loyalität sowie das ganz normale Leben und Sterben in dieser Zeit. Das tut er auf eine sehr einnehmende, mitunter ungewollt humorvolle Weise. Die Art des Erzählens nimmt dem Erzählten die Härte und Grausamkeit.

    Der Roman ist aufgeteilt in 82 relativ kurze Kapitel, deren Überschriften den wesentlichen Inhalt kurz zusammenfassen. Das Potpourri an Figuren und Handlung machen das Buch zum Pageturner. Die sprachliche Gestaltung ist grandios. So viele Sätze möchte man anstreichen, soviel Weisheit und Humor blitzen aus den Zeilen hervor.

    „…und weil man Schweres leichter erträgt, wenn man jemandem die Schuld daran geben kann….“ (S. 276)
    „Mir scheint, je weniger jemand von einer Sache versteht, desto lauter redet er darüber.“ (S. 372)
    „Der Halbbart meint, letzten Endes ist es kein Unterschied, ob es wirklich so gewesen sei. Ein Gerücht müsse nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es müsse nur geglaubt werden.“ (S. 428)

    An sich stehe ich kindlichen Perspektiven sehr skeptisch gegenüber, hier hat sie mich eingefangen und überzeugt. Charme hat gerade auch die Sprache an sich, die mit ihren helvetischen Einsprengseln viel Lokalkolorit vermittelt. Lewinsky bildet das Mittelalter realistisch, aber nicht blutrünstig ab. Man kann den Halbbart völlig ohne hintergründige Geschichtskenntnisse genießen und verstehen, man kann aber auch Nachforschungen anstellen, um das Gelesene besser verorten zu können.

    Ein wirklich beeindruckender historischer Roman, der völlig zu Recht auf der Longlist des DBP 2020 steht und für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. Ein Buch, das vielen Leserschichten gefallen wird und dem ich ganz viele davon wünsche. Ein großer Wurf!

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  1. 5
    03. Nov 2020 

    der Sebi und seine Geschichten

    Mittlerweile kann ich mich blind darauf verlassen, dass mir ein Roman gefallen wird, sobald das Prädikat "Lewinsky" auf dem Buchcover zu finden ist. "Lewinsky" steht für mich für literarische Überraschungen. Denn selten bin ich darauf vorbereitet, was mich in einem Buch des Autors Charles Lewinsky erwarten wird. Ob er nun die Geschichte eines berühmten Schauspielers erzählt oder eines kriminellen Stotterers oder einer Familie über mehrere Generationen, ob er eine Biografie, einen Krimi oder ein Kinderbuch schreibt, ich bin jedes Mal aufs Neue verblüfft, was der Autor aus einem Thema macht - so auch dieses Mal bei seinem aktuellen Roman "Der Halbbart".
    "Der Halbbart" ist ein Roman, der auf einem historischen Ereignis basiert: der Marchenstreit zwischen dem Schweizer Kloster Einsiedeln und dem Ort Schwyz im 13./14. Jahrhundert. Hierbei ging es um Besitzrechte an den Ländereien in dieser Gegend.

    Charles Lewinsky hat sich also diesmal ein unpopuläres historisches Thema vorgenommen, denn welcher Nicht-Schweizer kennt sich schon mit der Schweizer Geschichte zur Zeit des späten Mittelalters aus. Der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell, der zur selben Zeit gelebt hat, mag vielen noch ein Begriff sein. Aber "Marchenstreit"? (s. Wikipedia)
    Daher war ich doch sehr gespannt, wie der Autor an dieses Thema herangeht, und vor allem, was er daraus macht.

    Der erzählende Protagonist dieses Romans ist Eusebius, Sebi genannt, ein 13-jähriger Zeitzeuge, der mit seiner Familie in Schwyz gelebt hat.

    "'Die Menschheit ist wie ein Körper', hat er mir erklärt, 'Die Geistlichkeit ist der Kopf, der alles lenkt, die Ritter sind die Arme, die es zum Kämpfen braucht, und die Bauern sind die stinkigen Füße und müssen die anderen tragen.'"

    Dieser Sebi ist ein herzerfrischender Charakter. Er hat eine blühende Fantasie, ist ein cleveres Kerlchen und ein aufmerksamer Beobachter. Doch in einem Dorf, dessen Leben von Ackerbau bestimmt und eher Muskelkraft als Klugheit benötigt wird, sind Sebis Fähigkeiten kaum gefragt. Daher wird er leider selten für voll genommen. Einer der wenigen, die ihn ernst nehmen, ist der geheimnisvolle Halbbart.

    Eines Tages taucht dieser Halbbart in Sebis Dorf auf und lässt sich hier nieder. Keiner weiß, woher er gekommen ist, keiner weiß, was ihm Schreckliches widerfahren ist. Denn dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist, ist deutlich sichtbar. Das Gesicht des Halbart ist durch große Brandnarben verunstaltet. Die Dörfler sind zunächst misstrauisch gegenüber dem unheimlichen Fremden. Einzig der Sebi freundet sich mit dem Halbbart an. Nach und nach erfährt er dessen Geschichte. Auch die Dorfbewohner gewöhnen sich langsam an den Fremden, und er wird zu einem festen Bestandteil der Dorfgemeinschaft, was nicht zuletzt an seinem Wissen über Kräuterkunde und Heilmethoden liegt.

    "Es ist etwas Eigenes mit dem Halbbart: Die Menschen werden entweder ganz schnell seine Freunde, oder sie mögen ihn überhaupt nicht."

    Der Titel dieses Romans verleitet natürlich dazu, die Geschichte des Halbbart in den Mittelpunkt zu rücken. Doch dem ist nicht so. Tatsächlich entwickelt sich dieser Charakter zu einem Nebendarsteller, der anfangs größeren Einfluss auf die Handlung hat als zum Ende hin. Der Halbbart ist der väterliche Freund des Protagonisten Sebi und prägt dessen Entwicklung.
    Unser Sebi reift in diesem Roman. Vom anfänglichen Lausbuben, der träumerisch durchs Leben geht, entwickelt er sich in kurzer Zeit zu einem jungen Menschen, der weiß, was er will und der vernünftiger erscheint als manch einer, der mehr Lebenserfahrung besitzt als er. Wodurch sich Sebi jedoch immer auszeichnet, ist sein Mitgefühl und sein gesunder Menschenverstand. Diese beiden Eigenschaften unterscheiden ihn deutlich von den Meisten der Charaktere in diesem Buch. Man sollte meinen, dass der Sebi zu gut für die Welt ist - zumindest für die Welt des Jahres 1313, indem die Handlung dieses Romans stattfindet.

    Sebi muss lernen, dass scheinbar jeder Mensch eine dunkle Seele in sich birgt, die sich selten unterdrücken lässt. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, dass Sebi seine Naivität und Gutgläubigkeit im Umgang mit den Menschen um ihn herum langsam verliert.

    "'... Man meint bei vielen Sachen, sie könnten nicht anders sein, als sie sind, so wie die Sonne aufgeht und wieder unter oder der Mond voll wird und wieder leer. Aber was zwischen den Menschen passiert, das hat nicht der Himmel gemacht, sondern wir selber, und manchmal könnte man glauben, es sei der Teufel gewesen. ...'"

    In diesem Roman spielen Kirche und Religion eine große Rolle. Der Einfluss der Kirche auf das damalige Leben war unermesslich, wobei die Kirche weniger als geistlicher Beistand anzusehen war, denn als Großgrundbesitzer. Denn der Kirche gehörten große Teile der Ländereien, die von der Bevölkerung bewirtschaftet wurde, inklusive der Wälder. Und wie es sich für Großgrundbesitzer gehört, lebten die Klerikalen in besseren Verhältnissen als der Rest der Bevölkerung, was natürlich zu Unzufriedenheit führte. Losgelöst von der Vorherrschaft der Kirchen waren die Menschen streng religiös. Glaube und Aberglaube bestimmte deren Alltag. Jede Lebenslage hatte ihren Heiligen, an dessen Wundertaten voller Ehrfurcht geglaubt wurde.

    Genauso wie der Halbbart wird auch der Marchenstreit in den Hintergrund dieser Geschichte treten. Dieser Konflikt gibt zwar immer noch den Rahmen für die Handlung vor. Dennoch werden die Menschen dieser Gegend, mit all ihren Tugenden und Lastern, im Mittelpunkt stehen. Der Sebi wird uns viele bunte Geschichten über seine Zeitgenossen erzählen, die diesen Roman zu einem großen Vergnügen machen.

    "Geschichten ausdenken ist wie lügen, aber auf eine schöne Art."

    Der Sprachstil in diesem Roman ist auf die damalige Zeit, seinem jugendlichen Ich-Erzähler aus einfachen Verhältnissen sowie dem Schauplatz angepasst. Wir befinden uns im dunklen Mittelalter. Demenstprechend düster erscheint die Stimmung in dieser Geschichte, wird aber immer wieder von der herzerfrischend jugendlichen Erzählweise des Sebi aufgelockert.

    In der Sprache dieses Romans finden sich viele Begriffe aus dem Schweizerdeutschen. Diese sind wie selbstverständlich in die Geschichte integriert. Anfangs mag das befremdlich erscheinen, doch schnell wird man feststellen, dass sich das Verständnis dieser Ausdrücke aus dem Zusammenhang ergibt. (Und wer es genau wissen will, kann in einem Glossar auf der Diogenes Seite nachschlagen). Sebi ist ein Junge aus einfachen Verhältnissen, der weder lesen noch schreiben kann. Er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, inklusive freizügiger Grammatik und simpler Wortwahl. Doch gerade diese simple Ausdrucksweise in Kombination mit dem Schweizerdeutsch erhöht die Glaubwürdigkeit des Sprachstils. Man nimmt dem Autor das Mittelalter ab.

    Mein Fazit:
    Auf das Prädikat "Lewinsky" kann man sich blind verlassen. Denn Erzählkünstler Charles Lewinsky ist mit "Der Halbbart" zur Höchstform aufgelaufen und hat aus einem unpopulären historischen Thema ein schillerndes literarisches Kunstwerk gemacht.
    Ich bin restlos begeistert von diesem Roman!

    Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. Ein begnadeter Erzähler

    Einer der Schweizer Gründungsmythen neben Rütli-Schwur und Tell-Sage ist die Schlacht von Morgarten im November 1315. Spätere Chronisten haben dieses Ereignis als großartigen Sieg tapferer Bauern gegen Habsburger Machtansprüche gepriesen. Was sich dort wirklich ereignet hat, ist heute ungewiss, sicher ist, dass die Schwyzer schon vorher Widerstand leisteten. Auslöser war ein Streit um Weideland zwischen dem unter Habsburger Protektorat stehenden Benediktinerkloster Einsiedeln und den Schwyzer Bauern, der sogenannte Marchenstreit, in dessen Verlauf der Konstanzer Bischof einen Kirchenbann verhängte. Der Überfall auf das Kloster mit Plünderung und Schändung der Kirche sowie die Parteinahme der Schwyzer für den Wittelsbacher Ludwig den Bayer gegen den Habsburger Friedrich den Schönen nach der Doppelkönigswahl 1314 taten ein Übriges.

    Charles Lewinskys knapp 700 Seiten umfassender Roman "Der Halbbart" spielt genau vor diesem historischen Hintergrund. Allerdings weiß der Ich-Erzähler der Geschichte, der Bauernbub Eusebius, genannt Sebi, wenig über die große Politik. Er, der weder zum Bauer, noch zum Handwerker, Totengräber, Mönch oder Soldaten taugt und darüber fast zu verzweifeln droht, berichtet von den Geschehnissen rund um sein Dorf. Zunehmend spüren die einfachen Menschen die Auswirkungen des Marchenstreits und des Kirchenbanns, erleben die Rückkehr verrohter Söldner aus Italien und lassen sich zum Überfall auf das Kloster anstacheln. Auch Sebis Familie ist gespalten: Während sein besonnener, herzlicher Bruder Origenes, genannt Geni, der bei Waldarbeiten für das Kloster ein Bein verloren hat, beim Landammann Werner Stauffacher in Schwyz für eine friedliche Beilegung des Konflikts eintritt, ist Polykarp, genannt Poli, ein unüberlegter, kriegslüsterner Hitzkopf.

    Der Ton macht die Musik
    Meine Faszination und durchgängige Lesefreude speisten sich vor allem aus der Figur des Sebis, des „Finöggels“ (Mimöschens), „Ins-Hemd-Scheißers“, und aus seiner munteren Erzählweise. Im Perfekt, manchmal umgangssprachlich Grammatikregeln missachtend, durchsetzt mit Helvetismen, für die man ein - nicht unbedingt notwendiges - Glossar im Internet findet, tut er, was er am besten kann und im Laufe des Romans als seine Bestimmung erkennt: Geschichten erzählen. Sein Vorbild ist das Teufels-Anneli, das im Winter über die Dörfer zieht und Unterhaltung gegen Bewirtung bietet. Auch Sebi weiß als großartiger Beobachter und aufmerksamer Zuhörer viel zu berichten, Wahres und Erfundenes. Mit seinem immer sicherer werdenden Gespür für Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge, Heuchelei und Vorurteile formuliert er treffsicher, bisweilen humorvoll:

    "Wenn man einmal mit dem Gehorchen aufgehört hat, fällt einem das Sündigen bei jedem Mal leichter." (S. 180) 

    "Es heißt, dass die Bereitschaft zur Wohltätigkeit mit jedem Schritt von der Kirche weg abnimmt." (S. 295)

    "Aber die Gerechtigkeit, das habe ich gelernt, ist mehr eine Sache für die Predigten als für die Wirklichkeit." (S. 330)

    Auf schmerzliche Art muss er zuletzt aber auch von den Gefahren des Geschichtenerzählens und vom möglichen Missbrauch erfahren.

    Ein Fremder mit dunkler und heller Seite
    Fehlt noch der titelgebende Halbbart, dessen eine Körper- und Gesichtshälfte verbrannt sind. Sein Auftauchen im Dorf und sein Ende rahmen die 83 Kapitel ein, er wird zum weisen Ratgeber für Sebi, enthüllt stückweise seine tragische Geschichte, erfindet mit der Hellebarde die gefährlichste Waffe des Mittelalters und wird zuletzt Opfer seiner Rachgier.

    Intelligente Unterhaltung
    Mittelalter-Romane mit Wanderhuren meide ich und ein Band aus Ken Folletts Kingsbridge-Reihe war mehr als genug. "Der Halbbart" hat mir dagegen viel Spaß gemacht. Zurecht stand der intelligent unterhaltende Roman auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 und liegt aktuell noch im Rennen um den Schweizer Buchpreis.

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  1. Freie Berufswahl...

    ...ist nicht selbstverständlich für den 12jährigen Eusebius, schon gar nicht, als er doch Anfang des 14. Jahrhunderts in einem Dorf nahe dem Kloster Einsiedeln aufwächst, früh Mutter und Vater verliert und der älteste Bruder, zum Krüppel geworden, die Familie nicht zusammenhalten kann. Origenes, kurz Geni, verletzte sich am Bein bei einem verunglückten Baumeinschlag in den Klosterwäldern.

    Der Halbbart, der sich vor kurzem über Schmugglerwege ins Dorf geschlichen hat, seinen wahren Namen nicht preisgibt und auch nicht darüber sprechen will, wie er zu seinem halben Gesicht kam, erkennt die Symptome des Wundbrands und rät zur Beinamputation. Die Operation gelingt, Genis Leben ist gerettet und das Vertrauen der Dorfbwohner zu diesem merkwürdigen Fremden halbwegs gewonnen.

    Der dritte Bruder im Bunde, ist Poli (kurz für Polykarb). Er ist der Draufgänger in der Familie, rauft sich mit Freunden zusammen und will sich für das Unglück im Wald am Klerus rächen und das Joch der Habsburger Unterdrückung abstreifen.

    Wir sind mittendrin im Marchenstreit, der schon um 1100 begann, als die Schwyzer Land rodeten, welches dem Kloster Einsiedeln vom Kaiser zugesprochen war und nun langsam seinem Höhepunkt entgegensteuert. In dieser Kulisse steht nun Sebi, zur Feldarbeit, oder gar zum Soldatenleben nicht geeignet. Von einem kurzen, aber sehr eindrücklichen Aufenthalt im Kloster, flieht er schließlich, versteckt sich und wird dann doch irgendwann wieder in die Streitigkeiten hineingezogen.

    Mehr und mehr wird dem Jungen klar, was er in seinem Leben machen möchte. Er will so sein, wie das Teufels Annelie, die im Winter von Dorf zu Dorf zieht und für eine Schüssel warmes Essen den Leuten die dunklen Abende mit Geschichten füllt.

    Lewinsky nimmt mit seinem Roman diese Erfüllung vorweg. Der Autor lässt den Sebi diese Geschichte erzählen, lässt ihn die Welt so sehen, wie es für ihn in seinem Alter möglich ist, und aus der Sicht der Dinge, die er erlebt hat. Das Mittelalter mit all seinen Grausamkeiten wird abgemildert durch den Umstand, dass Sebi eben genau ein Kind dieser Zeit ist, aber auch nicht vor Ungemach verschont bleibt. Wofür er keine Worte findet, das umschreibt er grandios, saugt mit seinem Verstand alles in sich auf. Mit den Erzählungen des Halbbarts ergibt sich für den Leser ein komplexes Abbild des mittelalterlichen Lebens.

    Was dieses Buch wirklich lesenswert macht, sind die großartigen Lebensweisheiten, eingebettet in einer wunderbaren Sprache mit Lokalkolorit, vor dem Hintergrund einer wahren Geschichte. Kein Fädchen, egal ob am Anfang, oder am Ende gesponnen, wird liegengelassen und ergibt schlussendlich ein erinnerungswürdiges Bild voller stimmiger Details.
    Dem unverbesserlichen Wortspieler Lewinsky kommt man nach und nach auf die Spur und den ein, oder andere Blick ins Wikipedia-Lexikon lohnt sich allemal. Trotz seiner fast 700 Seiten liest sich dieses Buch sehr flüssig. Es gibt keine Zeitsprünge und er Sebi bleibt uns als Erzähler bis zuletzt treu. Die kurzen Kapitel lassen Zeit zum Luftholen für den nächsten Sprint in die handlungsreichen Ablauf. Erzählkunst at its best!

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  1. Geschichte live

    Eigentlich habe ich mit Mittelalterromanen abgeschlossen, alle Hebammen, Berufsstände, Bauwerke, Minnesang und auch die Tafelrunde hinreichend gelesen. Da kommt so ein Halbbart, setzt sich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und lacht. Da muss man ihn doch lesen, oder?

    Dieses Buch ist anders, das merkt man direkt nach den ersten Sätzen. Hier erzählt der 12jährige Sebi, von sich, seiner Familie, seinem Dorf und wie er den Halbbart kennengelernt hat in einer Sprache, die ich so noch nie gelesen habe, spaßig, warmherzig, klug, irgendwas zwischen schweizerisch, naiv und altertümlich, auf jeden Fall originell und lebendig.

    Er ist ein Exot, dieser Halbbart, ein Fremder, gezeichnet, und wird, obwohl viel älter, Sebis Freund und Berater, aber eigentlich geht es gar nicht so sehr um ihn.
    „Der Halbbart“ erzählt von den Kindertagen der Schweiz, vom Leben im Mittelalter und vom Marchenstreit, wo sich der Klerus und die Habsburger um Ländereien stritten und die Schwyzer es ausbaden mussten. Dabei kümmert man sich nicht um große Politik oder hohe Herrschaften, sondern erzählt die Ereignisse aus Sicht der kleinen Leute, wodurch man alles fast am eigenen Leib erfährt. Geschichte live, wir sind mittendrin im tiefsten Mittelalter, das sich, obwohl schon hundert Mal gelesen, plötzlich ganz anders anfühlt. Eine Zeit voller Willkür, Aberglaube und Grausamkeiten.

    Dann geht es noch um Geschichten. In einer Zeit, wo kaum jemand lesen kann, haben Geschichten einen ganz anderen Stellenwert als heutzutage. Da wird das Teufels-Anneli heiß erwartet, die fahrende Geschichtenerzählerin, die Legenden spinnt und uns zeigt, wie aus Geschichten Geschichte werden kann. Habt ihr gewusst, dass die Schweizer eigentlich Schweden sind?

    Dieses Buch macht Spaß und zeigt, wie historische Romane sein sollten. Es ist eine tolle Mischung aus Humor und grausig Realistischem, gespickt mit klugen Einwürfen. Immer wieder bekommt man witzige Weisheiten serviert. „Wenn einer zu viel Mut hat, habe ich einmal sagen hören, bleibt kein Platz für den Verstand.“

    Es ist wirklich ausführlich und man kann es langatmig finden, nur hat mich das hier überhaupt nicht gestört. Ich hatte viel Spaß und habe viel gelernt und empfehle sehr gerne dieses ungewöhnliche Buch.

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  1. Der Marchenstreit. Historisch geht auch ohne Schwulst

    Wir befinden uns mit der Erzählung von Charles Lewinsky in einem heute in der Schweiz liegenden Dorf in der Nähe des Klosters Einsiedeln. Das Kloster hat einen Streit mit den umliegenden Dörfern über einige Almen, Wiesen, Waldgebiete. Wem gehört was? Der Fürstabt pocht auf Dokumente, die die Mehrzahl der Dorfleut aber erstens nicht lesen können, und zweitens, die der Fürstabt auch nicht zum Lesen herausrückt. Es geht hin und her und eines Tages eskaliert der sogenannte „Marchenstreit“.

    Im Mittelalter geht es immer um Macht und Pfründe auf der einen Seite, nämlich auf der Seite der Herrschenden, und auf der anderen, nämlich der Bauern und Handwerker, ums Überleben. Um das Sattwerden. Und auch um das Seligwerden, denn die Religion spielt eine entscheidende Rolle.

    Unser Held, den Charles Lewinsky mit Ernst und Laune entworfen hat, der aufgeweckte Junge Eusebius, Sebi genannt, wächst sowohl mit dem heiligen katholischen Glauben wie auch mit dem Unglauben, nämlich mit einer gehörigen Portion Aberglauben in einer instabilen Familie auf. Denn der Vater ist lange tot und die Mutter bringt ihre drei Söhne alleine durch. Das bedeutet in der ländlichen Gegend: jede Menge Feldarbeit. Zwei wesentlich ältere Brüder stehen ihm zur Seite, der Poli, der cholerisch ist, aber stark und der Geni, der klug ist und dem Sebi sein Trost.

    Jaja, der Dativ. Das ist beabsichtigt. Lewinsky lässt Sebi reden. Der Sebi redet halt so. Er hat ein gutes Gedächtnis, so dass er uns, den Lesern, auch mit den lateinischen Zitaten aus der Heiligen Schrift und der Messelesungen kommen kann, er nacherzählt sämtliches Hörensagen im Dorf und Drumherum und kommentiert es mit seinen eigenen Gedanken. Dabei wird ihm klar, dass vieles, was ihm der Aberglaube zu diktieren schein, unmöglich wahr sein kann.

    Eines Tages kommt der Halbbart in das Dorf. Das ist ein älteres Mann, dem nicht das Leben, sondern seine Mitmenschen übel, sehr übel mitgespielt haben. Überhaupt ist das Mittelalter nicht zimperlich. Da wird gefoltert, gehauen und gestochen, diffamiert und verleugnet, ausgegrenzt. Wer keinen festen Platz hat, der hat es schwer.

    Der Halbbart wird für den Sebi wichtig. Denn er ist herumgekommen und weiß manches, was die Dorfbewohner nicht wissen. So erweist er sich als begnadeter Heiler und gewinnt das Herz vom Sebi, dem er auch das „Schachzabel“ beibringt.

    Was sonst noch vom Sebi, seinen Brüdern und dem Halbbart und den Herrschern seiner Zeit zu erzählen sei und wie der Marchenstreit ausgegangen ist, wer gefallen ist und wer überlebt hat, das lest selber.

    Charles Lewinsky hat in seinem Roman das Mittelalter aus Sicht der kleinen Leute aufleben lassen, dabei beweist er bei allem Ernst der schwierigen Lebenssituation seiner Helden eine leichte Hand und kreiert echte Charaktere, in die man sich verliebt. Man liest den über 600seitigen Roman gerne, der selbstredend, wie alle gute Literatur ohne Phrasen und Füllselworte auskommt, und lauscht dem Sebi und dem Teufels-Anneli, wenn sie im Sommer durch die Lande zieht und Geschichten über Geschichten erzählen. Dabei kommen Lebensweisheiten und Humor nicht zu kurz. Ganz nebenbei wird deutlich, wie Geschichtsschreibung entsteht oder auch, wenn man es einmal nicht mehr so genau weiß, wie Legendenbildung geschieht.

    Zitate:
    „Wissen ist immer nützlich, auch wenn man nie im Voraus wissen kann, für was es sich einmal brauchen lässt.“
    „Mit dem Fuchs kann man hundert Friedensverträge abschließen, in den Hühnerhof einladen darf man ihn trotzdem nicht.“
    „Man findet vieles nur deshalb lächerlich, weil man es nicht gewohnt ist“.

    Was fehlt, ist ein Nachwort, in dem die Einpassung des Geschehens in die Historie und in die Zeit erfolgt.

    Fazit: Der Halbbart ist ein Mittelalterschmöker ohne den üblichen Schmu. Auf hohem literarischen Niveau, aber mit großem Unterhaltungswert, wird ein kleiner Abschnitt schweizerischer Geschichte liebenswert und kunstfertig aufbereitet.

    „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky steht völlig zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

    Diogenes, 2020
    Kategorie: Belletristik. Historischer Roman.

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  1. Alltagsgeschichte(n) aus dem Mittelalter

    Sebi, eigentlich Eusebius, ist der Protagonist des Romans, der im Jahr 1313-1315 in der Schwyz spielt. Aus der Sicht des 12jährigen Jungen erleben wir den Alltag im Mittelalter, in einer Zeit, in der die neue Eidgenossenschaft sich im Marchenstreit mit dem Kloster Einsiedeln befindet. Die historischen Zusammenhänge kann man teilweise aus dem Kontext erschließen, allerdings muss man, will man Näheres wissen, selbst recherchieren.
    Für Sebi spielt das alles zunächst keine Rolle, viel spannender ist, dass ein Fremder im kleinen Dorf auftaucht.

    "Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da." (9)

    Keiner weiß es genau zu sagen, aber es ranken sich viele Geschichten darum, wie er sich am Rande des Dorfes niedergelassen hat.

    "Also, der Halbbart. Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen." (13)

    Woher diese Verbrennung kommen, will der Sebi gerne wissen, aber er muss Geduld haben, bis der Halbbart seine Geschichte vollständig erzählen will und kann. Sebi freundet sich mit dem Fremden an, der medizinisch versiert ist und ihm "Schachzabel" beibringt. Die meisten Helvetismen versteht man, ohne das Glossar (www.diogenes.ch/halbbart) zu Rate zu ziehen, da sie sich aus dem Kontext ergeben und für zusätzlichen Lesegenuss sorgen.
    Zu Beginn der Geschichte wird der Streit mit dem Kloster Einsiedeln bereits angedeutet, da sich Sebis Bruder Geni beim Roden verletzt - eine Arbeit, zu der sie vom Kloster aus gezwungen werden.

    "wir sind keine Eigenleute, aber der Wald gehört ihnen, auch wenn wir ihn nutzen dürfen, und wenn sie rufen, müssen wir kommen." (19)

    Genis Bein bricht und die Heilkünste der im Dorf ansässigen Iten-Zwillinge führen fast dazu, dass er stirbt. Der Halbbart schlägt Sebi vor, dass Bein abzusägen - ein Vorschlag, den der mittlere, hitzköpfige Bruder Poli sowie Sebis Mutter ablehnen. Doch letztlich willigen sie ein, dass der Eichenberger, der als reicher Mann "Metzgete machen [kann], wann immer [er] Lust auf eine Blutwurst [hat]" (46) und folglich mit dem Messer umzugehen gelernt hat, das Bein abschneidet.
    Lewinsky schont die Leser*innen nicht und schildert detailreich, was eine Amputation im Mittelalter bedeutet hat. Gut, dass die Kapitel recht kurz sind und oft zu Beginn das Ende des Abschnittes vorweg genommen wird, was geschieht. Erst danach erzählt der Sebi, was er gehört oder selbst miterlebt hat. So ist man schon mal vorgewarnt.

    Sebi bezeichnet sich selbst als Finöggel - ein zartes Persönchen, daher möchte er am liebsten ins Kloster, um lesen und schreiben zu lernen.
    Ein Wunsch, der für ihn in Erfüllung gehen wird, wobei sich herausstellt, dass das Leben im Kloster nicht das ist, was er erwartet hat, so dass sein weiterer Weg einige unerwartete Wendungen einschlägt.
    Neben der sympathischen Figur Halbbart, der sich im Dorf niederlässt und sich mit dem Genibefreundet und dessen Name noch eine interessante Rolle spielen wird, ist es das Teufels-Anneli, das besonders fasziniert. Kommt das Teufels-Anneli ins Dorf, ist Sebi nicht zu halten. Im Winter, wenn es keine Arbeit draußen gibt, wandert sie über die Dörfer und erzählt Geschichten vom Teufel - gegen ein gutes Essen. Sebi findet, "sie hat den wunderbarsten Beruf auf der ganzen Welt." (116)

    Und um kleinere und größere (Alltags-)Geschichten geht es in diesem Roman, der uns das Leben der "einfachen Menschen" im Mittelalter atmosphärisch vor Augen führt, gerade weil aus der Sicht des jungen Sebi erzählt wird, der mit seiner Interpretation der Ereignisse oft ins Schwarze trifft. Sicherlich beeinflussen der Halbbart und der Geni, die meistens vernünftig und besonnen agieren, ihn positiv.
    Obwohl man es eigentlich weiß, erstaunt es doch, welcher Aberglaube vorgeherrscht hat, der tief in den Menschen verankert zu sein scheint. Dem Sebi macht am meisten zu schaffen, dass ein ungetauftes verstorbenes Baby nicht in den Himmel kommen kann, sondern im Limbus verweilen muss - eine Art Zwischenwelt, weder Himmel noch Hölle. Und doch findet er eine Lösung, so wie er oft clevere Ideen hat und die Leser*innen mit seinen Lebensweisheiten und -einsichten überrascht.
    Er bewertet das, was er von anderen gehört hat und das was an Geschichten erzählt wird, wird irgendwann Geschichte werden - wie es auf dem Buchrücken so treffend heißt.

    Ein empfehlenswerter Roman für alle diejenigen, die sich für Alltagsgeschichte(n) interessieren. Die geschichtlichen Fakten muss man, wenn es einen interessiert, nachlesen. Da hätte ich mir ein Nachwort mit eben jenen gewünscht, das ist aber auch der einzige Kritikpunkt am Roman ;)

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  1. Reise ins grausige Mittelalter...

    Aufmerksam geworden bin ich auf diesen Roman aufgrund der Buchpreisnominierung. Gebannt begann ich zu lesen.

    In der Geschichte geht es um den etwa Zwölfjährigen Sebi, der am liebsten Geschichten hört und auch gern selber Geschichten erzählen würde. Er träumt gern vor sich hin, doch ist das gut in Zeiten des düsteren Mittelalters?

    Der Roman besticht vor allem durch seine Sprachgewalt, denn der Erzählstil und die verwendeten Worte sind einfach nur schön. Ich habe mir viele kluge Sätze notiert.

    Sebi fungiert als Ich- Erzähler und war mir bereits auf den ersten Seiten sympathisch, da ich mich sehr gut mit ihm identifizieren konnte. Als Kind und manchmal auch heute noch, träume ich mich gerne mal weg und vergesse die Welt um mich herum. Unser Eusebius hat ein Talent für das Beobachten und Werten vom Verhalten anderer. Hier hatte man oft das Gefühl, dass er längst erwachsen ist, was vielleicht an der rauen Zeit liegt, in der er groß wird.

    Seine beiden Brüder könnten unterschiedlicher kaum sein. Während ich Geni sehr bewundert habe wie er mit seinem Schicksal umgeht, so habe ich Poli so manches Mal verwünscht für seine gewalttätige Art.

    Meine absolute Lieblingsfigur hingegen war der Namensgeber des Buches: der Halbbart. Er ist ein Mensch mit sieben Siegeln. Manche Geheimnisse um ihn werden gelüftet, als Leser ist man fasziniert von ihm und seinem Schicksal. Leider verblasst er im Verlaufe der Geschichte immer mehr und ich habe nicht alles erfahren was ich mir gewünscht hatte. Und die Andeutungen waren meines Erachtens zu wenig, um sich als Leser seine Geschichte selbst weiterspinnen zu können.

    Besonders eindrücklich ist es dem Autor gelungen das Mittelalter darzustellen, denn es ist von Grausamkeiten und Entbehrlichkeiten geprägt. Ich musste ein ums andere Mal schlucken was die Figuren des Romans so aushalten müssen.

    Während ich bis ungefähr zur Mitte des Buches richtig Freude an der Geschichte hatte und kaum aufhören konnte zu lesen, ließ sich die Lektüre mit der Zeit immer beschwerlicher lesen und ich kann gar nicht genau sagen wieso. Irgendwie fesselte mich das Erzählte nicht mehr so sehr, ich brauchte lange, um das Gelesene zu verarbeiten und oft liefen angefangene Erzählstränge irgendwie ins Leere.

    Und so verbleibe ich nach der Lektüre etwas ratlos zurück. Selten musste ich so lange über einer Rezension sitzen, eh mir die richtigen Worte einfielen. Der Roman ist gewiss nicht schlecht, hat meine Erwartungen einfach nur bedingt erfüllt.

    Fazit: Sprachlich eine Wucht, zum Schluss etwas zäh. Als Leser wird man immer wieder gefordert, das muss man mögen. Ich spreche dennoch eine Empfehlung aus, weil mich die Lektüre sehr nachdenklich gestimmt und mir einiges abverlangt hat.

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