Der Aufgang

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Aufgang' von Stefan Hertmans
3.75
3.8 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Aufgang"

Als Stefan Hertmans sich zum Kauf eines alten Hauses in Gent entschließt, ahnt er nichts von den Geschichten, die sich hinter dessen Mauern abgespielt haben. Er macht sich auf die Suche nach den Spuren der früheren Bewohner und entdeckt die fesselnde Geschichte eines SS-Offiziers und dessen pazifistischer Frau. Angetrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Verständnis, tastet sich Hertmans an diese Figuren heran und beleuchtet damit zugleich die Tragödie eines ganzen Landes.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:480
Verlag: Diogenes
EAN:9783257071887

Rezensionen zu "Der Aufgang"

  1. Die Geschichte hinter dem Haus

    "Der Aufgang" ist das erste Werk aus der Feder von Stefan Hertmans, das ich las. Ich ging mit der Erwartungshaltung an die Lektüre, dass ich eine Art psychologische Miniaturstudie in den Händen hielt, in der ich viel erfahren würde über Motive und Hintergründe eines NS-Kollaborateurs, der in der NS Zeit das Haus bewohnte, das später in Hertmanns Besitz gelangte. Dabei hätte es mich nicht gestört, wenn die historischen Fakten mit fiktiven Elementen verwoben worden wäre. Da ein Roman ein fiktionales Werk ist, darf ein Roman dies meines Erachtens. Um es vorwegzunehmen: Diese Erwartungshaltung hat sich nicht erfüllt. Zwar steht die Person des SS- Offiziers Willem Verhulst im Vordergrund der Geschichte. Doch anstelle eines psychologisch dichten Romans über die Motive und Beweggründe für sein Handeln, erwartet die Leserschaft hier eine Art Reportage über alles, was der Autor Hertmans via Recherche über die Person Verhulst in Erfahrung bringen konnte. Wenn man so will, ist die Einordnung als Roman streng genommen also ein Etikettenschwindel. Ich bin darauf "reingefallen" und muss zugeben, dass ich das Buch wohl eher nicht gelesen hätte, wäre mir bewusst gewesen, dass es sich eher um eine nüchterne und vergleichsweise trockene Schilderung gesammelter Fakten handelt. Doch worum geht es genau?

    Stefan Hertmans entschließt sich ein altes Haus in Gent zu kaufen, von dessen Vergangenheit und Geschichte er nichts ahnt. Das Haus ist recht herunter gekommen, was zu Beginn des Buches auch recht bildhaft und atmosphärisch vermittelt wird. Als er erfährt, dass darin zur NS-Zeit ein SS-Offizier mit seiner Familie wohnte, beginnt er Nachforschungen anzustellen. Er wird angetrieben von dem tiefen Bedürfnis nach Verständnis. So sammelt er Dokumente aller Art und führt Interviews mit den noch lebenden, inzwischen ins Alter gekommenen Kindern von Willem Verhulst. Alle gesammelten Materialien trägt er zusammen und verarbeitet diese in "Der Aufgang". Dabei geht er zunächst zurück in die Kindheit Willems, die alles andere als leicht war. Willem leidet unter einer Augenkrankheit und büßt Sehkraft ein, in der Schule wird er gemobbt; auch muss er den Tod seiner Mutter früh verkraften. Er lernt Ungerechtigkeit und Brutalität kennen, was ihn sicher mitgeprägt hat. Im Laufe des Lebens jedoch begegnet er auch wohlwollenden Menschen; insbesondere Frauen zeigen ihm gegenüber durchaus Interesse. 

    Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet er recht bald Mien. Aufgrund der politischen Umstände in Belgien und Veränderungen ihres Mannes, merkt sie bald, dass etwas im Gange ist. Die Familie zieht in das besagte Haus, wo fortan SS-Kollegen ein und ausgehen. Mien versucht, diese Seite ihres Lebens vor den Kindern abzuschirmen. Während die politischen Umstände Willem schleichend zu dem gemacht haben, der er ist, nimmt seine politische Gesinnung nun immer deutliche Konturen an. Vieles davon erfährt man auch im Rückblick, als Willem für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden soll... 

    Mehr verrate ich an dieser Stelle nicht. Wie gesagt, ging ich mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Lektüre heran, die so nicht erfüllt wurde. Dennoch muss man Hertmans zugestehen, dass er diese Geschichte rund um Willem sehr gut recherchiert hat. Es wird wirklich sehr viel an Materialien zusammen getragen, um ein möglichst präzises Bild von Willem zu zeichnen. Phasenweise ist die Erzählung dabei besonders atmosphärisch, zum Beispiel bei der Beschreibung des herunter gekommenen Hauses: Man glaubt fast, den Schimmelgeruch in der Nase zu haben, von dem das Gebäude durchdrungen ist. Als Reportageroman verdient "Der Aufgang" sicher Anerkennung. 

    Erwartet man jedoch einen Roman, wie es bei mir der Fall war, fallen vor allem auch Leerstellen auf: Was macht die Person Willem Verhulst im Vergleich zu anderen "zweifelhaften Gestalten der NS-Zeit" zu einer besonderen, über die es sich lohnt, zu detailliert zu berichten? Wie ist Willem zu dem geworden, der er letztlich war? Wie sieht sein Innenleben aus? Was hat ihn angetrieben? Ich hätte gerne mehr psychologischen Tiefgang gehabt. 

    Selbstredend ist wohl, dass man sich schwer tut, Sympathien für Willem zu entwickeln. Abgesehen von zweifelhaften Taten und mangelnden Einsichten, stieß mir insbesondere sein Verhalten gegenüber seiner Frau Mien auf. Mit dieser wiederum habe ich mitgefühlt, konnte aber die vielen Zugeständnisse, die sie macht, auch nicht immer verstehen - selbst unter Berücksichtigung des Frauenbildes zu dieser Zeit. 

    Insgesamt ist "Der Aufgang" ein Werk, das ich teils sehr gut und atmosphärisch geschrieben, teils aber auch sehr langatmig und auch langweilig empfand. Wer sich für die Lektüre des Werkes interessiert, sollte sich vorher klar machen, dass es sich nicht um einen konventionellen Roman handelt, sondern mehr um eine sehr detailgetreue Berichterstattung, wie sie für eine Reportage typisch ist. Ich denke, hier ist besonders entscheidend, mit welcher Erwartungshaltung man an die Lektüre herangeht. 

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  1. Ein flämischer Kollaborateur

    Im Spätsommer 1979 sieht Stefan Hertmans bei einem Spaziergang ein heruntergekommenes Haus im Genter Stadtviertel Patershol, das ihn gleich anzieht. Noch am gleichen Tag vereinbart er einen Besichtigungstermin und kauft das baufällige Objekt dann. Erst viele Jahre später erfährt er, dass er zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hat. Er macht sich auf die Suche nach Spuren der früheren Bewohner.
    Dieses Buch ist eine Mischung aus Roman und Biografie. Der Autor Stefan Hertmanns hat akribisch recherchiert und konnte dabei auf Tagebücher, Briefe und andere Dokumente zurückgreifen. Außerdem befragte er die Kinder von Willem Verhulst. Dazu gibt es Fotos, die dem Leser einen zusätzlichen Eindruck verschaffen. Es gibt dabei Lücken, die gekennzeichnet sind und die der Autor nicht durch Vermutungen füllt. Der Schreibstil ist sehr unterschiedlich. Die Beschreibung des Hauses und der Umgebung ist bildhaft und atmosphärisch, so dass ich gleich abgeholt wurde. Ich hatte die Bilder vor Augen und den Geruch des modernden Hauses in der Nase. Doch als er auf die Geschichte der früheren Bewohner stieß, ging das leider verloren und werde eher sachlich berichtend.
    Im Focus der Geschichte stehen Willem Verhulst und seine Frau Harmina, genannt Mien. Der Flame fühlt sich schon als Kind gegenüber den französisch sprechenden Wallonen benachteiligt und schließt sich einer radikalen Gruppierung an. Er ist schwierig, ich-bezogen und rücksichtslos. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, fühlt er sich von deren Ideologie angesprochen und wird zum willigen Kollaborateur. Er strebt nach oben, ringt um Anerkennung, denunziert und bringt viel Leid über seine Mitbürger. Dabei macht er sich selbst nicht die Finger schmutzig, kann es sogar kaum ertragen, wenn die Menschen gefoltert werden. Selbst am Ende seines Lebens bereut er seine Taten nicht. Seine zweite Frau Mien ist mit seinem Tun nicht einverstanden und findet ihren Weg, ihm Widerstand zu leisten. Sie ist eine starke Frau, die sich durchkämpft und alles für ihre Familie tut und dabei die Eskapaden von Willem erträgt.
    Mir wurde das oft zu ausschweifend beschrieben, so dass die Geschichte doch einige Längen hatte. Am Ende dagegen sind viele Informationen noch untergebracht, die dem Autor nach seinen umfangreichen Recherchen wohl erwähnenswert erscheinen.
    Ein interessantes und informatives Buch, das ich vielleicht nicht mit Begeisterung, aber gerne gelesen habe.

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  1. Belgische Geschichtsstunde

    Aus einem Impuls heraus erwirbt der Ich-Erzähler 1979 ein altes Patrizierhaus im Genter Altstadtviertel Patershol, einem Stadtteil, gegen dessen Abriss er in den 1960er-Jahren protestierte. Den heruntergekommenen Zustand nimmt er zur Kenntnis, doch halten Schimmel, Feuchtigkeit, Moder, ein vollgelaufener Keller und Ratten ihn nicht ab:

    "Das alles nahm ich mit Schrecken und mit Begeisterung wahr, denn etwas in mir ahnte bereits, dass ich dem Haus nicht würde widerstehen können." (S. 165)

    Ein geschichtsträchtiges Haus
    Erst nachdem er es 20 Jahre später wieder verkauft hat, beginnt er, sich intensiver mit einem der früheren Mieter auseinanderzusetzen, dem SS-Mann, Kollaborateur und Kriegsverbrecher Willem Verhulst, Vater seines ehemaligen Geschichtsprofessors. Fortan lässt ihn die Lebensgeschichte von Willem Verhulst und seiner Familie nicht mehr los. Er sucht dessen noch lebende Töchter auf, liest Gerichtsakten, Tagebücher und Lebenserinnerungen verschiedener Familienmitglieder und bereist wichtige Schauplätze aus deren Biografie. "Der Aufgang" ist daher mehr Dokumentation als Roman und spürbar das Ergebnis jahrelanger akribischer Recherchearbeit.

    Äußerer Rahmen ist die Hausbegehung mit dem Verkäufer, dem Notar De Potter, dessen Vater nicht nur Verhulsts Vermieter, sondern auch sein Anwalt im Kriegsverbrecherprozess von 1947 war. So wird der Gang von unten nach oben durchs Haus zu einem Gang durch ein bewegtes Leben.

    Vom Flaminganten zum SS-Spitzel
    Willem Verhulst wurde 1898 bei Antwerpen als Sohn eines Diamantschleifers geboren. Der Verlust der Sehkraft auf einem Auge, der frühe Tod der Mutter und die Rivalität mit den franko-belgischen Bürgersöhnen begründeten seinen Minderwertigkeitskomplex, der ihn anfällig für radikale Ideen machte. Sein Hass auf den belgischen Staat führte ihn in radikale proflämische Kreise, seine Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung nach der Besetzung Belgiens zur SS. Als „Schreibtischtäter“, Spion und V-Mann schickte er eine unbekannte Anzahl von Juden, Widerständlern und Freimaurern in den Tod. Obwohl zunächst zum Tode verurteilt, saß er nach dem Krieg nur wenige Jahre in Haft, radikalisierte sich dort sogar noch und blieb bis zu seinem Tod 1975 unbelehrbar.

    Verhulst und seine Frauen
    Nach dem frühen Tod seiner jüdischen Frau Elsa Meissner heiratete er die niederländische Großbauerntochter Harmina Wijers, genannt Mientje. Obwohl sie als streng gläubige Calvinistin und Pazifistin Willems politische Überzeugungen nicht teilte und unter dessen langjähriger Geliebter Greta Latomme, genannt Griet, litt, blieb sie ihm bis ihrem Tod 1968 verbunden. Anders als der Egozentriker, Blender und zum Jammern neigende Verhulst war Mientje warmherzig, gütig, zupackend und intelligent und sorgte aufopferungsvoll für die drei Kinder, die „mit der Bürde des Vaters auf den Schultern“ (S. 177) leben mussten.
    Dritte Ehefrau wurde nach Mientjes Tod seine Geliebte Griet, eine Gesinnungsgenossin, die ihm die von Mientje versagte Bewunderung schenkte. Sie starb 2003 mit einem Hitler-Porträt an ihrer Wand, von belgischen Rechtsradikalen betrauert.

    Empfehlenswert
    Ich habe "Der Aufgang" gern gelesen als klar strukturiertes, sehr informatives Zeugnis über einen belgischen Nazi-Kollaborateur, inhaltlich vergleichbar mit "Vergesst unsere Namen nicht" von Simon Stranger über einen ähnlichen Fall in Norwegen. Der Wechsel zwischen atmosphärischer Hausbeschreibung und nüchterner Biografie gefiel mir gut. Obwohl der knapp 380 Seiten starke Roman mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Bildchen in Deutschland sicher nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommt wie in Belgien, halte ich das Thema für relevant und mit dem bis heute schwelenden flämisch-wallonischen Konflikt leider auch für aktuell.

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  1. Der Lebensweg des Willem Verhulst

    Stefan Hertmans, Autor und in diesem Fall ebenfalls Erzähler, berichtet in seinem Buch über ein Haus in Gent und dessen Bewohner. Er selbst kaufte 1979 besagtes Haus und war sich der Brisanz der Geschichte, die sich dort ereignete, erstmal gar nicht bewusst.
    Das Haus wirkt düster, kalt und heruntergekommen, dennoch übt es bei der Besichtigung einen großen Reiz auf ihn aus, so dass er es kauft. Früher befand das Objekt sich in gehobener Wohnlage, doch diese Zeiten sind längst vorbei.

    Hertmans studierte damals Geschichte bei Professor Aadrian Verhulst, der sich nach dem Kauf als Sohn des ehemaligen Besitzer Willem Verhulst herausstellte. Willem wurde als Kriegsverbrecher verurteilt, da er den Deutschen während des zweiten Weltkriegs geholfen hat Menschen auszuliefern. Er war besessen davon Listen zu führen, mit Namen von Menschen die er denunzieren konnte. Es wirkte fast so, als ob er durch sein Tun endlich eine gewisse Anerkennung bekam, gepaart mit der Uniform, fühlte er sich wohl nur so als gestandener Mann. Seine Ideale entpuppen sich schnell in unseren Augen als fehlgeleitet, doch dass hat er selbst so wohl nie wahrgenommen. Auch seine Geliebte Griet unterstützte ihn Zeit seines Lebens in diesem Denken.

    Wir erfahren anschaulich wie das Leben Willems verlaufen ist. Es beginnt in seiner Kindheit, die nicht gerade einfach war. Seine erste Frau und große Liebe war Jüdin und verstarb nach wenigen Ehejahren. Kurze Zeit später heiratete er wieder und bekam mit dieser Frau, die Mientje oder Mien genannt wurde, drei Kinder. Während der Ehe, die auch den Umzug nach Gent in das Haus mit sich brachte, erfahren wir nach und nach wie es zu seiner Mitarbeit mit den Deutschen gekommen ist.
    Bemerkenswert empfand ich, dass Willems Frau sich nicht hat anstecken lassen von Willems Ansichten. Sie war es, die dafür sorgte, dass die Kinder weitestgehend herausgehalten wurden. Natürlich war dies nur eingeschränkt möglich, denn später wusste natürlich jeder von Willems tun, und er war daher sehr verhasst, was auch die Kinder zu spüren bekamen.

    Das Haus, Schauplatz damals und auch zur Zeit in der Hertmans das Buch schrieb, verkommt im weiteren Verlauf eher zur Nebensächlichkeit. Lediglich der Zustand wird häufig erwähnt, der auch damals schon kalt und modrig war, und die Besichtigung durch Hertmans wird recht ausführlich beschrieben. Einzig der von Mientje gepflanzte Blauregen ist in allen Zeiten präsent, auch noch als Hertmanns Jahre später, das Haus ist nicht mal mehr in seinem Besitz, dort vorbeischaut.

    Der Roman wirkt eher wie eine Biografie, durch die historischen Ereignisse mutet es eher wie ein Sachbuch an. Als Roman würde ich persönlich ihn nicht deklarieren, dennoch fand ich es sehr interessant einmal aus Belgien etwas über diese Zeit zu erfahren. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich viele Wissenslücken in dem Zusammenhang hatte. Ich bin froh nun einiges dazugelernt zu haben.
    Auch wenn mir Willem Verhulst sehr unsympathisch war während des Lesens, ist es doch wichtig, über Menschen wie ihn zu berichten. Dabei kamen dem Autor Tagebücher von Mientje zu Gute und auch die Tatsache, dass die Kinder, vor allem die Töchter, ihm gegenüber gesprächsbereit waren. Teilweise haben sie selbst über diese Zeit und deren Eindrücke geschrieben, so dass ihm ein großes Spektrum an Informationen zur Verfügung stand, die es möglich gemacht haben, so ein umfangreiches Buch zu schreiben. Ein Buch, welches ich gern gelesen habe, und was ich als wichtiges historisches Werk ansehe.

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  1. Ein Aufgang bei dem man auf den Abgang wartet

    Stefan Hertmans biografischer Roman „Der Aufgang“ versucht, dem Leben des flämischen Kollaborateurs Willem Verhulst auf die Spur zu kommen. Ausgelöst wird das Interesse an dieser doch wenig besonderen Figur durch die Tatsache, dass der Erzähler das Haus des SS-Schergen kaufte und selbst dann zwanzig Jahre darin lebte. Außerdem war der Sohn Willem Verhulsts der Professor des Erzählers. So weit, so gut, so interessant. Allerdings löst der Roman das Versprechen einer anregenden, aufschlussreichen Lektüre kaum ein.

    Auf der einen Seite begleitet man den Erzähler immer wieder in Einzelkapiteln bei seiner Hausbesichtigung anlässlich seines Eigentumserwerbs – daher vermutlich der Titel des Romans „Der Aufgang“, denn der Weg durch die Räume führt von ganz unten nach ganz oben, auf der anderen Seite wird man mit Erinnerungen, Interviews, Tagebuch- und Briefauszügen, persönlichen Eindrücken, Gerichtsakten und Polizeiberichten konfrontiert, die allesamt dazu da sind, ein genaueres Bild des Kollaborateurs zu zeichnen. Eingestreut finden sich große Atmosphäre-Momente, die sich meist im Bereich der Hausbesichtigung und zu Beginn der Kapitel finden, diese sorgen sicherlich für eine gewisse Stimmung, sind aber so berechnend eingesetzt, dass sie nicht nur artifiziell wirken, sie richten quasi auch immer wieder den Scheinwerfer darauf, dass der Roman ja eigentlich literarischen Anspruch haben möchte, durch das Versinken in den collageartigen Faktendarstellungen sich aber einer gewissen Grundneutralität und Nüchternheit verpflichtet sieht und so die rechte Balance zwischen beidem (Literatur und Biographie) nicht wirklich findet. Fragmentarisches und collageartiges Erzählen sind ebenso wie Gattungshybridität ganz spannende literarische Möglichkeiten, gerade für einen Roman wie diesen, doch leider klappt es hier in der Umsetzung kaum. Dem Text gelingt es nicht, den Leser fortgesetzt für sein Thema zu interessieren. Statt die Möglichkeiten des Romans zu nutzen und auf fiktionaler Ebene eine nachvollziehbare Verbindung zwischen dem Haus, dem Erzähler und der Familie Verhulst zu erschaffen, verliert sich der Text in zwar offensichtlich gründlich recherchierten, aber wenig interessanten Passagen. Hinzu kommt, dass wenn ganz deutlich mal etwas dazu erfunden wird, es schon recht abstrus anmutet, ebenso wie die zahlreichen Linien, die Nähe und Verbindungslinien schaffen sollen, wo als solche keine tragfähigen existieren.

    Ein Roman, auch ein biographischer, muss sich an seinen Figuren messen lassen. Hier wird auf erwartbare Weise auf Schwarz-Weiß-Zeichnung gesetzt. So erscheinen alle ideologisch mit Willem Verhulst verbundenen Figuren stereotyp eindimensional und auf eine krude Art lächerlich. Auch böse Figuren kann und muss man differenzierter und facettenreicher ausleuchten. Dem gegenüber steht seine religiöse Frau Mientje, die wiederum alles Gute repräsentiert – auch die moralisch erhabenen Figuren haben es verdient, dass man sich mit ihnen eingehender beschäftigt. Leider werden Beweggründe, Motive und Emotionen bei allen Figuren fast vollkommen unkommentiert gelassen, es ist kaum zu verstehen, wieso Willem Verhulst so unangefochten durchs Leben schreiten konnte.

    Meine Leseerfahrung wird im Wesentlichen von großer Langeweile geprägt, es gab zu Beginn des zweiten Teils durchaus einige Kapitel in denen ein gewisser Schwung aufkam und die die Lektüre einigermaßen kurzweilig gestalten, dieses Hoch hielt aber nicht sehr lang an. Besonders der letzte Teil ist zäh und zieht sich, dem Roman geht da das bisschen Luft aus, dass zu dem Zeitpunkt noch vorhanden war.

    Insgesamt kann ich den Roman aufgrund seines großen Langeweile-Potenzials nicht weiterempfehlen. Für mich liegt die Hauptproblematik in der mangelnden Ausrichtung, in dem Verlangen künstlich Verbindungen und Relevanz herzustellen, wo es keine gibt. Sicherlich liegt dem Text umfangreiche Recherchearbeit zugrunde, aber das allein schafft keine interessante Lektüre und rechtfertigt im Grunde auch keine Aufwertung des Urteils. Auch bin ich mir bewusst, dass der Roman ein ausgesprochen wichtiges Thema behandelt, welches gerade auch in Belgien von ungeheurer Bedeutung ist. Aber auch das macht den Roman nicht besser und nicht spannender. Nicht jeder Roman, der ein wichtiges Thema behandelt, ist ein lesbares und literarisches Meisterwerk. Und so ist es hier leider auch.

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  1. 4
    21. Mai 2022 

    Verdrängtes Kapitel belgischer Geschichte

    Das Thema „ Kollaborateure“ ist in allen ehemals von Nazi- Deutschland besetzten Ländern ein gern verdrängtes Kapitel der eigenen Geschichte. So auch in Belgien, in dem Hunderttausende von Flamen mit Hitler- Deutschland kollaboriert haben. Die Flamen erhofften sich damals von den Nazis Unterstützung in ihrem Kampf für die Unabhängigkeit vom frankophonen belgischen Staat.
    Der bekannteste flämische Autor Stefan Hertmans hat sich in seinem neuesten Roman „ Der Aufgang“ dieses Themas angenommen, indem er einen flämischen Kollaborateur zu seinem Protagonisten machte.
    Dieser Willem Verhulst wurde 1898 in einem Ort nahe Antwerpen geboren. Seine Kindheit war überschattet von der Erblindung eines Auges und dem frühen Tod der geliebten Mutter. Von den französischen Bürgerkindern fühlt er sich verspottet und erniedrigt. Schon in jungen Jahren gerät er in Kontakt mit flämischen Nationalisten und radikalisiert sich.
    Er heiratet früh, die ältere Jüdin Elsa, die sich für ihn scheiden lässt. Nach deren Tod heiratet er Mientje, eine fromme Holländerin, mit der er drei Kinder hat.
    Seine Begeisterung für die flämischen Separatisten lässt ihn zu einem Anhänger der Nazis werden und er träumt von einem Anschluss Flanderns an ein groß- germanisches Reich. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen beginnt Willems SS- Karriere. In seinem Haus empfängt er Nazi- Größen und er ist als Denunziant verantwortlich für die Deportation von Juden und zahlreichen Landsleuten in die Konzentrationslager. Kurz vor Kriegsende flüchtet er mit seiner langjährigen Geliebten, einer überzeugten Nationalsozialistin, nach Deutschland. Dort wird er von einer belgischen Widerstandsgruppe aufgegriffen und vor Gericht gestellt. Das Todesurteil wird abgemildert in lebenslange Haft. Doch schon 1953 ist er wieder auf freiem Fuß. Bis zu seinem Tod im Jahr 1975 bleibt er uneinsichtig und zeigt keinerlei Reue.
    Was hat Stefan Hertmans bewogen, einen typischen Schreibtischtäter zu porträtieren? Die Antwort liefert er gleich im ersten Satz: „ Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.“ Geschrieben hatte dieses Buch „ Sohn eines falschen Flamen“ der Historiker Adriaan Verhulst, der einst Stefan Hertmans Professor an der Uni Gent war. Gleich zwei Bezugspunkte, die Hertmans Interesse wecken. Er beginnt ausgiebig zu recherchieren. Dafür hat er Archive durchforstet, Tagebücher und Gerichtsakten gelesen, Orte besucht und mit den beiden noch lebenden Verhulst- Töchtern lange Gespräche geführt.
    Herausgekommen ist ein zwar nüchtern geschriebenes, aber dennoch komplexes Bild von Willem Verhulst. Er ist ein ambivalenter Charakter. Hat man anfangs noch Mitleid mit dem Kind , bewundert ihn dafür, wie er am Sterbebett seiner ersten Frau ausharrt, belächelt sein naives Werben um Mientje, so ändert sich das bald. Die Uniform verleiht ihm Selbstbewusstsein und Macht, die er zu seinem Vorteil einsetzt. Er genießt die Rolle, die er nun spielt, den Umgang mit Ranghöheren. Und er hat keinerlei Probleme damit, zahlreiche Menschen zu denunzieren und sie so in den sicheren Tod zu schicken. Vor Gericht wird er zur weinerlichen Figur, die sich als Patriot und Opfer darstellt.
    Und er betrügt seine Frau, die trotz allem ihr Leben lang zu ihm steht.
    Mientje, eine immer stärker werdende Persönlichkeit , war für mich die eigentliche Heldin des Romans. Sie teilt keineswegs die Ideologie ihres Mannes, im Gegenteil. Sie ist viel weitsichtiger als Willem und hat eine ethische Richtschnur, was ihm zu fehlen scheint. Sie verabscheut Uniformen und bleibt ihren pazifistischen Überzeugungen treu. Ihr Pflichtgefühl der Familie, den Kindern gegenüber und ihre Religion verbieten ihr eine Trennung von ihrem Mann.
    Für Willems Kinder war der Vater eine schwere Hypothek. Anfangs war ihnen natürlich dessen Rolle noch nicht klar, doch als Erwachsene mussten sie sich mit ihm und seinem Tun auseinandersetzen. „ Wie viel Wahrheit kann ein Mensch ertragen, wenn es um den eigenen Vater geht?“
    Stefan Hertmans beschränkt sich aber nicht nur auf die Biografie des Willem Verhulst und dessen Zeit, sondern verknüpft diese Geschichte mit der des Hauses in der Altstadt von Gent, in der er selbst zwanzig Jahre lang gelebt hat und das Jahrzehnte zuvor das Heim der Familie Verhulst war. Er beginnt damit, wie er im Spätsommer 1979 auf ein ehemaliges Patrizierhaus stößt, angelockt vom Duft einer Glyzinie, die, wie wir später erfahren werden, von Mientje gepflanzt wurde. Was hat ihn bewogen, dieses heruntergekommene Haus zu kaufen? Vielleicht der Geruch von Schimmel und feuchtem Gemäuer, das für ihn, wie er leicht ironisch anmerkt, das gleiche sei was die Madeleines für Proust waren.
    Atmosphärisch dicht beschreibt Hertmans das Haus und seine Umgebung. Wir begleiten den Autor mit einem Notar bei der Besichtigung des mehrstöckigen Hauses. Diese Kapitel werden zwischen den chronologisch geschilderten Lebensweg des Willem Verhulst geschoben. So ist der Titel des Romans doppeldeutig zu verstehen. Es meint nicht nur den Aufstieg eines flämischen Kollaborateurs im besetzten Belgien, sondern auch den Aufgang durch die verschiedenen Stockwerke des Hauses.
    Hertmans schreibt sehr gut, einerseits sachlich nüchtern, dann wieder voller Atmosphäre. Das Buch ist eine Mischung aus Biografie und historischem Sachbuch, angereichert mit fiktiven Elementen und Reflexionen des Autors. Emotional nahe kommt einem dabei v.a. Mientje; zu Willem behält der Leser die nötige Distanz. Die zahlreichen Photos im Buch von Personen, Gebäuden und Dokumenten unterstreichen die Form eines Dokumentar- Romans und verleihen dem Buch zusätzliche Authentizität und Anschaulichkeit.
    Trotz mancher Längen habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen. Stefan Hartmans behandelt ein verdrängtes Kapitel der belgischen Geschichte und fügt so der Geschichte des Dritten Reiches eine weitere, mir bisher wenig bekannte Facette hinzu. Ein wichtiges Buch!

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  1. Leben des flämischen Kollaborateurs und SS-Manns Willem Verhulst

    Die Frage, ob man dieses Buch als Roman bezeichnen könne, wurde in der Leserunde zunächst diskutiert. Im Anhang erklärt der Autor, dass die Geschichte auf "historischen Fakten und einer ausführlichen Dokumentation, ergänzt durch die Fantasie des Autors" (467) basiert. Also doch ein Roman, der die Biographie des flämischen Kollaborateurs und SS-Mannes Willem Verhulst mit der Lebensgeschichte des Autors verknüpft.
    Die Verbindung besteht in einem Haus im Genter Stadtviertel Patershol, in dem der Autor 20 Jahre gelebt hat und das auch der Wohnsitz Willem Verhulsts gewesen ist. Stefan Hertmans schildert zunächst sehr lebhaft, wie der das verwunschene Haus im Spätsommer 1979 entdeckt hat.

    "Um die verrosteten Gitterstäbe eines der Zäune wanden sich die dicken, fast schwarzen Äste eines Blauregens. Schwer von Staub hingen späte Blütentrauben herab, dennoch rührte mich ihr Duft - er führte mich zurück in den verwilderten Garten meiner Kindheit;" (8)

    Er kontaktiert den Notar De Potter, Besitzer des Hauses, und besichtigt das heruntergekommene Haus und kauft es aus einem Impuls heraus. Anfang des neuen Jahrtausend, als er das Haus gerade wieder verkauft hat, fällt ihm dann das Buch seines ehemaligen Geschichtsprofessors Adrian Verhulst in die Hände: "Sohn eines >>falschen<< Flamen". Bevor er den Professor besuchen kann, stirbt dieser, worauf sich Hertmans vornimmt, "nicht die Geschichte eines SS-Mannes (zu) erzählen; solche Geschichten gibt es ohnehin zuhauf. Ich werde die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen." (12)

    Zu Beginn weicht er jedoch von diesem Vorsatz ab und schildert zunächst die Kindheit Willems, erzählt von seiner ersten Ehe mit einer jüdischen Frau, die für ihn ihren Ehemann verlassen hat. Nach deren Tod gründet er eine 2.Familie. Wir erfahren auch, dass er ein Frauenheld und seine politische Gesinnung zunächst sehr wechselhaft ist. Geprägt hat ihn der flämisch-wallonische Konflikt und dessen Politisierung nach dem 1.Weltkrieg. Daraus resultiert auch, dass er als patriotischer Flame mit den Deutschen, die Belgien im 2.Weltkrieg besetzt haben, kollaboriert.
    Seine Frau Mientje hingegen erscheint als friedliebend und freundlich. Zudem ist sie eine gläubige Protestantin, die sich dem Haushalt und dem Aufziehen der drei Kinder Adrian, Letta und Suzy widmet. Sie ist die stille Heldin, die heimlich Widerstand übt.
    Ab dem zweiten Teil des Romans wechseln die Szenen, in denen der Autor das Haus besichtigt, mit denen aus der Vergangenheit ab. Sehr interessant, wie sich der Autor auf Spurensuche begibt und z.B. den Ort in Deutschland aufsucht, an dem die Kinder Verhulst den Sommer 1942 verbracht haben. Es wird immer deutlicher, dass er seine Biografie auf viele Quellen stützt, auf Interviews mit den beiden noch lebenden Töchtern und den Hinterlassenschaften der Familie: „die Tagebücher der Mutter, ihre eigene (Lettas) Lebensgeschichte, ein Heft mit einem Läufer, auf dessen Umschlag in der väterlichen Handschrift Wils Kindheit und Jugend geschrieben steht.“ (157)

    Der Autor erklärt auch implizit seine Vorgehensweise:
    „Symphonein bedeutet zusammenklingen, gemeinsam einen Klang hervorbringen, dessen komplexes Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile.“ (157)

    Sein Bestreben ist es, aus den verschiedenen Quellen die Lebensgeschichte Willem Verhulst und seiner Familie zusammenzusetzen, so dass ein Bild jenes Mannes entsteht, der als SS-Mann viele Menschen verraten, seine Taten jedoch niemals bereut hat, und das seiner Familie, die sich zunehmend um Distanzierung bemüht. Gleichzeitig wird auch die Geschichte des Drongenhofer Haus erzählt, in dem Mientje Menschen versteckt hat, auch Kollaborateure, und das auf den Autor eine besondere Faszination ausübt. Auch der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen wird thematisiert, ein Thema, das in Belgien sicherlich größere Aufmerksamkeit erlangt als in Deutschland.

    Insgesamt eine interessanter Roman mit dokumentarischem Charakter, da er eine Vielzahl an Bildmaterial bietet und Zitate der Kinder und Enkelkinder eingeflochten sind. Trotz einiger Längen lesenswert.

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  1. Ein Haus. Seine Bewohner. Ein Leben.

    Kurzmeinung: Nationalsozialismus in Belgien - eine frische Perspektive.

    Als der Autor und Erzähler Stefan Hertmans sich in Gent/Belgien in ein heruntergekommenes Haus im Leerstand verliebt, kauft er es spontan und zu einem Spottpreis. Die Geschichte des Hauses ist jedoch gleichzeitig die Geschichte der Familie Verhulst, die lange Zeit vor ihm darin lebte. Zur Zeit des Hauskaufs ist dem Neueigentümer Hertmans diese Tatsache unbekannt. Als er zwanzig Jahre später durch einen Zufall davon erfährt, macht er sich daran, den Lebensweg von Willem Verhulst (1898 bis 1975) und seiner Familie akribisch zu recherchieren. Davon handelt „Der Aufgang“.

    Der Stil Hertmanns ist nüchtern, dennoch anziehend. Die Leserschaft wird in die Kindheit Willem Verhulstens mitgenommen und kann erahnen, warum er so wurde, wie er wurde. Denn Willem Verhulst ist ein Kollaborateur im von Deutschland besetzten Belgien und ein Denunziant erster Güte; so lieferte er viele Leute ans Messer der SS, der er auch selber angehörte, wenngleich er nie in der ersten Linie stand und sich nur indirekt die Hände schmutzig machte.

    Willem Verhulst ist ein schwieriger Charakter. Dieser Mann musste in seiner Kindheit einiges wegstecken, heute würde man von traumatischen Erlebnissen sprechen. Seine Reaktionen darauf sind von Rebellion geprägt. Er sucht ein Ventil für seine Gefühle und Frustrationen und leider gerät er in schlechte Gesellschaft. Als Flame fühlt er sich im französisch geprägten Belgien unterdrückt und rückt in die Reihen flämischer Widerständler. Diese wiederum fühlen sich dem deutschen Nationalsozialismus verbunden, von dem sie sich Unterstützung versprechen. Viele von ihnen werden rechtsnationalistisch und bleiben auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unbekehrbar. So nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Uneinsichtig bleibt auch Willem bis ans Lebenende.

    Willem ist inzwischen ein Charmeur geworden, ein Frauenheld, einer, der sich durchlaviert, einer der, auch aufgrund von äußerst rudimentärer Bildung, die politischen Zusammenhänge nicht wirklich durchschaut. Aber dumm ist er nicht. Keinesfalls. Er liest und schnappt auf. Man erlebt ihn abwechselnd als impulsgesteuert, ideologisch und leicht explosiv, nationalistisch verblendet mit Tunnelblick, aber auch als guten Organisator und jemanden, der fähig ist, Beziehungen und Gelegenheiten zu nutzen. Daneben ist er aber auch ein Mensch, der liebt und der einen schrecklichen Verlust nicht verkraftet hat.

    Willem Verhulst ist eine ambivalente Figur. Naiv, geborgenheitssüchtig, genusssüchtig, skrupellos und immer irgendwie labil. Das hat der Autor sehr gut herausgearbeitet. Natürlich ist dann das Verständnis für ihn aufgebraucht als er anfängt, Verbrechen zu begehen, als er ein Mensch wird, der nur noch um sich selber kreist. Dennoch ist Willem Verhulst exemplarisch für die Verwobenheit von Schicksal: Kindheit. Einfluss. Politische Lage. Soziales Gefüge. Charakter.

    Der Kommentar:
    Der Autor hat mir seine Figur nahegebracht. Ich habe mit ihr gelitten, habe mit ihr gehadert, sie beschimpft und wieder bemitleidet. So ein verfehltes Leben! Die Figur ist authentisch und historisch überdies. Der Autor hat gründlich recherchiert.

    Was bei der Erzählung auf der Strecke bleibt, ist das Haus und die Geschichte des Autors mit dem Haus. Zu Anfang des Romans ist der Autor sehr persönlich und er nimmt den Leser ja auch mit auf die fachkundige, notarielle Begehung des Hauses vor dessen Erwerb, treppauf, treppab. Aber danach erfahren wir nicht mehr, was er dem halb verfallenen modrigen Haus, in dessen Keller das Wasser knietief steht, abgerungen hat. Ist die Renovierung gelungen? Wurde das Haus ein wertvolles Schmuckstück oder blieb es wegen seiner Feuchtigkeit ein Ärgernis? Was man wissen darf, ist, dass Hertmanns das Haus verkauft, nachdem er dessen Geschichte recherchierte, wohl, weil er nicht weiter in einem Haus eines ehemaligen Nationalsozialisten leben mochte, jedoch bleibt dies eine Vermutung.

    Fazit. „Der Aufgang“ ist eine Studie. Der Roman zeichnet den Lebensweg eines belgischen Kollaborateurs nach. Er weckt Empathie für die Familie Verhulst. Der Stil ist nüchtern informativ, dabei sehr anschaulich. Die Bezüge zum Haus hätten intensiver sein dürfen. Aber alles in allem, habe ich diesen Roman gemocht.

    Kategorie: Biographischer Roman
    Verlag: Diogenes 2022

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  1. Reportage-Roman über einen flämischen NS-Kollaborateur

    Im Spätsommer 1979 verliebt sich der ich-erzählende Autor in ein altes, verwahrlostes Haus in Gent. Wohl wissend um seine Unvernunft kauft er es. Die Ankaufsbesichtigung führt ein alter Notar durch. Man beginnt damit im feucht-nassen Keller, begutachtet die Stockwerke des Wohnbereichs, um am Ende den Aufstieg zum Dachboden zu bewerkstelligen. Anhand dieser Besichtigung stellt uns der Autor die früheren Bewohner des Hauses vor, deren Spuren er durch Zufall entdeckte, die ihn faszinierten und die er jahrelang umfangreich und akribisch recherchierte. Ihm standen nicht nur Memoiren, Quellen, Briefe und Schriftstücke zur Verfügung. Er konnte auch noch mit den Kindern des Protagonisten persönlich sprechen und ihre bewegenden Erinnerungen mit seinen Erkenntnissen abgleichen. Daraus ist dieses vorliegende Buch entstanden.

    Im Mittelpunkt steht Willem Verhulst (geb. 1898 in Antwerpen, gestorben 1975 in Gent), der sich schon während des 1. Weltkrieges in proflämischen, aktivistischen Bewegungen engagiert, die französische Sprache ablehnt und Belgien zunehmend hasst. Er lernt weitere Gleichgesinnte kennen, hegt Sympathien für ein großgermanisches Reich. Seine politische Entwicklung radikalisiert sich zunehmend, sein persönlicher Aufstieg ist mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr aufzuhalten. Verhulst verdingt sich als Kollaborateur, als gut bezahlter Spitzel, als Schreibtischtäter und Mittelsmann. Insgesamt heiratet er drei Mal, nur mit seiner mittleren Frau Harmina (Mientje) hat er Kinder. Mit dieser Familie wird er für Jahrzehnte in dem bewussten Genter Haus leben. Diese Spuren hat der Autor aufgenommen und in diesem Werk eindrucksvoll zusammengetragen.

    Verhulst wird zunächst als ambivalenter Charakter gezeichnet, der zwar nationalistische Ziele verfolgt, aber auch willens ist, jüdischen Menschen zu helfen. Nach der belgischen Kapitulation verschließt er allerdings die Augen vor den Taten seiner deutschen Nazi-Verbündeten. Mit deren Brutalität, Rücksichtslosigkeit sowie ihrer Vernichtungsmaschinerie möchte er eigentlich nichts zu tun haben. Mehr und mehr rückt Willems Frau Mientje in den Fokus. Sie ist zutiefst pazifistisch veranlagt, lehnt Uniformen und Symbole der NSDAP vehement ab und setzt sich innerfamiliär damit gegen ihren Mann durch. Mientje wird im Laufe des gemeinsamen Lebens mit ihrem Mann viele Herausforderungen zu bestehen haben, an denen sie wächst und Größe zeigt. Sie ist eine facettenreiche Figur, die einerseits die Familie durch schwierige Zeiten führt, sich ihrem Willem gegenüber aber auch loyal verhält. Aus ihrer Verachtung gegenüber den Nationalsozialisten macht sie keinen Hehl. Das Schicksal dieser Frau lohnt sich sehr, erzählt zu werden. Die Inhalte, die sich primär mit Willem Verhulst beschäftigen, haben mich nicht in gleichem Maße erreichen können. Sie erscheinen mir angesichts der Fülle bereits vorhandener Romane, Biografien oder Filme über das Dritte Reich mit seinen Tätern durchaus austauschbar. Verblendete Extremisten gab es an vielen Orten. Kollaborateure schlossen vor dem Unrecht die Augen, ließen es sich selbst gut gehen und waren bis zu ihrem Ende uneinsichtig ohne Anzeichen von Reue. Dafür ist Verhulst ein Beispiel von vielen.

    Hertmans beschreibt das Leben von Willem Verhulst und dessen Familie anhand zahlreicher Quellen, Bilder und Fotografien, die dem Text auch beigefügt sind, ihn auflockern und ihm unglaublich hohe Authentizität verleihen. Da das Buch als „Roman“ ausgezeichnet ist, darf man davon ausgehen, dass gleichfalls fiktionale Anteile enthalten sind. Diese haben jedoch untergeordnete Bedeutung. Hertmans beschreibt extrem sachlich, hält sich genau an die belegbaren Fakten. Das erinnert über weite Strecken an eine Biografie, ein Sachbuch oder eine Reportage. Mir hat dieser distanzierte, trockene Stil das Lesen sehr erschwert.

    Wenn man sich auf den Stil einlassen kann, begleitet man Familie Verhulst in ihrem beschlagnahmten Haus in Gent-Patershol in politisch und gesellschaftlich bewegten Zeiten. Man bekommt einen Blick für die Belange der flämischen Minderheit - Konflikte bestehen diesbezüglich bis in die Gegenwart. Hertmans ist ein renommierter Schriftsteller und patenter Erzähler. Passagenweise sind seine Beschreibungen sehr bildlich, die intensive Atmosphäre des alten Hauses als Mittelpunkt der Familie Verhulst wird fühl- und erlebbar gemacht. Dann wieder verliert sich der Autor in Beschreibungen, Anekdoten und Episoden. In diesem Werk steckt immense Arbeit. Folglich soll der Leser an allen Details der Recherche partizipieren. Hertmans erwähnt viele Zusammenhänge, Begegnungen, Entwicklungen, deren Relevanz für das große Ganze sich mir nicht immer erschlossen. Mit zunehmender Lektüre fühlte ich mich sogar gelangweilt und ermüdet. Bis zum Ende bleibt Willem Verhulst selbst relativ austauschbar. Er verhält sich wie so viele vor und mit ihm. Da gibt es wenig Überraschendes.

    Ich bin kein Freund biografischer Literatur, das sei unbedingt angemerkt, und habe den Eindruck, dass das Buch und ich einfach nicht zueinander passen. Deshalb rate jedem Interessenten, sich unbedingt mit der Leseprobe zu beschäftigen, damit es ihm nicht wie mir ergeht, nämlich dass die Erwartungen so gänzlich unerfüllt bleiben. Ich hatte einen Roman im herkömmlichen Sinn erwartet und habe eine sachlich gehaltene Biografie bekommen. Zweifellos ist „Der Aufgang“ ein Buch gegen das Vergessen. Es vermittelt historisch belegte Zusammenhänge und Fakten, die dem deutschen Publikum gewiss Mehrwerte und neue Kenntnisse vermitteln. Es ist gewiss kein schlechtes Buch, jedoch auch kein Buch für Jedermann. Deshalb möchte ich es nur eingeschränkt empfehlen.

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  1. Ein Streifzug durch ein Haus und die Geschichte Belgiens

    „Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.“ (Zitat Seite 7)

    Inhalt
    Im Spätsommer 1979 sieht Stefan Hertmans das Haus in Gent, im Stadtteil Patershol, zum ersten Mal. Es wirkt verwahrlost, feucht, stand schon längere Zeit leer. Dennoch lässt es den Autor nicht mehr los und er kauft es. Mehr als zwanzig Jahre später sieht er ein Buch, verfasst von Professor Adriaan Verhulst, Historiker, bei dem auch Hertmans studiert hatte. Er entdeckt, dass Adriaan Verhulst seine Kindheit in genau diesem Haus verbracht hatte. Dies weckt sein Interesse und er beschließt, die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzählen.

    Thema und Genre
    Dieser Roman ist die Geschichte eines Hauses in Verbindung mit der Geschichte jener Familie, die es viele Jahre lang bewohnt hat. Er basiert auf historischen Fakten, die sich aus umfangreichen Recherchen in Dokumenten, Büchern, den Tagebüchern von Mientje Verhulst und Gesprächen mit noch lebenden Zeitzeugen ergeben, ergänzt durch fiktive Elemente. Themen sind der politische Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, die Besatzung Belgiens durch die Nationalsozialisten und die Zeit danach, aber auch Kindheitserinnerungen, Familie und Beziehungen.

    Charaktere
    Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Leben von Willem Verhulst und seiner zweiten Ehefrau Harmina „Mientje“ Wilhers, die Eltern von Adriaan Verhulst.

    Handlung und Schreibstil
    Der Autor erzählt, berichtet, es ist ein Roman über Belgien, der auf genau recherchierten Erinnerungen von Zeitzeugen, noch lebenden Familienmitgliedern, aufbaut, in Verbindung mit der umfangreichen Dokumentation, die man dem Autor zur Verfügung stellt. Wo er in seinen umfangreichen Recherchen keine Aussagen und Unterlagen fand, erklärt er, dass dies heute niemand mehr weiß, lässt Lücken, statt diese Lücken durch fiktive Vermutungen zu schließen. Die Handlung ergänzt der Autor durch Anekdoten und seine persönlichen Erinnerungen. Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, mit dem Autor im Jahr 1979 in der entgegengesetzten Richtung. Vom Keller bis zum Dachboden betreten wir die einzelnen Räume, sehen sie jetzt und damals, als die Familie Verhulst das Haus mit Leben gefüllt hat. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens.

    Fazit
    „Vielleicht möchte man durch den Besuch eines Ortes der Erinnerung, selbst wenn diese nicht die eigene ist, den Lauf der Geschichte für einen Augenblick aufhalten.“ (Zitat Seite 186). Mit diesem interessanten Roman, der ruhig und sachlich der Geschichte dieser Familie folgt, gleichzeitig aber atmosphärisch dicht das Haus selbst während der ersten Besichtigung des Autors vor dem Kauf beschreibt, ist dem Autor dies gelungen.

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  1. Der SS-Mann im Haus erspart den Roman

    Eher zufällig erfährt Autor Stefan Hertmans: 20 Jahre hat er in Gent in einem Haus gelebt, in dem über viele Jahre der flämische SS-Kollaborateur Willem Verhulst mit seiner Familie lebte. Hertmans begibt sich auf eine jahrelange Recherche, um die Spuren der früheren Bewohner:innen sichtbar zu machen und findet dabei nicht nur zahlreiche persönliche Geschichten heraus, sondern auch deren Verbindung zum Land Belgien und dessen Konflikte, die teilweise bis heute andauern...

    Zunächst einmal seien potenzielle Leser:innen vor dem Wörtchen "Roman" gewarnt, das der Diogenes-Verlag zwar auf dem Cover verwendet, klugerweise aber davon absieht, es - anders als sonst - noch einmal auf dem Titelblatt zu wiederholen. Denn im Grunde genommen ist "Der Aufgang" von Stefan Hertmans kein Roman, sondern eher eine Biografie Willem Verhults und seiner Familie, die Hertmans allerdings mit zahlreichen fiktiven Elementen anreichert. Frei nach dem Sprichwort "Die Axt im Haus erspart den Zimmermann" könnte man also sagen "Der SS-Mann im Haus erspart den Roman". Wer also den Roman eines Hauses wie "Das Gartenzimmer" von Andreas Schäfer erwartet, dürfte enttäuscht sein. Dass die Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner:innen dennoch spannend genug ist, liegt vor allem an der großen Erzählkunst Hertmans'.

    Besonders gelungen ist das Buch, wenn Hertmans selbst in Erscheinung tritt und atmosphärisch wirklich großartig die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart knüpft, zwischen der Familie Verhulst und Hertmans selbst. Mit großer Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit, erheblichem Recherche-Aufwand und fast greifbarer Empathie begibt sich Hertmans auf die Spuren der Menschen, die 30 Jahre zuvor in genau den Räumen hausten, in denen Hertmans später mit seiner Freundin vor dem Kamin saß. Als eigentliche Heldin des Buches entpuppt sich Mientje, die zweite Ehefrau des SS-Kollaborateurs, die es in ihrer Güte fast allein schafft, drei Kinder großzuziehen und dem permanent abwesenden Willem trotzdem verzeiht. Doch auch Hertmans' Verbindung zu den Kindern ist glaubhaft und emotional. Willems Sohn Adri entpuppt sich nämlich als kein Geringerer als Hertmans' späterer Professor, durch dessen Buch Hertmans überhaupt erst erfährt, in welchem Haus er dort jahrelang wohnte. Und auch die beiden Töchter sind mit ihren Interviews im sehr hohen Alter und den Devotionalien ein echter Gewinn für "Der Aufgang".

    Zudem gelingt es Hertmans, die Figur Willem Verhulst glaubhaft und eindringlich nachzuzeichnen. Vom fast blinden Außenseiter-Kind über den fanatisch-impulsiven flämischen Extremisten bis zum SS-Mitläufer ist Willem eine zunächst ambivalente Figur, deren negative Charaktereigenschaften im Verlaufe des Buches aber eindeutig die Oberhand gewinnen. Verhulst betrügt seine Frau, verrät die Nachbarn und stilisiert sich im Gefängnis zum Opfer.

    Ein weiterer Höhepunkt ist die Darstellung des Hauses selbst. Wenn sich Hertmans vom Notar durch sein späteres Zuhause führen lässt und er den Verfall und die Räume ebenso intensiv beschreibt wie die Gerüche und Geräusche der Stadt und der Natur, bekommt man als Leser:in fast den Eindruck, selbst an diesem Rundgang teilzunehmen. Eine sehr plastische und eindringliche Wirkung entfachen die Momente, in denen der Autor aus dem Fenster schaut und weiß, dieses Gebäude gegenüber hat auch schon die Familie Verhulst gesehen. Und dieser Blauregen dort, das ist doch die Pflanze, die Mientje damals erworben hat. Und stand Mientje nicht ängstlich vor der Tür dieses Hauses, als Hertmans selbst in einer Art jugendlicher Verwirrung als Student mit Rechtsextremen randalierend um die Häuser zog? Es sind wahre Gänsehautmomente, die Hertmans in diesen Beschreibungen gelingen.

    Allerdings - und damit komme ich neben der "Roman"-Fehlleitung zum eigentlichen Schwachpunkt des Buches - setzt Hertmans diese Beschreibungen leider viel zu selten ein. Insbesondere im wahrlich zu lang geratenen letzten Drittel passiert auf dieser Ebene viel zu wenig. Stattdessen verrennt sich der Autor streckenweise in den Anekdoten der Familie Verhulst, hält sich mit Koketterien zwischen Willem und seiner Geliebten auf und schildert auch vermeintliche Randfiguren äußerst detailreich. Dies sorgte dafür, dass mir die letzten 150 Seiten doch sehr zäh vorkamen und ich mit einer gewissen Erleichterung das Buch nach der Lektüre zuklappen konnte. Erleichterung einerseits, andererseits aber auch Traurigkeit. Denn zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, dass "Der Aufgang" eines meiner Lieblingsbücher des Jahres werden könnte, und war wegen der großartigen Atmosphäre nahezu euphorisch.

    So bleibt "Der Aufgang" in seiner Gänze "nur" ein gutes Buch, dem ich dennoch viele Leser:innen wünsche. Verdient hätte es Stefan Hertmans für seine schriftstellerische und historische Leistung in jedem Fall. Roman hin oder her.

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  1. Kaleidoskop schmerzhafter Geschichtsaufarbeitung

    Geschichtsaufarbeitung ist eine schmerzhafte Angelegenheit, noch dazu, wenn jemand einen persönlichen Bezug dazu hat. Den bekam der Autor durch ein Buch, aus dem er erfährt, dass er 20 Jahre lang in dem Elternhaus des Verfassers Adriaan Verhulst (Adri) im Genter Stadtviertel Patershol gewohnt hat: im ‚Drongenhofer Haus‘.

    Durch dieses Buch ‚Sohn eines ‚falschen Flamen‘ angeregt, macht er sich auf die Suche nach der Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner. Er beschäftigt sich sehr umfassend mit Willem Verhulst, 10.7.1898 in Berchem bei Antwerpen geboren und gestorben 11.3.1975, seiner Familie, seiner beruflichen und nicht zuletzt seiner politischen Laufbahn.

    Hilfreich waren ihm dabei die Gespräche mit den inzwischen hochbetagten Töchtern Letta und Suzy, mit Lieve Vandermeulen (für die Adri als Schüler heimlich schwärmte), die Gefängnisbriefe, die Willem selbst verfasste, und auch die Sitzungsprotokolle des Kriegsgerichtshof im Jahre 1947. Die Erinnerungen von Mientje, die ihrem ‚flämischen Döskopp‘ gegenüber immer loyal blieb und die ihre Kraft im Glauben fand, und die von Griet, der langjährigen Geliebten, sprechen Bände und könnten unterschiedlicher nicht sein!

    Nein, eine Wohlfühllektüre kann dieses Buch nicht genannt werden – ‚Wim‘ ist absolut kein Sympathieträger und sein Verhalten (ob seiner Frau Mientje gegenüber oder als Kollaborateur) ließen mir oft die Haare zu Berge stehen: Selbstreflektion war ihm absolut fremd – Fehler machten nur die anderen. ‚Ganz je nachdem, wie mächtig oder schwach wir sind, macht weiß uns oder schwarz das Urteil des Gerichts‘ (ein Zitat aus einer Fabel von La Fontaine) schrieb Willem Verhulst auf den Schutzumschlag seiner Memoiren und das ist auch die Fabel seines Lebens!

    ‚Der Aufgang‘ ist sehr abwechslungsreich: neben dem Leben von Wilhelm begleiten wir dazwischen immer wieder den Autor bei der Besichtigung des Drongenhofer Hauses, zusammen mit dem Notar zum Feststellen des aktuellen Zustands, wir erfahren von weiteren Bewohnern des Hauses und viel über die Geschichte Belgiens, von ihrem Zwiespalt, und natürlich auch über die Geschichte Nazi-Deutschlands und ihrer Auswirkung auf Belgien. Viele Bilder runden das Gelesene ab.

    Ich empfand dieses Buch als sehr informativ, aufwühlend und möchte es doch nicht missen! 5 Sterne und volle Leseempfehlung!

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