Das Verschwinden der Erde: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Verschwinden der Erde: Roman' von Julia Phillips
4.05
4.1 von 5 (15 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Verschwinden der Erde: Roman"

An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr. Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt Julia Phillips uns in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.

Format:Kindle Ausgabe
Seiten:376
Verlag:
EAN:

Rezensionen zu "Das Verschwinden der Erde: Roman"

  1. Ein Kaleidoskop der weiblichen Realität

    Ein Kaleidoskop der weiblichen Realität⠀

    Hier handelt es sich um einen Episodenroman. Das Verschwinden von Sofija und Aljona wird zum verbindenden Element für kurze – wenn auch glasklare und intensive! – Einblicke in die Leben verschiedener Mädchen und Frauen. Jede hat davon gehört, hat ihre eigene Meinung dazu oder ist sogar irgendwie in die Geschichte involviert.⠀

    Doch auch wenn die Entführung stets unterschwellig präsent ist in den Gedanken der verschiedenen Protagonistinnen, geht es meines Erachtens vor allem um die verschiedenen Formen von Gewalt, mit denen sich Frauen konfrontiert sehen – auch wenn es sich dabei vielleicht ‘nur’ um Diskrimierung, Sexismus, Erniedrigung, Unterdrückung oder Ausgrenzung handelt oder sie sich dessen selber nicht bewusst sind.⠀

    Lange wird nicht klar, was mit den verschwundenen Kindern geschehen ist, und du kannst nur bangen und hoffen, dass sie nicht zum mahnenden Beispiel für die extremste (möglicherweise sexuelle) Form von Gewalt geworden sind. Aber oft habe ich sie geradezu aus den Augen verloren, weil ich in jeder Episode vor allem gefesselt war vom Leben der Frauen, die gerade im Zentrum standen.⠀

    Wenn der Spannungsbogen doch mal durchhing, fand ich trotzdem immer etwas, das ich für mich aus der Erzählung herausziehen konnte. Denn das Leben auf der sibirischen Halbinsel Kamtschatka war für mich tatsächlich komplettes Neuland!⠀

    Manche der Charaktere kommen in verschiedenen Episoden vor. Oft spielt die Frau, durch deren Augen wir eben noch geblickt haben, in einem späteren Kapitel nur noch eine Nebenrolle, und gerade dadurch sehen Leser:innen, wie Frauen verschiedene Rollen in diesem gesellschaftlichen Spiel einnehmen können.⠀

    Ganz viel passiert hier nur unterschwellig oder wird vom Umfeld der Frauen normalisiert, obwohl es nicht normal sein sollte. Erzwungene Anpassung an unfaire gesellschaftliche Erwartungen. Beiläufiger Rassismus. Deckelung vermeintlich ‘niederer’ Gesellschaftsschichten durch hochmütiges Überlegenheitsdenken. Dabei sind es hier durchaus auch Frauen, die anderen Frauen diese Strukturen der Unterdrückung aufzwingen – meist vertretbar gemacht durch unterbewusstes Othering: diese Frau gehört nicht zu uns, sie ist anders, das ist nicht das Gleiche.⠀

    Beziehungen sind in diesem Buch oft Fluchtmöglichkeit oder Lebensversicherung, weil die Frau für sich keine andere Wahl sieht, Schwangerschaften entweder Fessel oder Pfand. Das ideale Leben der idealen Frau wird zum Kerker.⠀

    Ein wichtiges Thema ist die gesellschaftliche Akzeptanz oder Ablehnung indigener Menschen in Kamtschatka. Natürlich liegt auch hier das Augenmerk besonders auf den indigenen Frauen, die in einer ohnehin männerdominierten Welt die doppelte Bürde tragen. Ich war bestürzt, wie sehr sie von manchen Kreisen geradezu entmenschlicht werden.⠀

    Auch Fremdarbeiter werden in einer Episode thematisiert, und da offenbaren sich direkt zwei Seiten des Rassismus. Während einige Menschen sie als gefährliche Wilde ablehnen, erotisiert die Frau, die in diesem Abschnitt die Hauptrolle spielt, sie mit genau den gleichen Vorurteilen – und sieht sie dadurch weniger als Menschen als als reine Sexualobjekte.⠀

    Ich war erschrocken, wie groß die Gefahr für homosexuelle Menschen in Kamtschatka anscheinend immer noch ist. In einer Episode, in der eine junge Frau mit ihrer Sexualität hadert, wird ersichtlich, dass Homosexualität nicht nur verboten ist, sondern dass es durchaus oft vorkommt, dass eine homosexuelle Person getötet wird.⠀

    Julia Phillips schreibt packend und atmosphärisch dicht, mit eindringlichen Bildern, und gerade deswegen musste ich manchmal eine Pause machen und durchatmen. Allzu hart und grau sind die Schicksale vieler dieser Frauen, doch zweifele ich nicht daran, dass das weibliche Leben in Kamtschatka wirklich so ist.⠀

    Fazit:⠀

    An der Küste Kamtschatkas werden zwei kleine Mädchen entführt. Das Ereignis zieht sich als verbindendes Element durch diesen Episodenroman, in dem die Handlung von einer weiblichen Perspektive zur nächsten springt. Tatsächlich geht es weniger um die Entführung der Kinder als um die weibliche Lebensrealität, wobei auch verschiedene Arten von Gewalt und Unterdrückung thematisiert werden. Besonderes Augenmerk liegt auf den Frauen der indigenen Bevölkerung.⠀

    Viele der Charaktere hätte ich gerne noch länger begleitet, bei manchen war ich froh, ihnen auf Nimmerwiedersehen sagen zu können – aber interessant und glaubhaft fand ich sie alle. Ich konnte immer zumindest ein Stück weit nachvollziehen, wenn auch nicht zwangsläufig gutheißen, warum sie tun, was sie tun.⠀

    Die Spannung ergab sich für mich daher auch eher aus den gesellschaftlichen und sozialen Differenzen, die sich in einem Panoptikum diverser Perspektiven präsentieren, als aus der Kindesentführung.⠀

    Für mich ist “Das Verschwinden der Erde” ein sehr lohnendes Buch, das ich gerne gelesen habe und das mir viel vermittelt hat, was mir bis dato unbekannt war.⠀

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  1. Geschlossene Gesellschaft

    Es ist ein Sommertag im August in Petropawlowsk, als die beiden Schwestern, die elfjährige Aljona und die achtjährige Sofija, von einem unbekannten Mann entführt werden. Eine Zeugin will einen dunklen Wagen erkannt haben. Nach Wochen der erfolglosen Suche beliebt der Verbleib der Mädchen ungewiss.

    Rund um diesen Kriminalfall rankt sich der Roman „Das Verschwinden der Erde“ der amerikanischen Schriftstellerin Julia Phillips. Doch das Buch, mit dem die Autorin auf der Shortlist für den National Book Award 2019 platziert war, ist keineswegs ein Krimi. Episodenhaft entwickelt sich die Geschichte Monat für Monat, ein ganzes Jahr, weiter und zeigt eine stark defizitäre Gesellschaft. Jedes Kapitel wird einer Frau gewidmet, die direkt oder indirekt vom Verschwinden der Mädchen betroffen ist. (Das Personenverzeichnis zu Beginn des Buches ist absolut hilfreich und aussagekräftig.)

    Der Schauplatz Kamtschatka im Osten Russlands ist gut gewählt. Die Halbinsel, auf drei Seiten von Meer umgeben und durch unwegsames Gebirge vom Rest des Landes abgetrennt, ist nur per Schiff oder Flugzeug erreichbar. Majestätisch und bedrohlich ragen enorme Vulkane auf. In dieser Enge gedeiht Fremdenhass, unverhohlener Alltagsrassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung, Korruption, Verwahrlosung auf der einen Seite und postsowjetischer Kapitalismus auf der anderen. Es ist ein maskulin geprägtes System, diese toxische Dominanz zieht sich wie ein Netz über alle Bevölkerungsschichten und Generationen.

    Die Frauen in diesem Buch sind desillusioniert, unglücklich und scheinen chancenlos, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern zu können. Sie erhalten keine Unterstützung, nicht von den Behörden, nicht von ihren Männern, nicht von ihren Geschlechtsgenossinnen. Manches Einzelschicksal wird bisweilen zu ausufernd, doch in seiner Gesamtheit zeichnet sich das triste und zynische Bild einer „geschlossenen Gesellschaft“ ab.

    „Wie nett von der Polizei, ihre ganze Kraft auf die Suche nach zwei kleinen weißen Leichen zu konzentrieren. Ein willkommener Vorwand, um die Korruption, die Ungerechtigkeit, die betrunkenen Autofahrer oder kleinen Brandstifter in der Stadt zu ignorieren.“

    Mit den beiden letzten Kapiteln schließt Autorin Julia Philips den (Jahres)Kreis und führt Erzählstränge zusammen, nähert sich dem Genre literarischer Thriller wieder an (womit am Klappentext geworben wird) und überrascht mit ihrem Finale.

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    07. Mär 2021 

    Kamtschatka

    Kamtschatka (Камчатский край) ist eine Halbinsel in Nordostasien und gehört zum russischen Föderationskreis Ferner Osten. Auf einer Fläche von etwa 370.000 Quadratkilometer (ca. 5% größer als die Fläche Deutschlands) leben ca. 310.000 Menschen. Nach Kamtschatka kommt man nur per Schiff oder mit dem Flugzeug, denn eine Anreise auf dem Landweg ist so gut wie unmöglich. Straßen, die das russische Festland mit dieser Halbinsel verbinden, gibt es nicht. Man muss also einen enormen Aufwand betreiben, um nach Kamtschatka zu gelangen. Und man sollte sich warm anziehen, wenn man dorthin will (Jahresdurchschnittstemperatur 2 Grad Celsius).
    Diese abgelegene Region ist der Handlungsort des Romans "Das Verschwinden der Erde" der Amerikanerin Julia Phillips, die es mit diesem Titel, der als literarischer Thriller bezeichnet wird, im Jahr 2019 bis auf die Short List für den National Book Award geschafft hat.

    Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: in Kamtschatkas Hauptstadt Petropawlowsk werden am helllichten Tage 2 kleine Mädchen entführt. Weder wissen wir, wer der Entführer ist, noch wie es mit den Mädchen weitergeht. Die Entführung hat im Juli stattgefunden. Von da ab lernen wir über einen Zeitraum von 12 Monaten Frauen aus Kamtschatka kennen. Jede Frau hat ihr eigenes Kapitel, das als Überschrift einen Monatsnamen dieses Jahres trägt. Das Alter der Frauen bewegt sich von Anfang 20 bis Mitte/Ende 30, vielleicht ein bisschen älter. Als Bewohnerinnen der Halbinsel Kamtschatka haben sie eines gemeinsam: sie sind unzufrieden, wenn nicht sogar unglücklich mit dem Leben, das sie führen.

    "Schmuggler, klar. Oder Wilderer, Grenzverletzer, Brandstifter, betrunkene Fahrer, Tierhändler, Männer, die sich im Streit an die Kehle gingen, Wanderarbeiter, die auf dem Bau vom Gerüst stürzten, Menschen, die in den Wintermonaten erfroren ... das waren alltägliche Nachrichten in Kamtschatkas Medien. Zwei entführte kleine Mädchen waren etwas anderes."

    Zwischen den einzelnen Charakteren gibt es Querverbindungen. Wer in dem einen Kapitel eine Nebenrolle hatte, kann in einem anderen Kapitel zur Protagonistin werden. Um hier nicht den Überblick zu verlieren - was allein schon durch die russische Namensgebung, die mit unserer Namensgebung nicht viel gemein hat, passieren kann, gibt es am Anfang des Buches eine Übersicht der maßgeblich beteiligten Personen und ihrer Familien.

    Das Geheimnis über das Schicksal der beiden entführten Mädchen begleitet die Geschichten der Frauen in diesem Roman nur am Rande. Das erscheint merkwürdig, da dieser Roman in den Feuilletons als literarischer Thriller angepriesen wird, und man daher erwartet, dass das Verbrechen im Mittelpunkt steht. Stattdessen entfernen wir uns mit jeder neuen Protagonistin weiter weg von der Aufklärung des Geheimnisses. Wären nicht kleine, beiläufig erwähnte Gedächtnishilfen, wie z. B. die Erwähnung der beiden Mädchen in einem Nebensatz, würden wir das Schicksal dieser Kinder aus den Augen verlieren. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Frauen Kamtschatkas. Glaubt man Julia Phillips, ist Kamtschatka kein Ort, an dem eine Frau glücklich sein kann.Ein schlechter Arbeitsmarkt, frustrierte Macho-Männer, die angestrengt versuchen, sich das Leben schön zu trinken, keine Perspektiven - weder beruflich noch privat; auf Kamtschatka gibt es nur wenig, was das Leben für eine Frau lebenswert macht. Und diese Frustrationen kommen in den Geschichten der einzelnen Frauen zum Ausdruck.

    "Ohnehin war Kamtschatka keine Gegend mehr, in der man eine Familie großziehen wollte. Man musste sich nur ihre Cousine ansehen, die Lücke in ihrem Leben, in die ihre Tochter gehörte. Die Gemeinden, in denen Rewmira aufgewachsen waren, lösten sich auf, das machte es einfacher, sie zu vergessen, es waren Orte, die verschwanden. Rewmiras Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen ewenischen Tradiiion, einer solzialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihre Stelle war eine große Leere getreten."

    Der große Pluspunkt dieses Romans ist sicherlich sein besonderer Handlungsort und die schwierigen Lebensverhältnisse, die sich daraus ergeben. Julia Phillips gelingt es, Alltag und Leben der Frauen in Kamtschatka auf sehr eindringliche Weise zu schildern. Ich fühlte mit den Frauen, zumindest anfangs. Da es unter den Protagonistinnen nicht eine Figur gibt, die nur ansatzweise zufrieden mit ihrem Leben ist, nutzte sich mein Mitgefühl für die Frauen mit der Zeit ab. Zuviel Schicksal, zuviel Unglück, zuviel Traurigkeit sorgten bei mir für Ermüdungserscheinungen beim Lesen. Julia Phillips hätte sicherlich auf die eine oder andere Frauengeschichte verzichten können. Der Eindruck, den ich von einem Leben in Kamtschatka hätte, wäre derselbe gewesen.

    Hinsichtlich der Konzentration auf die Schicksale der Frauen in diesem Roman, fällt es schwer, diesen Roman als Thriller zu betrachten. Doch zum Schluss bewegt die Autorin ihren Roman wieder in die Richtung dieses Genres. Mit einem fulminanten Ende hat sie mich für die ermüdenden Lesemomente entschädigt.
    Mein Fazit ist daher zweigeteilt:
    Positiv: Ein eindrucksvoller Schauplatz, Kamtschatkas Alltag, der seinen Bewohnern seelisch einiges abverlangt; sehr einfühlsame Schilderung der Frauenschicksale
    Negativ: Zuviel Unzufriedenheit und Unglück; zu wenig Thrill, so dass der Anspruch, den man an einen literarischen Thriller stellt, nur bedingt erfüllt wird.

    Gebe ich eine Leseempfehlung? Ja, denn allein die Beschreibungen des Schauplatzes und das Bild, das vom Alltag in Kamtschatka vermittelt wird, machen diesen Roman lesenswert.

    © Renie

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  1. Über das Leben in Kamtschatka

    Über das Leben in Kamtschatka

    Der Roman beginnt mit dem Verschwinden der beiden Schwestern Aljona und Sofia. Die beiden Mädchen sind häufig allein, da die Mutter arbeiten gehen muss. Es gibt Hinweise, dass sie in ein glänzendes Auto gestiegen sind. Der Leser weiß sogar noch mehr, umso größer ist das Entsetzen, als klar wird, dass die Mädchen nicht gefunden wurden. Versucht die Polizei wirklich alles? Geht sie allen Hinweisen ernsthaft nach?

    Im weiteren Verlauf geleitet die Autorin den Leser durch weitere Schicksale in Kamtschatka. Insgesamt umfasst der Roman 12 solcher Kapitel, die immer einer Person gewidmet sind. Meist handelt es sich hierin um unterdrückte Frauen, die auf Grund der allgemeinen Situation dort vermehrt Probleme haben. Die Zukunft in Kamtschatka scheint nicht gerade rosige Zukunftsaussichten zu haben. Zieht man das Internet zu Rate, wird deutlich, dass die Autorin dies nicht selbst ersonnen hat, dieser Landabschnitt weist tatsächlich die beschriebenen Probleme auf.
    Ein weiteres Thema, dass um die Ureinwohner, wird ebenso in die Handlung mit eingeflochten, und brachte mir ein paar interessante Erkenntnisse, da ich vorher wenig bis gar nichts darüber wusste.
    Ein wenig irritiert hat mich, dass die Entführung zu Anfang, später nur noch am Rande auftaucht. Die Personen in den anderen Kapiteln lassen zwar erkennen, dass sie von dem Verbrechen wissen, oder es gibt hier und da kleinere, direkte Verbindungen, aber man muss schon konzentriert lesen, um sie zu entdecken. Teilweise wirkte es sogar so, als ob die Autorin das Geschehen aus den Augen verloren hat.
    Am Ende laufen allerdings dann doch noch alle Fäden zusammen, und die Fragen werden größtenteils gelöst.
    Ich habe mich lange gefragt, was mir an dem Buch gefallen hat, denn ein Krimi ist es nicht, soll es auch nicht sein. Dennoch suggerierte mir die Handlung zu Beginn doch etwas in dieser Richtung, und ich war ein wenig enttäuscht, meine Erwartungen nicht erfüllt zu bekommen.
    Doch eigentlich habe ich sogar etwas besseres geboten bekommen. Die Autorin zeigte im Roman auf, dass die Missstände zwischen den Russen und den Ureinwohnern immer noch sehr problembehaftet sind. Sie macht deutlich, dass die meisten In Kamtschatka nur wenig Chancen auf einen gut bezahlten Job haben. Daraus resultieren dann folglich Situationen, die es auch für die Kinder schwer machen, denn beide Eltern müssen arbeiten gehen, und trotzdem ist das Geld sehr knapp. Alkohol scheint ein weiters Problem zu sein, ein elender Teufelskreis, der nicht leicht zu zerbrechen ist, da wenig Perspektiven vorhanden sind.
    Das Verschwinden der Erde ist ein kritischer Roman, der aber nicht anprangert, er möchte aufmerksam machen. Er hat mir gut gefallen, daher spreche ich hiermit eine klare Leseempfehlung aus!

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    02. Mär 2021 

    Vielstimmiges Portrait einer Gesellschaft

    Die amerikanische Autorin Julia Phillips siedelt ihren Debutroman in Kamtschatka an, jener Halbinsel im äußersten Osten Russlands. Eine landschaftlich faszinierende Gegend mit zahlreichen noch aktiven Vulkanen, mit heißen Geysiren, den endlosen Weiten der Tundra und den dichten Birkenwäldern. Aber erst seit 1990 können Touristen die Halbinsel bereisen. Über fünfzig Jahre lang war sie militärisches Sperrgebiet der Sowjets.Die Gegend ist auch heute noch dünn besiedelt. Der größte Teil der Bevölkerung sind Russen; nur etwa 2,5% stammen von den Ureinwohnern ab ( Ewenen, Korjaken, Itelmenen ).
    Die New Yorkerin Julia Phillips lebte vor Jahren einige Zeit in Kamtschatka, um dort über die Folgen des zunehmenden Tourismus zu forschen. Der Gegensatz zwischen der atemberaubenden Schönheit der Natur und den schlechten Lebensbedingungen der Bewohner hat sie beschäftigt. Ihr Roman war für den National Book Award nominiert und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
    Doch worum geht es ?
    An einem Sommertag im August sind die beiden Schwestern, die 8jährige Sofija und die 11jährige Aljona, am Strand unterwegs. Auf dem Rückweg bittet sie ein fremder Mann um Hilfe; die beiden steigen in sein Auto ein und bleiben ab diesem Zeitpunkt verschwunden. Die Suche nach ihnen verläuft erfolglos, auch ihre Leichen sind nirgends aufgetaucht. Es gibt allerdings keine Möglichkeit, unbemerkt die Halbinsel zu verlassen. Einzig mit dem Schiff oder dem Flugzeug ist es möglich; über den Landweg, durch die Tundra und über die Berge, führt keine Straße.
    Wer nun einen konventionellen Kriminalroman erwartet, wird enttäuscht. Die Entführung dient lediglich als Ausgangspunkt für eine Reihe von Geschichten.
    In insgesamt 13 Kapiteln, gegliedert nach den Monaten ab dem Zeitpunkt des Verschwindens, steht eine weibliche Figur im Zentrum, die in irgendeiner Form, oftmals nur ganz lose, mit den beiden entführten Mädchen in Verbindung steht.
    Da ist z.B. Oksana. Sie ist Forscherin am Institut für Vulkanologie und sie war die einzige Zeugin, die die beiden Schwestern und einen Mann mit Auto zuletzt gesehen hat. Allerdings wird ihren vagen Aussagen wenig Gehör geschenkt.
    Oder Walentina. Sie ist die Sekretärin an der Schule, auf die die beiden Mädchen gegangen sind und weiß deshalb einiges über den familiären Hintergrund. Sie ist eine, die den alten Strukturen nachtrauert. „ So etwas wäre zu Sowjetzeiten niemals passiert, ...Ihr... habt keine Vorstellung, wie sicher es damals war. Keine Ausländer. Keine Fremden. Die Halbinsel zu öffnen, war der größte Fehler, den die Behörden machen konnten. ...Jetzt wimmelt es hier nur so von Touristen und Migranten. Ureinwohnern. Alles Kriminelle.“
    Oder Ksjuscha , eine Ewenin, die zum Studieren in die Hauptstadt kam. Ihre Eltern leben noch wie ihre Vorfahren als Rentierhirten in der Tundra. Sie steht zwischen zwei Männern. Ruslan ist ihr Verlobter, der sie mit ständigen Anrufen kontrolliert. Bei ihm, einem Russen, fühlt sie sich sicher, doch zwischen ihr und Tschander, einem Korjaken, herrscht eine größere Vertrautheit.
    Mascha ist nur zu Silvester kurz nach Hause zurückgekehrt. Mit ihrer Homosexualität ist ihr die Anonymität der Großstadt lieber.
    Vor über zwei Jahren ist noch ein anderes Mädchen spurlos verschwunden, Lilja. Nach ihr hat damals die Polizei weniger intensiv gesucht. Lag das daran, dass sie keine Russin war? Oder ist sie einfach weggelaufen, um woanders unabhängig zu leben? Schließlich war sie schon achtzehn Jahre alt und hatte einen etwas zweifelhaften Ruf.
    Rewmira, eine Verwandte von Lilja, wird vom Schicksal schwer gestraft.
    Und Nadja versucht wegzukommen von ihrem Lebensgefährten und der Bruchbude, in der sie hausen. Doch bei ihren Eltern finden sie und ihre kleine Tochter keine Unterstützung.
    Es sind durchweg triste Frauenbiographien, die vor uns ausgebreitet werden. Nicht jede Geschichte ist gleichermaßen interessant, nicht jedes Schicksal konnte mich erreichen.
    Am stärksten berührt hat mich das vorletzte und längste Kapitel des Buches. Hier treffen sich Marina, die Mutter der beiden verschwundenen Mädchen und Alla, die ihre Tochter Ilja schmerzlich vermisst und überzeugt ist, dass sie einem Verbrechen zum Opfer fiel. Sie begegnen sich auf einem Festival für indigene Kultur und jede Mutter hat ihre eigene Art, mit der Trauer umzugehen.
    Immer wieder tauchen Hauptfiguren aus früheren Kapiteln später als Nebenfiguren auf. So erfährt man ein eher beiläufig, wie es weiterging mit ihnen. Das fordert den Leser , macht aber gleichzeitig Spaß, die losen Erzählfäden in Verbindung zu bringen. ( Hilfreich ist dabei die abgedruckte Liste der Hauptfiguren.)
    Es ist eine von Männern dominierte Welt, in der sich Frauen behaupten müssen und dabei oft scheitern oder verhärten.
    Durchgängiges Motiv in dem Roman ist das der Verlusterfahrung. Die einen trauern um ihre Kinder oder beklagen das Fehlen der Ehemänner, eine verliert ihren Hund, die wichtigste „ Bezugsperson“ in ihrem Leben, andere trauern vergangenen Zeiten hinterher. „ Die Gemeinden, in denen Rewmira aufgewachsen war, lösten sich auf, das machte es einfacher, sie zu vergessen, es waren Orte, die verschwanden. Rewmira Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen ewenischen Tradition, einer sozialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihre Stelle war eine große Leere getreten.“
    Doch oft sind es einfach Träume von einem besseren Leben, die sich zerschlagen haben, Illusionen, die begraben werden.
    Auch die indigene Bevölkerung trägt schwer an ihren Verlusten, sie wirkt entwurzelt. Ihre frühere Lebensgrundlage zerbröckelt, die Jungen treibt es weg von daheim, das kulturelle Erbe verkommt zur Folklore. Überall spürbar ist der alltägliche Rassismus, die Diskriminierung .
    Die Autorin versteht es meisterhaft, auf wenigen Seiten ganze Lebensmodelle und Schicksale zu entwerfen. Dabei erzählt sie konsequent, in einer klaren und eher nüchternen Sprache, aus der weiblichen Perspektive. Zusammen ergibt das ein vielstimmiges Portrait einer ganzen Gesellschaft.
    Wer sich gerne literarisch in unbekannte Welten entführen lässt, für den ist dieser Episodenroman eine Entdeckung. Ein lesenswertes Debut, das einen aufmerksamen Leser braucht.
    Ob sich das Rätsel um die verschwundenen Mädchen am Ende auflöst, soll hier nicht verraten werden.

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  1. 3
    01. Mär 2021 

    Konnte mich leider nicht überzeugen

    In Kamtschatka verschwinden an einem Sommertag die beiden russischen Schwestern Sofija und Aijona spurlos. Dieser ungelöste Fall Schwebt wie eine Wolke über den Ort und wirkt sich auf die unterschiedlichsten Frauen aus.

    Die Beschreibung dieses Romans hat mich sehr neugierig gemacht. Auch das schön gestaltete Cover hat mich angesprochen.
    Der Schreibstil war leicht verständlich, so dass sich das Buch insgesamt gut und zügig lesen ließ. Allerdings fand ich den Schreibstil auch recht kühl und emotionslos. Einige Schicksale und Begebenheiten konnten mich daher nicht wirklich packen.
    Der Einstieg gefiel mir sehr gut, denn er handelte von dem Verschwinden der beiden Mädchen. Das ging mir durch und durch. In den weiteren Kapiteln bzw. Episoden lernt man dann immer andere und neue Personen kennen und erfährt von deren Leben und Situationen. Die Erzählungen hatten meistens auf den ersten Blick keine Verbindung zu den Mädchen. Dann gab es aber doch eine Verbindung, die mal nur ganz am Rande auftauchte oder sehr präsent war. Diese Verbindungen fand ich interessant überlegt und sie haben mir gut gefallen. Ansonsten fand ich diese scheinbar losen Episoden teilweise langatmig, weil ich nicht wusste, was mir das sagen sollte und wie es im Zusammenhang mit den verschwundenen mädchen steht. Auch waren sie mir teilweise zu drückend und negativ, denn es ging gefühlt keiner der Frauen richtig gut. Das hat mich beim Lesen sehr heruntergezogen. Ich musste mich teilweise sehr durch das Buch kämpfen.
    Was ich sehr positiv fand und mir prima gefallen hat, war das Ende. Das war überraschend und konnte dann noch einen Stern gut machen.

    Dieser Roman war definitiv anders, als mir bisher bekannte Romane. Mich konnte diese Art der Erzählung allerdings nicht überzeugen. Ich vergebe 3 von 5 Sternen.

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  1. Frauen in Kamtschatka

    Kamtschatka ist eine Halbinsel im Osten Russlands gelegen. Sie ist im Wesentlichen nur mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug zu erreichen. Der Landweg führt in die Weiten der Tundra und wird faktisch nicht genutzt. Entsprechend dünn besiedelt ist die Halbinsel: von den rund 310.000 Bewohnern leben rund 65 % in Petropawlowsk, der Hauptstadt und wirtschaftlichen Metropole Kamtschatkas. Die meisten Einwohner sind Russen, nur 2,5% stammen von indigenen Volksgruppen ab, zu denen auch die Ewenen gehören.

    In diese Gegend führt uns Julia Philipps mit diesem Roman. Eine vorangestellte Landkarte bietet hilfreiche Orientierung für alle, denen die Lage des Handlungsortes nicht bekannt ist. Das Buch ist in die 12 Monate eines Jahres eingeteilt mit einem zusätzlich eingefügten Kapitel (Silvester) und beginnt mit einer beklemmenden Kindesentführung: Die beiden Schwestern Aljona und Sofia werden beim Spielen am Strand entführt. Dass es sich um eine Entführung handelt, weiß der Leser schon sehr bald. Im Verlauf des Romans gibt es darüber jedoch unterschiedliche Theorien.

    Vor etwas über einem Jahr verschwand auch die 19-jährige Ewenin Lilja. Aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen stellten die Behörden die Suche nach der jungen Frau und die Ermittlungen dazu ein. Man geht davon aus, dass Lilja freiwillig untertauchte, um ihr Glück in der Stadt zu suchen.

    In Folge werden Frauen vorgestellt, die direkt oder indirekt vom Verschwinden Aljonas, Sofias und Liljas tangiert werden. Jede Geschichte ist einzigartig und für uns ein wenig befremdlich. Wir erfahren jeweils ein Stück Lebensrealität aus Kamtschatka, lernen etwas über Ansichten, Einstellungen und Verhältnisse der dort Lebenden, über unterschiedliche Ethnien, über die Familien der Vermissten und ihrer Freunde. Es sind keine fröhlichen Erzählungen, sondern Darstellungen eines zumeist tristen Lebens, von Enttäuschungen, zerschlagenen Hoffnungen oder unerfüllten Träumen. Jedes Kapitel für sich ähnelt einer Kurzgeschichte, jedoch begegnen uns manche Figuren wiederholt, so dass man aufmerksam lesen muss, um jeden Baustein dieses sorgfältig komponierten Romans zu erfassen. Jedes Kapitel ist ein Puzzlestein, alles hängt mit allem (wenn mitunter auch lose) zusammen:

    Olja darf wegen der entführten Mädchen ihre beste Freundin Diana nicht mehr sehen, weil deren Mutter Walentina zu ängstlich geworden ist. Im Grunde passt ihr das aber ganz gut, denn Olja ist die Tochter einer Alleinerziehenden, die das Kind in ihren Augen vernachlässigt, so dass Olja kein guter Umgang ist. Später macht sich Walentina bei der Polizei wichtig und begegnet uns im Krankenhaus als ängstliche Patientin wieder.

    Es gibt Vorurteile auf beiden Seiten der russischen und indigenen Bevölkerung. Das spürt auch die Studentin Ksjuscha, die aus einer eingeborenen Nomadenfamilie stammt. Durch ihren russisch-stämmigen Freund Ruslan fühlt sie sich aufgewertet, obwohl sie selbst intelligenter ist als er und eine bessere Ausbildung genießt. Er bietet seiner Freundin Schutz, verlangt dafür aber umfassende Kontrolle, wofür ihm die Gefahr durch vermeintliche Entführer eine Rechtfertigung bietet.

    Oksana ging mit ihrem Hund spazieren, als die Kinder verschwanden und kann Hinweise auf den vermeintlichen Täter geben, die im Zuge des Romans in Zweifel gezogen werden. Hat der Polizeiinspektor überhaupt Interesse an der Wahrheit? Es scheint, als ob er mit seinen Ermittlungen nicht vorankommt: Stößt er an Grenzen bei seinen Vorgesetzten oder fehlt ihm selbst der Elan? Seine Frau Soja musste ihren geliebten Beruf aufgeben, um sich um die gemeinsame Tochter zu kümmern. Sie ist alles andere als glücklich damit und sucht kleine Fluchten.

    All diese und weitere Szenen ergeben ein Panorama von Frauenleben in Kamtschatka. Schwere und leichtere Schicksale säumen den Roman. Die meisten Menschen leben in bescheidenen Verhältnissen, wünschten sich jedoch etwas mehr von der Zukunft. Eine trockene Wohnung mit einer funktionierenden Heizung kann doch nicht alles sein? Gezeichnet wird ein Geflecht aus Beziehungen, denen allen eine gewisse Melancholie anhaftet.

    Das Buch wird als literarischer Thriller beworben. Das ist es eigentlich nur am Anfang und wird es wieder zum Ende hin. Dazwischen ist es mehr ein Gesellschaftsportrait. Man lernt etwas über die Konflikte der Ethnien und Generationen, über den Umgang mit Andersdenkenden oder Homosexuellen, über das vorherrschende Patriarchat, über die Probleme der ehemaligen sowjetisch besetzten Sperrzone.

    Daneben bekommt auch die unvergleichliche Landschaft Raum mit ihrer Küste, dem Vulkangestein, den heißen Quellen und der einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt. Was für den Urlauber durchaus reizvoll sein mag, kann für die dort lebenden Menschen zur Belastung werden. Viele Möglichkeiten und Chancen haben sie nicht, die Entfernungen sind groß, die Winter lang. Es ist diese Tristesse, die die Autorin wunderbar eingefangen hat. Die überwiegende Zahl der Erzählungen hat mich gefesselt. Nicht alle haben die gleiche Intensität. Doch bevor Langeweile aufkommen kann, setzt die Autorin zu einem spannenden Finale an, in dem sie ihr schriftstellerisches Können unter Beweis stellt und sich die verschiedenen Bausteine an ihren Platz setzen.

    Man spürt, dass die amerikanische Autorin sich sehr intensiv mit Land und Leuten beschäftigt und in ihrer Mitte gelebt hat. Sie ist eine sorgfältige Beobachterin, ihre Charaktere wirken stimmig. Besonders einfühlsam werden Trauer, Wut und Ungewissheit innerhalb der Familien der vermissten Mädchen geschildert. Da leidet man mit.

    Ein sehr empfehlenswerter Roman für alle Menschen, die gern einmal etwas über unbekanntere Landstriche und deren Bevölkerung erfahren möchten. Ein Buch, das aufmerksam gelesen werden will, dann aber großen Reiz entfaltet.

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  1. 4
    27. Feb 2021 

    Kamtschatka - wo liegt das eigentlich?

    Wenn dieser Roman eines NICHT ist, dann ist es ein Thriller. Auf die Idee könnte man anhand der Ausgangssituation kommen: da verschwinden zwei kleine Mädchen, im ersten Kapitel erfährt der Leser ausführlich von den Umständen des Verschwindens. Doch dann bleiben die beiden Mädchen ebenso verschwunden wie die Ermittlungen zu dem Fall. Ein Aufhänger, der zu den weiteren Kapiteln führt, ohne wirklich im Vordergrund zu stehen. Ein verbindendes Glied, mehr nicht.

    Das klingt schon außergewöhnlich - und tatsächlich fällt dieser Roman aus der Reihe. Geschrieben wurde er von Julia Phillips, einer Amerikanerin, die ihr Debüt allerdings auf der ganz anderen Seite der Welt angesiedelt hat: in Kamtschatka. Hm. Anfangs fragte ich mich leicht verwirrt, wo dieses Kamtschatka überhaupt genau liegt, doch zum Glück kennt das www. da eine Antwort - und so weiß ich nun, dass es sich bei diesem Landstrich um eine Halbinsel handelt, gehörend zu den östlichsten der sieben Förderationskreise Russlands, Japan deutlich näher als beispielsweise Moskau. Verlassen werden kann die Halbinsel nur per Flugzeug oder Schiff, das Überqueren der Gebirgskette zum russischen Festland hin scheint unmöglich. Eine geschlossene Gesellschaft also.

    Außergewöhnlich ist auch die Komposition des Romans. Untergliedert ist er in einzelne Kapitel, die nur sehr lose miteinander verbunden sind. Jedes Kapitel stellt eine andere Frau als Hauptcharakter vor, die Verbindung zu den verschwundenen Mädchen ist teilweise kaum vorhanden, dennoch wird das Leben aller vorgestellten Personen davon berührt. Und Personen, die bereits in einem Kapitel vorgestellt wurden, tauchen lose auch in weiteren Kapiteln auf, so dass letztlich trotz der kurzgeschichtenartigen Erzählungen doch der Eindruck eines zusammenhängenden Romans entsteht. Allerdings erfordert dies auch ein sehr aufmerksames Lesen, damit einem womöglich bedeutungsvolle Zusammenhänge nicht entgehen - denn schlussendlich bleibt doch im Hinterkopf die Frage, was mit den beiden Mädchen geschehen ist.

    Durch den Wechsel der Personen in diesem Episodenroman erfährt der Leser nach und nach viel über Kamtschatka, beispielsweise über den Riss in der Gesellschaft zwischen den ursprünglichen Bewohnern (Korjaken, Itelmenen, Ewenen, Tschuktschen und Aleuten) und den russischen Besatzern, die diese Halbinsel Ende des 17. Jahrhunderts annektiert und im 20. Jahrhundert über 50 Jahre lang zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatten. Seit 1990 ist Kamtschakta auch für Touristen zugänglich, und die russische Bevölkerung erlebte dadurch einen gewaltigen Bruch hinsichtlich ihrer bisherigen Lebensumstände.

    Durch die eigenwillige Komposition des Romans entsteht nach und nach nicht nur ein detailliertes Gesellschaftsbild, das von Unsicherheit und Veränderung geprägt ist, sondern auch ein facettenreiches Mosaik aus Familien- und Beziehungsgeschichten, in denen die Frauen im Mittelpunkt stehen. In einem Interview verriet die Autorin Julia Phillips hierzu:

    "Der Roman ist vielstimmig angelegt, wobei sich jedes Kapitel auf die Perspektive einer anderen Frau konzentriert, um das Spektrum von Gewalt in den Leben von Frauen zu untersuchen – Gewalt im Sinne der seltenen und medial verbreiteten Ereignisse (die Entführung durch einen Fremden) und den alltäglichen, über die kaum gesprochen wird (ein schwieriger Arztbesuch, eine Beleidigung). Der Roman richtet sein Augenmerk auf dieses Spektrum, weil ich es als so prägend für meine eigenen Erfahrungen als Frau empfinde, und doch den Eindruck habe, dass wenig Auseinandersetzung damit stattfindet. Ich habe ›Das Verschwinden der Erde‹ geschrieben, um Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Facetten in der heutigen Welt darzustellen, weil ich es erstaunlich finde, wie sehr sich die Verletzungen ähneln, überlagern und uns verbinden." (nachzulesen bei Amazon.de)

    Julia Phillips nutzt das Verschwinden der Kinder als loses Bindeglied zwischen den einzelnen Mädchen/Frauen/Kapiteln, die in der Summe ein Gesellschaftsbild zeichnen, das viele Probleme offenbart. Die Rolle der untergeordneten und abhängigen Frau, die immer irgendwem gefallen muss, die Vorurteile, der Rassismus, ebenso wie überholte/überrollte Lebensentwürfe. Die Tradition der Ureinwohner ist genauso Geschichte (Folklore) wie die Tradition der Russen, die als Militärmacht herrschten und sich nun mit den neuen Gegebenheiten irgendwie arrangieren müssen. Eine patriarchalische Gesellschaft im Umbruch, bei der Alkohol und (körperliche wie psychische) Gewalt keine geringe Rolle spielen.

    Es ist ein atmosphärisches Bild, das hier gezeichnet wird, trist und düster zumeist, der Verfall ist allerorten spürbar. Dazu die zwangsläufige Resignation, die sich bei den vorgestellten Charakteren nahezu zwangsläufig einstellt, weil Lebensträume in Kamtschatka einfach nicht gelebt werden können - zu eng ist das gesellschaftliche Korsett ohne wirkliche Alternativen zu bieten. Dabei ist das Bemühen Phillips erkennbar, möglichst alle relevanten Themen auszuschöpfen, was mir in der Summe jedoch stellenweise zu viel wurde - im Verlauf der Lektüre stellten sich bei mir doch einge Male Ermüdungserscheinungen ein.

    Zugute halten muss man dem Roman allerdings neben den bereits genannten Besonderheiten, dass er in meinen Augen lückenlos konzipiert wurde, dass trotz der episodenhaften Erzählweise ein Zusammenhang erkennbar ist und dass er neben der Verortung des Geschehens im abgelegenen Kamtschatka doch auch Allgemeingütligkeiten aufweist. Das Ende ist offen und damit ein wenig unklar, doch bietet es allen Lesarten eine Antwort. Das mag tröstlich sein - oder auch nicht. Mehr darf/will ich hier nicht verraten...

    Ich würde hier gerne 3,5 Sterne vergeben, da die langatmigen Passagen das Lesen doch ziemlich in die Länge zogen. Aufgrund der außergewöhnlichen Aspekte des Romans runde ich diese 3,5 Sterne letztendlich jedoch zu knappen 4 auf. In jedem Fall verspricht dieser Roman ein außergewöhnliches Leseerlebnis, das sich lohnt...

    © Parden

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  1. Fremde Welt Kamtschatka

    In Elizabeth Strouts 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetem Roman "Mit Blick aufs Meer" und der Fortsetzung "Die langen Abende" bildet die Protagonistin Olive Kitteridge den roten Faden zwischen den einzelnen, ansonsten unzusammenhängenden Episoden, in Simone Lapperts "Der Sprung" die Frau auf dem Dach und in Peter Zantinghs "Nach Mattias" der Tod eines jungen Mannes. Im Roman "Das Verschwinden der Erde" der US-Amerikanerin Julia Philipps ist das Verbindende die Entführung zweier Schwestern, der elfjährigen Aljona und der achtjährigen Sofija. An einem Augusttag verschwinden sie in der Hauptstadt Petropawlowsk der im ostasiatischen Teil Russlands gelegenen Halbinsel Kamtschatka spurlos. Eben erzählt Aljona ihrer Schwester noch die Geschichte eines bei einem Tsunami verschwundenen Dorfes, als ein Fremder sie anspricht und mitnimmt.

    Potpourri von Frauenstimmen
    Während eines Jahres – die Kapitel sind mit den Monatsnamen überschrieben, dazu eines mit „Silvester“, so dass es insgesamt 13 sind – stellt Julia Philipps Menschen vor, die direkt oder als unbeteiligte Beobachter mit diesem Verbrechen verbunden sind. Immer wieder kreuzen Figuren aus früheren Kapiteln ihre Wege und wir erfahren en passant, wie deren Leben weitergehen: ob die Hautveränderung der Schulsekretärin Walentina Nikolajewna tatsächlich Krebs ist, Katja trotz Bedenken bei ihrem unzuverlässigen Freund Max bleibt, die Studentin Ksjuscha sich weiterhin ihrem  kontrollsüchtigen Machofreundes Ruslan unterwirft und Nadja zu Tschegga zurückkehrt oder nicht.

    Es sind triste Schicksale meist gut ausgebildeter Frauen, deren Träume zerplatzen, deren Ausbruchsversuche scheitern, die beste Freundinnen, Ehemänner, Kinder oder ihren Hund verlieren. Männer bevölkern diese patriarchalische Welt überwiegend als trunksüchtige, machtbesessene, psychische und physische Gewalt ausübende, unzuverlässige Partner. Viele trauern den sicheren Strukturen der untergegangenen Sowjetunion nach, als das neun Flugstunden von Moskau entfernte, nur per Flugzeug oder Schiff erreichbare Kamtschatka abgeriegeltes militärisches Sperrgebiet war, es keine Fremden und kaum Gewaltverbrechen gab.

    Nichts dem Zufall überlassen
    Mit dem Einstiegskapitel und dem Verschwinden der Mädchen hat mich Julia Phillips sofort gepackt. Die ersten Kapitel las ich mit äußerstem Interesse, das dann allerdings in den Frühlingsmonaten abebbte. Nicht jedes Schicksal war gleichermaßen packend, manche Frauen, wie die junge Mutter Soja, nervten mich sogar. Die Wende kam mit dem Juni-Kapitel, denn nun rückt die Mutter der Entführungsopfer, Marina, in den Mittelpunkt. Ihre Qualen, Schuldgefühle und kraftraubenden Überlebensstrategien sind derart gelungen dargestellt, dass dieses längste Kapitel für mich den Höhepunkt des Romans bildet. Marina, die Russin, trifft bei einem ewenischen Jahresfest die Ureinwohnerin Alla, deren 18-jährige Tochter Lilja vor über drei Jahren ebenfalls verschwand. Ermittlungen fanden wegen Liljas Alters und ihrer indigenen Abstammung nicht statt, obwohl auch Alla von einem Verbrechen ausgeht. Wie Julia Phillips hier verschiedenste Figuren des Romans glaubhaft in einem atemberaubenden Showdown zusammenführt, ist schlichtweg genial. Nicht weniger ergreifend ist das kurze Schlusskapitel, der Juli, in dem die vermutlich titelgebende Geschichte vom Untergang eines Dorfes wiederaufgenommen wird.

    Eine lohnende Lektüre
    Trotz vorübergehender Ermüdungserscheinungen hat mich der 2019 auf der Shortlist des National Book Award platzierte Debütroman von Julia Phillips, die 2011 mittels eines Stipendiums ein Jahr in Kamtschatka verbrachte und 2015 erneut dorthin reiste, am Ende überzeugt. Der raffinierte Aufbau, die unbekannte Region, das Porträt einer von Rassismus zerrissenen, männlich dominierten Gesellschaft, der eindrückliche Kontrast zu einer fantastischen Natur mit Tundra, Vulkanen, Geysiren, Wäldern, Bergen und Bären sowie der gelungene Spannungsbogen und die glasklare Sprache machen Vom Verschwinden der Erde unbedingt lesenswert.

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    26. Feb 2021 

    Die Frauen von Kamtschatka

    Kamtschatka ist als weitgehend unberührtes Naturparadies bekannt, in dem Besuchende Vulkane, Geysire, Braunbären und mehr entdecken können. Doch wie die Menschen in diesem dünn besiedelten Teil Russlands (die Halbinsel ist etwas größer als Deutschland mit ca. 310.000 dort Lebenden verschiedener Ethnien) leben, dürfte weitestgehend unbekannt sein.
    Julia Phillips erzählt in monatlichen Abständen in 13 Geschichten von Frauen und Mädchen, die in irgendeiner Form mit dem Verschwinden zweier kleiner Mädchen in Berührung gekommen sind; sei es durch Pressemitteilungen, Verwandtenberichte oder ähnlichem. Auch wenn der Vermisstenfall scheinbar im Vordergrund steht (das erste Kapitel handelt davon), ist er letztlich 'nur' die Verbindung zwischen den Frauen über die hier berichtet wird, die aus den verschiedensten Gegenden der Halbinsel kommen und so unterschiedlich sind wie ihre Herkunft. Männer, zumindest wenn sie leben, tauchen in diesen Geschichten fast nur als unangenehme Zeitgenossen auf: Schwätzer, unzuverlässig, autoritär, sexistisch - nur die Toten scheinen die wirklich Guten zu sein.
    Durch die Porträts dieser Frauen, die meiner Meinung nach nicht alle gelungen sind, entsteht ein Panorama der Gesellschaft Kamtschatkas, die sich aufgrund diverser Missstände wie fehlender Infrastruktur, Korruption und Rassismus gegenüber Indigenen und Gastarbeitern mühsam durchs Leben kämpft. Doch nicht nur das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen ist schwierig, auch die Indigenen selbst haben Probleme innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft: Generationenkonflikte, das Festhalten an Traditionen gegen die Wünsche der Jüngeren, Engstirnigkeit und ebenso hier Rassismus.
    Auch wenn es sich praktisch um einzelne Geschichten handelt: Durch das geschickte Einflechten von kurzen Sätzen, meist ganz beiläufig, erfährt man immer wieder etwas über das Schicksal der Frauen, die schon erwähnt wurden. Manchmal ist auch etwas detektivischer Scharfsinn gefragt um sich Zusammenhänge aus vorhergehenden Kapiteln zu erschließen, was das Lesevergnügen aber nicht mindert, ganz im Gegenteil. Schlussendlich versöhnt das Ende mit all den offenen Fragen, die eventuell noch geblieben sind, sodass ich das Buch mit einem zufriedenen Seufzer zur Seite legte.
    Vor dem Hintergrund der grandiosen Landschaft Kamtschatkas zeigt die Autorin das Leben von Frauen, die wenig bis nichts verbindet, aber eines gemeinsam haben: Wünsche und Sehnsüchte, die wohl nie in Erfüllung gehen werden.

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  1. Drama in einem abgehängten Landstrich

    Als erstes fällt die ungewöhnliche Struktur des Romans auf. Dreizehn Kapitel erzählen Ereignisse aus der Sicht jeweils einer anderen Person, jedes Kapitel ist übertitelt mit dem Monatsnamen, insgesamt unfasst der Zeitraum ein Jahr. Immer sind es Frauen oder Mädchen, die im Mittelpunkt stehen; alle durch Verwandtschaft, Freundschaft oder beruflich miteinander verbunden. Und ungewöhnlich ist schließlich auch das Setting: die Halbinsel Kamtschatka im äußersten Osten Russlands. Eine prachtvolle Vulkanlandschaft, aber wenig erschlossen. Wegen der besonderen Lage - auf dem Landweg ist die Halbinsel nur schwer erreichbar - diente Kamtschatka zu Sowjetzeiten als Militärstützpunkt. Gegenwärtig ist es ein strukturschwaches, dünn besiedeltes Gebiet. Die wenigen indigenen Menschen, die hier noch leben, werden oft als Leute zweiter Klasse behandelt. Kaum jemand hat große Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, und die größten Verlierer scheinen die Frauen zu sein.

    In "August", dem Eingangskapitel, verschwinden vom Strand bei Petropawlowsk, der größten Stadt der Halbinsel, die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Eine Zeugin will sie noch bei einem Unbekannten im Auto gesehen haben - die Leserin weiß: die Kinder wurden entführt. Die (eher schleppend vorangetriebenen) Ermittlungen und die Auswirkungen des Vorfalls sind aber nur der Aufhänger für das, worüber die Autorin erzählt: gescheiterte Lebensentwürfe, vergebliches Bemühen, Vorurteile, Langeweile und - immer wieder - die Verantwortungslosigkeit der Männer, vor allem der Väter. Die geballte Ladung toxischer Männlichkeit muss die Leserin über sich ergehen lassen, und Verständnis für die Freunde, Ehemänner, Väter jener geschilderten Frauen und Mädchen wird - bis auf wenige Ausnahmen - von der Autorin weder gezeigt noch eingefordert. Die Frauen müssen alleine klarkommen, und sie tun es auch; im großen und ganzen.

    Die kunstvolle Verwobenheit der einzelnen Kapitel, die fortschreitend immer neue Frauen in den Fokus rücken und zugleich die Geschichte früherer Hauptpersonen nebenher weitererzählen, ist bestechend, bringt aber mit sich, dass jeder geschilderte Lebenskonflikt den gleichen Raum und Stellenwert erhält: die junge Russin beim Campingausflug, deren Freund hinreißend schön und sexy, aber nun mal nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, beschäftigt uns ebenso lang und intensiv wie die Krankenschwester, die zum zweiten Mal Witwe wird, und die allein lebende Wissenschaftlerin, die verzweifelt nach ihrem Hund sucht. Es wird viel Alltägliches erzählt und viel Erschütterndes und tief Bewegendes. Die Autorin, die zehn Jahre an dem Buch gearbeitet und mehrmals eingehend an Ort und Stelle recherchiert hat, widmet auch dem indigenen Volk der Ewenen intensive Aufmerksamkeit, macht die untergehende Welt der Menschen fühlbar, die ihre traditionelle Lebensweise weiterverfolgen, obwohl sie immer mehr zur örtlichen Folklore verkommt. Auch die Landschaft wird mit eindringlichen Schlaglichtern geschildert - die Berge und heißen Quellen, die Wälder (sogar ein Bär tritt auf) und die Unsicherheit, die das Leben in diesem Land intensiver Vulkanaktivität mit sich bringt.

    Fazit: Ein lesenswerter Roman aus einem fremdartigen Land, einfühlsame Schilderung großer und kleiner Konflikte; die Sprache klar und präzise mit gelegentlichen poetischen Wendungen.

    ".... Endlich konnten Kamtschatkas Einwohner ihr eigenes Land erkunden. Katjas Familie war nördlich bis nach Esso gereist, um die Ureinwohner und ihre Rentierherden zu sehen, nach Westen, um die Krater zu besichtigen, und in den Süden, um Kaviar aus den nicht mehr bewachten Seen zu holen. Sie verbrachte ihre Jugend in der kurzen, unbekümmerten Phase zwischen kommunistischem Stillstand und Putins Aufstieg, und obwohl sie in die Rolle einer Grenzkontrolleurin hineingewachsen war, die Einfuhren inspizierte und Vorladungen aussprach, steckte in ihr noch immer das postsowjetische Kind. Ein Teil von ihr sehnte sich nach der Wildnis. Katja wurde eins mit der Dunkelheit."

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    23. Feb 2021 

    Kamtschatka und seine Frauen – Traurig schön

    “Das Verschwinden der Erde” von Julia Phillips entführt uns in eine ungemein abgelegene Gegend der Erde: nach Kamtschatka, einer Halbinsel mit phänomenaler Natur am östlichen Rand Russlands, tausende Kilometer entfernt von dem Teil der Erde, der gemeinhin für Russland steht und von dem aus auch dieser abgelegene Teil bestimmt und regiert wird, trotz der Distanz und Andersartigkeit. Julia Phillips hat selbst einige Male diese Gegend besucht und möchte in ihrem Buch dem Leser diese Gegend näher bringen.
    Sie versucht das, indem sie episodenhaft über eine Reihe von Frauen, die ihr Leben auf dieser Halbinsel verbringen und gestalten, berichtet. Zusammengehalten und zu einem Ganzen gemacht werden diese Episoden durch eine Klammer in Form eines Ereignisses, das die Bewohner Kamtschatkas aufgerüttelt hat: zwei Mädchen sind verschwunden. Zuletzt gesehen am „Strand“ der Hauptstadt Petropawlowsk bleiben alle Bemühungen, sie wiederzufinden, über Monate hinweg ohne Erfolg. Dieses Verschwinden und die Suche kommen in der ein oder anderen Form in jeder der Episoden am Rande vor. Aber das Geschehen bewegt sich teilweise auch sehr weit von diesem Kern des Geschehens weg. Die Episoden, die im Monatsabstand ein Frauenschicksal in den Blick nehmen, zeigen den Lesern auf, mit welchen Sehnsüchten und Hoffnungen und mit welchen Niederlagen und Unglücken die Frauen in den Siedlungen dieser Region - Russinnen und Angehörige der Ureinwohner – ihr Leben gestalten. Die Grundstimmung ist dabei eher düster und von einem melancholischen Sehnen nach dem besseren Leben und dem Ausbrechen geprägt. Auch von einem nostalgischen Nachhängen den vermeintlich besseren Tagen der Sowjetunion, als Ausbrechen in Teilen vielleicht auch etwas einfacher schien, war doch die Staatsmacht und Moskau damals wohl wesentlich präsenter und erschien damit fürsorglicher ihrem fernen Staatsteil gegenüber. So erscheint die Nostalgie im Gesamtkontext durchaus etwas verständlich:

    Doch als sich das Land veränderte, ging Kamtschatka mit ihm unter. Eine ganze Zivilisation kam abhanden. Walentina tat ihre Tochter leid, so wie alle Kinder, die nun ohne die Liebe des Mutterlandes aufwuchsen.

    Nur: wo und für wen ist Ausbrechen wohl schwerer realisierbar als für Frauen in einer so männlich dominierten und durch die Natur so sehr isolierten Gegend? So bleiben die Sehnsüchte unrealisiert und die Träume im Verborgenen. Die Frauen leben weiterhin in ihrem Leben, in dem sie umgeben sind von einer im Roman deutlich herausgearbeiteten „Schäbigkeit“ der Umgebung sowie von einer spektakulären, mächtigen Landschaft. Julia Phillips macht sehr weitgehend Kamtschatka zur eigentlichen Heldin ihres Romans. Das Leben in dieser Gegend und seine wichtigsten Charakteristiken und Eigenschaften werden in der Gesamtschau der Episoden sehr plastisch und erkennbar. Das geht bis hin zum Geruch in den Straßen und dem Hafen von Petropawlowsk sowie dem Geruch, den auch die Menschen dieser Gegend aufgesogen haben und ausströmen. Indem sie auf eine durchgehende Handlung mit einer klaren Hauptfigur verzichtet, kann die Hauptheldin Kamtschatka richtig zu Tage treten und entfaltet werden.
    Zurück zur Hauptgeschichte rund um das Verschwinden der zwei Mädchen kehrt die Romanhandlung in den letzten beiden Monatsepisoden. Nach monatelanger mehr oder weniger intensiver und professioneller Suche und Polizeiarbeit erhält die Mutter der Mädchen ganz zufällig auf einer Sonnwendfeier einen Hinweis, der, als sie ihm selbständig nachgeht, tatsächlich eine Spur ihrer Töchter ergibt, doch ob diese tatsächlich zum Auffinden der Töchter finden kann, erfährt der Leser im Roman nicht mehr. Diese Frage bleibt offen und unbeantwortet. Aber: die Autorin lässt den Leser mit einem Hoffnungsschimmer zurück, so wie sich alle Frauen in diesem Roman irgendwie noch Hoffnungen auf etwas Anderes, Neues, Besseres machen, trotz ihrer gefühlten melancholischen Trostlosigkeit.
    Mein Fazit:
    Der Roman trifft eine ganz besondere Stimmungslage, und vermag diese sehr überzeugend zu gestalten und mit dem besonderen „Setting“ des Romans in der Weltabgeschiedenheit Kamtschatkas in Einklang zu bringen.
    Und ein ganz individuelles Fazit:
    Kamtschatka steht schon seit vielen Jahren auf meiner Bucket-List. Schaffe ich es wirklich einmal, diese ganz besondere Gegend zu bereisen, dann werde ich den Menschen dort mit einer ganz besonderen Haltung begegnen, zu der mir dieses Buch verholfen hat.
    Das ist doch etwas und führt zu vier fetten Sternen!

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  1. Größtenteils deprimierend

    Kurzmeinung: Die Sprache ist nicht ausgefeilt (genug) und von daher gewöhnungsbedürftig.

    Die Autorin Julia Phillips hat sich für ihren Episodenroman, der sich über ein Jahr hin erstreckt und dessen zwölf Kapitel nach den Monaten eines Jahres benannt sind, August fortlaufend bis Juli, plus dem dreizehnten Kapitel Silvester, ein besonderes Setting ausgesucht, nämlich die sibirische Halbinsel Kamtschatka.

    Sie erzählt von dem Leben in diesem abgelegenen Landstrich. Die Sowjets haben Kamtschatka übernommen, es wurde zwangsbesiedelt mit Russen, die die Kultur der Ureinwohner überlagern und die Überlegenheit der Besatzungsmacht demonstrieren. Das fängt bei der Sprache an, die in der Schule nicht gelehrt wird und „früher“ sogar verboten war und führt stracks in der Chancenlosigkeit, einen Job zu bekommen oder zu halten, wenn man Kinder hat. Die Frauen sind eindeutig benachteiligt. Die ursprüngliche Kultur des Landes, das Nomadenleben, wird in den Städten verspottet, die rituellen Tänze des Volks sind ein Nischenprodukt und und dienen zur touristischen Unterhaltung.

    Julia Phillips weiß, wovon sie redet, sie hat ein Studienjahr in der kamtschatkischen Hauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski verbracht.Das macht ihren Roman wertvoll und authentisch.

    In ihrem Roman „Das Verschwinden der Erde“, dessen Titel freilich dem Leser sich nicht ohne die Phantasie zu Hilfe zu nehmen, erschließt, konzentriert sich die Autorin fast ausschließlich auf die Darstellung von Frauenleben. Sie schildert in zahlreichen Abwandlungen deren Abhängigkeiten von ihren Ehemännern, Geliebten und Freunden. Vorgesetzten. Die Frauen scheinen chancenlos. Selbst die stärksten unter ihnen, müssen tiefgreifende Verluste hinnehmen. Der Roman weist durchgehend eine triste und depressive Stimmung auf. Obwohl die Landschaft bergig und sehr schön sein muss, umwerfend schön sogar, haben die wenigsten Gelegenheit sie zu genießen. Das Land scheint rückständig und sowohl vom gesellschaftlichen wie auch vom wirtschaftlichen Fortschrift abgehängt.

    In der Eingangsepisode werden zwei junge Mädchen entführt. Eine Weile spricht man darüber in den sporadisch stattfindenden gesellschaftlichen Zusammenkünften, die Polizei reißt sich nicht gerade ein Bein aus, um den Fall zu klären.

    Der Kommentar:

    Das Buch ist leicht zu lesen und erlaubt einen Einblick in ein entlegenes und vergessenes Land. Seine kurzen Hauptsätze lassen den Lesefluss oft stocken und erscheinen abgehackt, die Sprache ist modern gesetzt. Das ist Geschmackssache. Dem einen gefällts, dem anderen nicht. (Mir nicht).

    Fazit: Das starke Plus des Romans ist sein Setting und die Gesamtkomposition. Die 13 Erzählungen haben einmal mehr und einmal weniger Kraft. Ein weiteres Plus sind die Karte der Halbinsel und das Personenverzeichnis.

    Kategorie: Belletristik
    Verlag dtv, 2021

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  1. Ein Rätsel und viel Geschichte in der Geschichte

    Dieses Buch ist berührend und eindrucksvoll, allerdings auch nicht ganz einfach.
    Zwei Mädchen verschwinden in der Kleinstadt Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschtka. Sie waren nachmittags Strand, sind sie ertrunken? Eigentlich war es viel zu kalt zum Baden. Eine Spaziergängerin hat zwei Mädchen und einen Mann im Auto gesehen.

    Das ist der rote Faden, um den herum hier kunstvoll ein kompliziertes Gespinst gewoben wird. In Episoden lernt man die unterschiedlichsten Menschen kennen, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben, dann aber doch ganz am Rande eine lose Verbindung besitzen.
    Und während das Rätsel um die verschwundenen Mädchen in großen Kurven eingekreist wird, erfährt man von zahlreichen anderen Schicksalen. Es ist, als wäre man bei all diesen Menschen zu Besuch, lernt sie und ihre Sorgen gut kennen, fühlt mit ihnen.
    Julia Phillips schafft es tatsächlich, dass man in nur einem Kapitel eine ganze Welt kennenlernt, die eigen ist aber interessant. Man möchte wissen, wie es weitergeht, verlässt diese Szene aber und springt in das nächste, ebenso fesselnde, Schicksal. Und ab und zu bekommt man dann in einem ganz anderen Zusammenhang nochmal einen Hinweis auf Bekanntes aus einem ganz anderen Blickwinkel.
    Das ist sehr verzwickt, aber fesselnd und genial. Mein einziger Kritikpunkt: Das Buch muss durch diesen Aufbau den direkten Vergleich mit „Dort Dort“ aushalten und da fällt es stilistisch ein wenig ab.
    Und auch wenn man letztendlich einem Verbrechen auf der Spur ist, bekommt man doch einen Eindruck vom Leben in Kamtschtka, einer russischen Halbinsel kurz vorm Ende der Welt, gleich neben der Arktis, wo die Bevölkerung ein buntes Gemisch aus indigenen Ureinwohnern und weißen Russen bildet, mit allen dazugehörigen Konflikten und Vorurteilen. Es gibt noch immer im hohen Norden Ewenen, Tschuktschen, Korjaken oder Aleuten mit Traditionen, die trotz aller Sowjetisierungsversuche noch gelebt, bewundert oder auch belächelt werden.

    Dieses Buch ist ein Erlebnis. Es bietet ein Rätsel und viele Geschichten in der Geschichte, ein Verbrechen mit Aufklärung und dazu noch ganz viel altes und neues Russland, eiskalt, melancholisch, auch tragisch, viele Gefühle, viel Verzweiflung aber auch ein kleines bisschen Hoffnung.

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  1. Ein beachtliches Debüt

    Julia Phillips‘ Debüt „Das Verschwinden der Erde“ hat ein großes Echo gefunden. Immer wieder sehe ich Besprechungen und Interviews und ganz offensichtlich hat das Buch auch einen hohen Werbeetat bekommen. Der Verlag hat einige Pressestimmen abgedruckt und so bezeichnet es die Los Angeles Review of Books als „ausgeklügelten und kraftvoller literarischenThriller“. Das weckt ganz bestimmte Vorstellungen und ich fürchte, das wird einige Leser enttäuschen.

    Die Autorin wählte die Kamtschatka als Setting für ihren Roman. In einzelnen Kapiteln, die nach Monaten geordnet sind, erzählt sie vom Verschwinden zweier kleinen Mädchen und was das bei den Bewohnern auslöst. Jedes Kapitel widmet sich einem Personenkreis, der irgendwie und weit verzweigt auch damit zu tun hat, ob es eine Zeugin ist, Nachbarn oder nur Bewohnern der Hauptstadt oder kleiner dörflicher Siedlungen weit im Norden. Im letzten Kapitel bekommen auch die Betroffenen eine Stimme. Manche dieser Figuren treten auch als Randfiguren in anderem Zusammenhang in Erscheinung, so dass sich allmählich ein Muster herausschält.

    Auffällig ist das Zusammenleben zwischen Russen, die auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Kamtschatka geblieben sind und den Ureinwohnern der Halbinsel. Beide Bevölkerungsgruppen scheinen sich argwöhnisch gegenüber zu stehen, auch wenn es immer wieder mal Verbindungen gibt. So ist zum Beispiel Ksjuscha, die es aus ihrem Dorf an die Uni geschafft hat und die mit dem übergriffigen Russen Ruslan befreundet und sogar stolz darauf ist, dass er sie auf Schritt und Tritt überwacht. Zwar fühlt sie manchmal dieses emotionale Gefängnis, aber so richtig ausbrechen möchte sie nicht, auch wenn ein indigener Volkstänzer ihr Interesse weckt. Auch bei anderen Frauenfiguren fällt mir diese Schicksalsergebenheit auf und Ausbrüche kommen nur in Form von vermehrten Wodkakonsum oder halbherzigen Fluchten vor, doch spürt man eine innere Stärke und Kraft.

    Die Zerrissenheit der Menschen, ihre innere Isolation wird dem Leser auch zwischen den Zeilen überdeutlich. Das hat vielleicht mit dieser einsamen, arktischen Halbinsel zu tun, die lange das Territorium sowjetischer Spione und für Besucher gesperrt war.
    Trotz der Struktur des Romans lässt sich das Buch leicht lesen, hat mich in Bann gezogen und berührt. Kein überflüssiges Wort, keine überflüssige Nebenhandlung, alles hat Bedeutung und fügt sich zum Ende, ohne das die Autorin einen fertigen Schluss anbietet. Auch nach der letzten Seite bleibe ich noch in dieser Geschichte und lasse meinen Gedanken freien Lauf.

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