Blaue Frau: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Blaue Frau: Roman' von Antje Rávik Strubel
3.8
3.8 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Blaue Frau: Roman"

Adina wuchs als letzter Teenager ihres Dorfs im tschechischen Riesengebirge auf und sehnte sich schon als Kind in die Ferne. Mit ihr greift Antje Rávik Strubel eine Figur aus ihrem frühen Roman »Unter Schnee« wieder auf. Nun ist Adina 20 Jahre alt und lernt bei einem Sprachkurs in Berlin die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt. Unsichtbar gemacht von einem sexuellen Übergriff, den keiner ernst nimmt, strandet Adina nach einer Irrfahrt in Helsinki. Im Hotel, in dem sie schwarzarbeitet, begegnet sie dem estnischen Professor Leonides, Abgeordneter der EU, der sich in sie verliebt. Während er sich für die Menschenrechte stark macht, sucht Adina einen Ausweg aus dem inneren Exil.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:432
Verlag: FISCHER, S.
EAN:9783103971019

Rezensionen zu "Blaue Frau: Roman"

  1. 3
    28. Dez 2021 

    Adina Europa

    Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes kommt die junge Adina aus ihrem tschechischen Dorf, aus dem schon die meisten jungen Menschen fortgezogen sind, nach Berlin, um zu studieren. Sie lernt die außergewöhnliche Fotografin Rikkie kennen, die Adina durch ihre Linse einen ganz eigenen Blick auf sich selbst eröffnet. Adina ist deshalb dankbar, dass Rikkie ihr ein Praktikum in der brandenburgischen Provinz verschafft. Dieses jedoch endet mit einem Desaster, nachdem Adina flieht. Sie landet in Helsinki, wo sie zur Ruhe kommen will. Hilfe bekommt sie von Leonidis, dem sie sich allerdings nicht anvertrauen kann.

    Nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 doch neugierig geworden, obwohl die Leseprobe nicht übermäßig ansprechend erschien, hat man sich an das von der Autorin selbst eingelesene ungekürzte Hörbuch hergemacht. Die Worte sind auf angenehme Weise vorgetragen. Man merkt, dass die Autorin ihren Text im Herzen trägt. Bei Adina handelt es sich um eine sympathische junge Frau, die auf ihrem Weg in die Welt, den sie wie jeder junge Mensch mit viel Enthusiasmus angetreten hat, aufs Übelste misshandelt wird. Dadurch verliert sie den so sicher geglaubten Halt und fällt in ein Tief, aus dem sie sich nur schwer befreien kann.

    Mit dem Roman greift die Autorin im Rahmen der MeToo Debatte ein brennend aktuelles Thema auf. Leider erscheint die Umsetzung durch die nicht chronologische Erzählweise und etliche Abschweifungen zwar buchpreisgerecht, aber aus der persönlichen Lesersicht nicht übermäßig gelungen. Es dauert ein wenig, um überhaupt in den Roman hineinzufinden. Da war die Erkenntnis aus der Leseprobe durchaus wegweisend. Kommt man nach und nach hinter das eigentliche Thema, gewinnt das Buch mit seinen nachdrücklichen und emotionsgeladenen Beschreibungen durchaus an Profil, nur um im weiteren Verlauf wieder ins Verschwommene abzudriften. Und so hat man einen für sich selbst einen nicht ganz so packenden Roman, aber dennoch einen würdigen Buchpreisträger.

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  1. 4
    27. Dez 2021 

    Ein vielschichtiger Roman

    Adina wächst in einem kleinen Ort im tschechischen Riesengebirge auf. Sie träumt von einem Leben in einer fremden, besseren Welt. Als junge Frau reist sie nach Deutschland. Sie wohnt zuerst in Berlin, wo sie Deutsch lernen und fremde Sprachen studieren will. In Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt.
    Als Adina dort sexuell missbraucht wurde, flieht sie nach Finnland. In Helsinki lernt sie den estnischen Professor Leonides kennen, der als Abgeordneter der EU für die Menschenrechte kämpft. Sie verlieben sich ineinander, aber ihre Liebesaffäre ist kurz. Denn Adina befindet sich innerlich immer noch auf der Flucht vor ihrer tragischen Vergangenheit.

    In dem Buch „Blaue Frau“ begleiten wir die junge Adina aus Tschechien auf ihrem Weg in die bessere Zukunft in West Europa. Alle Träume des sprachbegabten Mädchens zerplatzen, als sie als Praktikantin in einem neu gebauten Kulturhaus sexuell missbraucht wurde. Da der Täter ein politisch einflussreicher Mann ist, wurde Adina mit ihren Anschuldigungen nicht ernst genommen. Auch die Flucht nach Helsinki, die Stadt der Menschenrechte, bringt Adina, die inzwischen als Sala ihr Leben fortführt, nicht weiter. Unter der Last der Vergangenheit zerbricht Salas Beziehung mit Leonides, der sich ausgerechnet für die Menschenrechte einsetzt.

    Der Roman ist aber nicht nur eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs und der Traumabewältigung. „Blaue Frau“ ist auch ein politischer Roman, der sich sowohl mit dem heutigen Europa, wie auch mit ihrer jüngsten Geschichte und deren Auswirkungen auf das gegenwärtige europäische Zusammenleben befasst. Viele von diesen Themen wurden aus osteuropäischer Sicht betrachtet.

    Die zweite Handlungsebene des Romans besteht aus Begegnungen der blauen Frau mit der Erzählerin der Geschichte über Adina. Die beiden Frauen verstehen sich auf Anhieb, vertrauen einander und sprechen über das Geschichtenerzählen. Diese Teile des Buches sind sehr poetisch.

    Obwohl der Roman kein Pageturner ist, ist er wärmstens zu empfehlen. Denn die Geschichte macht auf die Ereignisse in unserem persönlichen Umfeld aufmerksam und schärft den Blick auf das, was sehr oft „gerne übersehen“ wurde.
    Der Roman „Blaue Frau“ erhielt den Deutschen Buchpreis 2021.

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  1. 3
    25. Nov 2021 

    Das Unrecht der westlichen Welt

    Wer einen Großteil der Missstände in unserer Gesellschaft auf einen Blick haben will – hier sind sie! Alter weisser Mann gegen junge Frau; Ost gegen West; reich gegen arm; Macht gegen Nichtmacht. Protagonistin ist eine junge Osteuropäerin, die sich in den kapitalistischen Westen wagt, um ihre Sehnsucht nach der Ferne zu stillen. Nach einem Sprachkursaufenthalt in Berlin bekommt sie ein Praktikum weitab in der Uckermark vermittelt, von wo aus sie nach einem sexuellen Übergriff nach Finnland flieht. Voller Scham ist eine Rückkehr in ihre Heimat keine Option und als sie ihrem Vergewaltiger unvermittelt begegnet, will sie nur eines: Gerechtigkeit.

    Keine Frage: Über jeden der im vorhergehenden Abschnitt genannten Missstände sollte geschrieben und berichtet werden. Doch Alle in EIN Buch zu packen und diese der jugendlichen Hauptfigur aufzubürden, die versucht damit klar zu kommen, mag vielleicht gesellschaftskritische Geister beglücken, die sich darüber freuen, alles zwischen zwei Buchdeckeln konzentriert zu finden. Mir war das Ganze jedoch deutlich zu viel – und zwar nichts des Guten, sondern des Schlechten. Adina, die sich wahlweise Sala, Nina oder der kleine Mohikaner nennt oder nennen lässt, findet Bekannte, die sie nach ihrer Abreise sofort wieder vergessen; muss die schlimmsten Stunden ihres Lebens ohne jede Unterstützung durchstehen – schlimmer noch, man glaubt ihr nicht; wird vom kapitalistischen System aufs Übelste ausgebeutet; liebt und wird geliebt von einem Mann, der ihr nicht alles sagt; und erfährt, dass Macht viele Menschen blind macht. Zwar gibt es noch ein paar Wenige, die an sie glauben – wirklich helfen können sie ihr aber auch nicht. Geld und Macht siegen.

    Antje Rávik Strubel hat zweifellos auf kunstvolle Weise viele der Herausforderungen unserer Gesellschaft (nur der Klimawandel fehlt – oder nicht?) aufgezeigt und jedem der Abschnitte eine eigene Sprache gegeben – wenn auch nicht immer eine schöne wie ich finde.
    Wäre das Ganze nun spannend geschrieben, hätte es für mich vielleicht ein Lieblingsbuch werden können. Stattdessen taucht als wiederkehrende Erscheinung eine blaue Frau (Adina?) in kurzen Abschnitten auf, die geheimnisvolle und rätselhafte Sätze von sich gibt (manche sind sogar recht gut ;)), deren Sinn sich auch bis zum Ende nicht erschließt. Adinas Geschichte verläuft weitgehend handlungsarm und erzählt meist über ihr Be- und Empfinden, was stellenweise auch gut gelungen ist ebenso wie die Darstellung ihres geliebten Leo. Doch alles in allem wurde es für mich zunehmend zäher und langweiliger und ich war froh, als ich die letzte Seite gelesen hatte. Vielleicht bin ich einfach nicht schlau genug für solch ein Buch; aber sollte gute Literatur nicht auch schön zu lesen sein? Beispielsweise wie Dunkelblum von Eva Menasse oder Melnitz von Charles Lewinsky, beide ebenfalls in diesem Jahr neu erschienen.

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  1. Einmalig, überzeugend, kraftvoll

    Am Abend vor der Preisverleihung habe ich noch auf meinem Blog und in diversen sozialen Medien geschrieben, ich schwanke zwischen meinen beiden Favoriten “Identitti” und “Blaue Frau”.

    Beide sind großartige Romane, einmalig und überzeugend und kraftvoll auf ihre jeweils ganz eigene Art. Beide werde ich noch eine ganze Weile empfehlen und verschenken.

    Inzwischen ist einiges geschrieben worden über “Blaue Frau”, daher werde ich es bei wenigen Worten belassen:

    Ein Roman, der beim Lesen Wunden aufkratzt, Dunkelstellen bloßlegt, den Leser:innen nicht erlaubt, die Augen zu verschließen – weder vor Ausbeutung, Sexismus und sexueller Gewalt, noch vor den Machtstrukturen, die diese ermöglichen oder zumindest nicht verhindern. Die Protagonistin muss erkennen, dass ihr erlebtes Unrecht und erlebter Schmerz aberkannt werden, und das nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, die gelernt haben, in einem von Männern geprägtem System erfolgreich zu sein. Die Autorin lässt all das in einer Sprache voller Symbolik anklingen – mal leise und unterschwellig, mal atemberaubend ausdrucksstark.

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  1. Komplex und intensiv

    „Ich frage die blaue Frau, ob es sich nicht umgekehrt verhalte. Ob nicht das Erzählen vor dem Leben geschützt werden müsse, vor dem Gewöhnlichen, dem Vergessen, dem Vergehen der Zeit.“ (Zitat Pos. 1650)

    Inhalt
    Adina, geboren 1984 wächst in einem Dorf im tschechischen Riesengebirge auf, in einem im Winter von Touristen besuchten Schigebiet. Am 18. September 2006, sie ist einundzwanzig Jahre alt, fährt sie nach Berlin. Sie besucht Deutschkurse, denn sie will Geowissenschaften studieren. Durch die Fotografin Rickie erhält Adina eine Praktikumsstelle auf einem Landgut in der Uckermark. Razlav Stein hat das verfallene Anwesen gekauft und will ein Kulturzentrum errichten. Den Namen Adina kann er sich nicht merken, er nennt sie Nina. Es ist ein Abend mit wichtigen Investoren, der ihr Leben völlig verändert. Sie flieht nach Helsinki, wo sie den estnischen Professor Leonides Siilmann, der sie liebevoll Sala nennt, kennenlernt. Eines Abends nimmt dieser sie auf einen Empfang mit, wo ihre Vergangenheit sie einholt. Wer ist diese junge Frau mit den drei Namen, die sich selbst jedoch „Mohikaner“ nennt und wer ist die blaue Frau, die ihre Geschichte begleitet und die Ilse Aichinger zitiert?

    Thema und Genre
    In diesem komplexen Roman geht es um die auch nach dreißig Jahren noch bestehenden mentalen und wirtschaftlichen Grenzen zwischen Ost und West, wobei Finnland das Bindeglied ist. Themen sind Gewalt an Frauen, Traumata, das Wegsehen der Gesellschaft, Ausbeutung, und die Lebensumstände der aus Osteuropa stammenden Menschen im Westen.

    Charaktere
    Die Autorin formt ihre Figuren, sie geht hart und realistisch mit ihnen um. Es geht ihr die tatsächlichen Umstände, Entscheidungen, Handlungen, Befindlichkeiten, die sie genau beobachtet und präzise beschreibt. Adina ist Opfer, weil es die Geschichte einer Frau ist, die durch ein einschneidendes Erlebnis zum Opfer wurde, die Autorin lässt ihrer Hauptfigur keine Wahl für mögliche andere Entscheidungen. Adinas Stärke zeigt sich, wenn der Mohikaner auftaucht, der in ihrer Jugend irgendwann plötzlich da war, eine Art Alter-Ego und ihr vierter Name.

    Handlung und Schreibstil
    Die Geschichte beginnt in Helsinki, wir folgen Adina als Mittelpunkt der personalen Erzählform, sehen durch ihre Augen die Umgebung, die Gegenstände ihrer Wohnung, aber auch Helsinki und die weiteren Orte der Handlung, immer wieder die genauen Beobachtungen der Natur, der Bäume, präzisiert durch Licht und Schatten. Sie erinnert sich an die Zeit mit Leonides, den sie gerade verlassen hat. Der zweite Teil geht in der Zeit zurück und schildert Adinas Ankunft und Neubeginn in Berlin. Es folgt der dritte Teil mit den Ereignissen in dem Landhaus an der Oder, der vierte Teil beschreibt ihren Weg aus der Uckermark bis nach Helsinki und verbindet sich hier mit der Gegenwart. Ergänzt wird die Geschichte durch Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. In einem eigenen Erzählstrang taucht immer wieder die blaue Frau auf, sie trägt einen hellen Mantel und ein blaues Tuch. „Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.“ (Zitat Pos. 146). Die Momente dieser Begegnungen werden von einer Ich-Erzählerin geschildert. Die Autorin überlässt es uns Lesenden, diese Figur zu interpretieren, für mich ist es die Idee zu diesem Roman, zur Figur der Adina und zum gesamten Schreibprozess.

    Fazit
    Ein vielschichtiger, packender Roman mit brisanten aktuellen Themen, mit spannenden Varianten der Erzählperspektiven, mit trotz kleiner Längen sprachlich beeindruckenden Schilderungen, der nachdenklich stimmt und einige wichtige Aspekte der eigenen Interpretation der Lesenden überlässt.

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