Besichtigung eines Unglücks: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Besichtigung eines Unglücks: Roman' von  Gert Loschütz (Autor)
4.35
4.4 von 5 (6 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Besichtigung eines Unglücks: Roman"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag:
EAN:9783895611575

Rezensionen zu "Besichtigung eines Unglücks: Roman"

  1. 4
    11. Nov 2021 

    Von den Zufällen des Lebens

    Kurz vor Weihnachten 1939 kommt es vor dem Bahnhof Genthin zum schwersten Zugunglück der deutschen Geschichte. Ein D-Zug rast mit voller Geschwindigkeit auf einen anderen, stehenden D-Zug – offiziell gibt es mindestens 196 Tote.
    70 Jahre später recherchiert der Journalist Vandersee, der nach diesem Unglück in Genthin geboren wurde, zu diesem Geschehnis und ihm wird klar, dass seine Mutter Lisa, damals ein junges Mädchen, die Folgen miterlebt haben musste. Bei der Durchsicht der Unterlagen fällt ihm der mysteriöse Fall Carla Finck auf, die bei dem Unfall schwer verletzt wurde und sich im Krankenhaus Carla Buonomo nannte. Ihr Begleiter, der im Zug starb, hieß Giuseppe Buonomo und war Neapolitaner, beide waren auf dem Weg von Berlin nach Düsseldorf. In welchem Verhältnis die Beiden zueinander standen, ist noch immer unklar und so forscht Vandersee weiter, was es mit der falschen Namensnennung von Carla Finck auf sich hat. Er findet heraus, dass sie Halbjüdin war und mit Richard Kuiper verlobt, einem Juden aus Neuss. Was machte sie dann mit Buonomo in Berlin?

    Obwohl der Titel suggeriert, dass es hier vorrangig um das Eisenbahnunglück geht, nehmen die Geschichten um Carla Finck und Lisa, der Mutter Vandersees, annähernd den gleichen Raum ein. Wie der Autor selbst nimmt sein Alter Ego die wirklichen Vorgaben (den Aufeinanderprall, die Existenz Carla Fincks, ihres Verlobten und Giuseppe Buonomos sowie die Vorkommnisse im Krankenhaus) neben den für uns fiktiven, aber für ihn realen Personen als Grundlage, die damaligen Geschehnisse zu rekonstruieren. So entsteht eine minutiöse Beschreibung, wie es zu dem Aufprall kam, während Carlas und Lisas Leben meist in Umrissen dargestellt werden. Kein Wunder wenn man bedenkt, dass die Faktenlage hier eher dürftig ist. Doch auf beeindruckende Weise ergänzt er die ihm vorliegenden ‚Tatsachen‘ mit Möglichkeiten, die so wahrscheinlich wirken, dass sie sich wie selbstverständlich als das wirklich Geschehene lesen.

    Ausgangspunkt des Ganzen ist das Unglück, von dem ausgehend ein Teil von Carlas Leben erzählt wird und daran anschließend Lisas, die, nicht ganz unwahrscheinlich, Carla begegnete. An weiteren losen Fäden, die an diesen und Vandersees eigener Geschichte hängen, gibt es zudem eine Reihe zusätzlicher Episoden: Hedwig Vorbeck, die die Toten und Verletzten zur Klinik brachte, wo sie ihr Mann als Arzt versorgte; Stolzenburgs Geschichte, der Ex-Mann von Lisas Tante sowie Der Eisfleck und viele mehr. Auch wenn Gert Loschütz diese ganzen Begebenheiten kunstvoll miteinbindet, finde ich den dazu genötigten Zufall doch etwas bemüht, der alles miteinander verbindende rote Faden ist gegen Ende kaum noch sichtbar.

    Hervorzuheben ist die Sprache des Autors, die zwar eher sachlich-kühl, fast schon wie in einer Dokumentation wirkt, aber ungemein detailliert und bildhaft ist, sodass man dem Geschehenen und den Figuren trotzdem nahe kommt.

    Kein Winter wie aus dem Reiseprospekt, sondern ein dunkler, bedrückender, nach hinten verlegter Totensonntag.

    Eine ungewöhnliche Lektüre, bei der Wahrheit und Fiktion nicht zu unterscheiden sind.

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  1. Intensive Rekonstruktion einer Katastrophe

    Im Dezember 1939 prallen im sachsen-anhaltinischen Genthin zwei Züge aufeinander. Bis heute ist es das schwerste Zugunglück der deutschen Geschichte. Der in Genthin geborene Gert Loschütz widmet ihm seinen neuen Roman "Besichtigung eines Unglücks". Es ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Roman geworden.

    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass dies der erste Roman des Autors ist, den ich gelesen habe. Völlig unverständlich, denn Gert Loschütz präsentiert sich in "Besichtigung eines Unglücks" als herausragender Erzähler mit feinem Gespür für zwischenmenschliche Töne und einer äußerst gelungenen Komposition des Textes.

    Der erste Abschnitt widmet sich in szenischer Darstellung dem Zugunglück fast protokollarisch. Journalist Thomas Vandersee, Erzähler und Protagonist des Romans, erfährt fast beiläufig nach Jahrzehnten über das Unglück in seinem Heimatstädtchen und recherchiert erst stärker darüber, als er eine mögliche Verbindung zur Geschichte seiner Mutter Lisa darin erkennt. Diese protokollarische Rekonstruktion vermittelt eine regelrechte Sogwirkung. Wo die Befürchtung groß sein könnte, dass sich ein Autor in seinen Details verliert, ist diese bei Gert Loschütz völlig unbegründet. Durch die Unmittelbarkeit der Geschehnisse fühlte ich mich zeitweise wie in einem Film. Loschütz streift hier zudem das Genre eines Kriminalromans, vermittelt durch seinen Schreibstil aber zusätzlich eine große Melancholie, die dem Genre oft fehlt.

    In den folgenden Abschnitten widmet sich Erzähler Vandersee den einzelnen Figuren und Schicksalen, die unmittelbar mit dem Unglück zusammenhängen - und findet sich urplötzlich in seiner eigenen Familiengeschichte wieder. Insbesondere die schwer verletzte Carla Finck bleibt für Thomas ein Mysterium, das auf ihn eine seltsame Faszination auslöst. Warum saß Carla mit einem anderen Mann als ihrem Verlobten Richard im Zug und gab sich später gar als die Ehefrau des Verstorbenen aus?

    All dies präsentiert Loschütz mit viel Gefühl und Empathie, ohne auch nur annähernd kitschig zu werden. Durchgehend strahlt der Roman eine Ernsthaftigkeit und Eleganz aus, die in einer wirklich hinreißenden Auflösung münden. Ohne etwas über das Finale verraten zu wollen, kenne ich wohl kaum ein berührenderes und traurigeres in der jüngeren deutschsprachigen Literatur.

    So ist "Besichtigung eines Unglücks" für mich einer der stärksten Romane des Jahres geworden, der sowohl inhaltlich als auch formal überzeugt und mich in beiden Punkten immer wieder überraschen konnte. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal Ähnliches gelesen zu haben. Nachholen muss ich jetzt nur noch, weitere Romane von Gert Loschütz zu lesen, auf die ich mich jetzt schon freue.

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  1. Erst fährst du Zug, dann bist du tot.

    Kurzmeinung: Fängt wirklich toll an und verreißt dann das Thema.

    Das Unglück ereignet sich in Genthin 1939, der Schnellzug D180 fährt auf den Schnellzug D10 auf, der wahrscheinlich aufgrund einer Verwechslung statt des D180 gestoppt worden ist. Es geht alles blitzschnell. Die Züge fahren auf derselben Strecke. Als den Zuständigen klar wird, dass mehrere Haltesignale überfahren wurden, muss man sekundenschnell reagieren. Eine kreisende rote Laterne wird vom zuständigen Streckenwart aus einem Fenster gehalten. Vier Sekunden zu früh. Der D10 bezieht das Signal auf sich und stoppt!!!!

    Solange der Autor sich mit dem Unglück selber beschäftigt, folge ich ihm sehr gerne, da mir „das Unglück“ nicht einmal vom Hörensagen bekannt ist. Erstaunlicherweise haben Lokführer und Heizer des auffahrenden Zuges überlebt. Sie müssen die Haltesignal übersehen haben. Warum? Es ist Winter. Es gibt Tote und Verletzte. Auch der Kälte geschuldet. Wer überlebt hat, aber nicht rechtzeitig geborgen werden kann, erfriert!

    Als der Journalist Thomas Vandersee seine Recherche aufnimmt, sind Lokführer und Heizer verstorben, auch die meisten anderen Zeitzeugen sind uralt oder leben nicht mehr. Man könnte jedoch mit Hinterbliebenen sprechen, denen sicherlich von dem Geschehen erzählt worden ist. Diesen Weg läßt Loschütz seinen Protagonisten nicht gehen.

    Und so rückt das Unglück leider rasch in den Hintergrund, nur um eine damit locker in Verbindung stehende Handlung einzuleiten. So bleibt das Entsetzen lose im Raum stehen, das Romangeschehen stecken.

    Statt dessen fragt sich Vandersee, wie ist eine gewisse Carla in den Zug gekommen? Sie war eine Ansässige, die mit der Mutter von Thomas Vandersee in Kontakt kam. Die Mutter kann man jedoch auch nicht mehr befragen. Auch sie hat das Zeitliche gesegnet. Hatte Carla Kinder? Hätte man diese ausfragen können? Nicht einmal das ist gewiss. Das Trauma des Unglücks hätte interessiert. Davon erfährt man nur andeutungsweise.

    Der Kommentar:
    Geschichte vermittelt zu bekommen ist immer gut. Doch viel mehr als ein paar Unterlagen und Fakten bekommt der Leser nicht. Einen Haufen unbeantworteter Fragen. Vermutungen.

    Irgendwie spielte auch die NS-Zeit in das Geschehen und verhinderte eine exakte Aufklärung. Man durfte nicht alles sagen, was man argwöhnte. Man konnte nicht sagen, dass auch ein Militärzug in der Strecke hing und wahrscheinlich eine gefährliche Verlangsamung des vorausfahrenden Zugs verursachte oder dass wegen des Einzugs von Lokomotiven zu Kriegszwecken im Weihnachtsverkehr zu wenige Personenzüge zur Verfügung standen und zu viele Passagiere eine Verspätung erzwangen, weil sie länger als sonst zum Ein- und Aussteigen brauchten. Menschliches Versagen ist das eine. Umstände, die man nicht anprangern darf, das andere. Bis zu diesem Lesezeitpunkt läuft es einem kalt den Rücken herunter. Wie hätte dieser Roman jetzt weitergehen können?

    Vielleicht hätte er sich weiter mit dem Thema Zufall und anderen Zugunglücken in der Gegenwart beschäftigen müssen. Oder wie Informationen in der NS-Zeit generell verfälscht wurden. Wie viele Kriminalfälle genau deshalb nicht aufgeklärt werden konnten. Diesen Weg wählt Gert Loschütz jedoch nicht. Und auch über andere Verkehrsunfälle lässt er sich nicht aus. Das wäre aber interessant gewesen. Sind die heutigen Vorsichtsmaßen besser?

    Über eine sich damals im Zug befindliche, in Genthin ansässige weibliche Person, leitet Loschütz zur (Biografie der) Mutter des Protagonisten über. Auch sie war eine Genthinerin. Eine halbgare Vatersuche beginnt. Die Verbindungen zum 1939er Zugunglück sind peripher. Das Lokalkolorit, fortgesetzte ausufernde Beschreibungen von Straßenzügen und einzelnen Häusern des Ostens mutet nostalgisch an. Juugenderinnerungen des Autoren vermutlich.

    Einem anrührenden und mitnehmenden Einstieg in das Buch folgt leider gähnende Leere. Schnell verfliegt die Atmosphäre von Kälte und Entsetzen, mit der das Unglück geschieht. Eine Überleitung zu Lokalgeschehnissen, die im Vergleich dazu unwichtig scheinen, können mit dem fesselnden Anfang in keinster Weise mithalten. Warum? Warum nur verschenkt der Autor seinen genialen Auftakt so leichtfertig? Um mir was zu erzählen? Weitere halbgare Geschichten?

    Fazit: Ein Auftakt mit Pauken und Trompten – und dann nichts mehr. Traurig. Was hätte man aus diesem Beginn nicht alles machen können.

    Kategorie: Belletristik
    Schöffling, 2021

    Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021

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  1. 4
    19. Sep 2021 

    Lebenswege

    Kurz vor Weihnachten des Jahres 1939 sind die Züge zum einen wegen der bevorstehenden Feiertage und zum anderen wegen der Kriegseinsätze von Zügen und Lokführern brechend voll. So auch die beiden Züge von Berlin nach Köln und Neunkirchen (Saar). Kurz vor dem Bahnhof Genthin rast der nachfahrende Zug mit großer Geschwindigkeit in den stehenden Zug davor. Die Wagen keilen sich ineinander und viele Menschen sterben. Unter den Verletzten befindet sich auch die junge Carla Finck, die im Krankenhaus allerdings den Namen Buonomo angibt. Jahre später stößt Thomas Vandersee auf diese Begebenheit. Seine eigene Familie stammt aus Genthin und so ist sein Interesse geweckt.

    Was kann man viele Jahre nach so einem schweren Unglück noch herausfinden? Durch die eigene familiäre Verbindung steigt die Hartnäckigkeit. Vandersees Mutter Lisa war zur Zeit des Unglücks bei dem örtlichen Modegeschäft in Ausbildung. Möglicherweise kannte sie Carla Finck sogar. Carlas Schicksal ist von Geheimnissen umgeben. Doch auch Lisa Vandersee ist manchmal nicht gerade auskunftsfreudig, wenn es um die eigene Vergangenheit geht. So wird die Suche von Thomas Vandersee nach dem Schicksal von Carla Finck auch eine Suche nach seiner eigenen Geschichte.

    Der Titel dieses Buches weckt Interesse. Wie kann eine leider in Vergessenheit geratene Zugkatastrophe den Hintergrund für einen spannenden Roman bilden? Der Autor gibt die Antwort darauf. Zum einen hält er sich an die bekannten historischen Vorgaben, zum anderen ersinnt er eine verwickelte Handlung um die junge Carla und auch seine Mutter. Welches Leid brachte das Unglück über die zufällig zusammengewürfelten Reisenden und das Zugpersonal, welche Zufälle bilden die Verbindungen zwischen den beiden Frauen, wie reicht es sogar in das Leben des Berichterstatters hinein? Fragen, die auf eine Art geklärt werden, dass man während der Lektüre gepackt und mitgerissen wird. Menschen haben häufig etwas zu erzählen, man muss sie nur mal fragen. Oder auch auf anderen Wegen versuchen herauszufinden, wie es war. Es gibt tragische Momente und auch hoffnungsvolle, erklärende und es gibt Geheimnisse, die bleiben. Ein überraschender zeitgeschichtlicher Roman, den zu lesen sich unbedingt lohnt.

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  1. Besichtigung von Lebenswegen

    „Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel.“ (Zitat Pos. 600)

    Inhalt
    An diesem 22. Dezember 1939, um 0 Uhr 53, sind die Wetterverhältnisse extrem schlecht und knapp vor dem Bahnhof Genthin prallen zwei Züge aufeinander. Vier entscheidende Sekunden führen zu einem Trümmerfeld mit hunderten Toten und Verletzten und dennoch ist dieses schwere Zugunglück durch die deutsche Geschichte der darauffolgenden Jahre in Vergessenheit geraten. Der Journalist Thomas Vandersee hat seine Kindheit in Genthin verbracht. Als er von einem alten Herrn, der Lisa, die Mutter von Thomas, aus Schultagen vom Sehen kannte, einen Zeitungsartikel über dieses Zugunglück erhält, ist er zunächst nicht interessiert. Doch eine Bemerkung über eine der beiden Unglückslokomotiven, die unter einer geänderten Nummer wieder in Betrieb genommen wurde, ändert alles. Er beginnt zu recherchieren, doch während er versucht, anhand der Akten den Unglückshergang zu rekonstruieren, tauchen eine Reihe weiterer Fragen auf. Carla Finck war in diesem Zug, warum steht ihr Name auf keiner Opferliste? Immer tiefer taucht er in Einzelschicksale ein und gleichzeitig auch in die Vergangenheit der eigenen Familie, in die Geschichte seiner Mutter.

    Thema und Genre
    Was als Recherche zu einem tragischen Eisenbahnunglück beginnt, erweitert sich in diesem Roman rasch zu den Geschichten von irgendwie mit diesem Zugunglück in Verbindung stehenden Menschen mit ihren Beziehungen, Träumen, Geheimnissen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle und den Faktor Zeit, denn es sind immer wenige Sekunden, die alles verändern.

    Charaktere
    Der Autor nimmt sich Zeit für seine Figuren, er schildert ihr Verhalten und Entscheidungen im Kontext mit der damaligen Zeit. Thomas Vandersee erkennt, dass es die Familiengeheimnisse seiner Kindheit und Jugend sind, die ihn prägen.

    Handlung und Schreibstil
    Der Roman umfasst fünf große Teile und Thomas Vandersee als Ich-Erzähler ergänzt die Geschichte noch mit seinen persönlichen Erinnerungen. Der erste Teil führt uns in die Gegenwart, in das Leben und den Alltag des Journalisten Thomas Vandersee als Ich-Erzähler, unterbrochen von minutiösen Schilderungen möglicher Hergänge des Zugunglücks, wie auch die Akten unterschiedliche Versionen zur Klärung der Schuldfrage darstellen. Im zweiten Teil geht es um das Leben von Carla Finck, im personalen Mittelpunkt des dritten Teils steht Lisa, die Mutter von Thomas, der vierte Teil trägt den Titel „Aus den Notizheften“, denn Thomas macht sich zu allen Alltagsereignissen Gedanken und füllt damit Notizhefte, die er alle aufbewahrt, weil sie seine Vergangenheit dokumentieren. Der letzte, fünfte Teil bringt nochmals ergänzende Details zu Carlas Leben, einige Fragen werden gelöst, andere bleiben offen und überlassen es uns, darüber nachzudenken. Die poetische, klare Sprache schildert und beschreibt eindrücklich.

    Fazit
    Dieser facettenreiche Roman ist nicht nur die Besichtigung eines Unglücks, sondern vielmehr eine vielschichtige, intensive Besichtigung von Lebenswegen und folgenreichen Entscheidungen, von Sekunden, die das Leben eines Menschen verändern können.

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  1. Den Anfang finden

    Gert Loschütz hat sich mit dem Verfassen von Theaterstücken, Hörspielen und Romanen einen Namen gemacht und bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten. In seinem letzten Roman „Ein schönes Paar“, der mich sehr begeistert hat und für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert wurde, ließ er den Ich-Erzähler Philipp auf Spurensuche nach seinen Eltern gehen. In „Besichtigung eines Unglücks“ heißt der Ich-Erzähler Thomas Vandersee, der zunächst nur in einem der größten Bahnunfälle der Deutschen Geschichte in der Nähe der Stadt Genthin recherchiert. Diese Spurensuche bildet den Ausgangspunkt, führt den Erzähler aber zu weitreichenden Erkenntnissen aus seinem privaten Umfeld.

    „Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, kein Schnee. Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins.“ (S.16)
    Zwei Züge haben denselben Bahnhof verlassen, zunächst im Abstand von rund einer halben Stunde. Durch Verkettungen unglücklicher Umstände kommt es zur Katastrophe: Der D 180 fährt mit voller Geschwindigkeit auf den stehenden D 10 auf. 196 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt. Welche Umstände haben dazu geführt? Vandersee ermittelt akribisch in Akten und Protokollen, denen auch persönliche Dokumente beiliegen. Es kam damals zu einer Verurteilung, aber war der Verurteilte auch der Schuldige? Unglaublich geschickt streut der Autor in fast protokollarischem Stil Zweifel, deckt unberücksichtigte historische Fakten auf, die einen neuen Blick auf den Fall gewähren und die Neugier des Lesers wecken: Waren wirklich nur vier Sekunden für den Unfall entscheidend? Recht schnell verweben sich die diesbezüglichen Recherchen mit der Mutter des Ich-Erzählers, die damals im Städtchen Genthin lebte und offenbar eine (lose?) Verbindung zu der überlebenden Passagierin Carla Finck hatte, die sich jedoch aus unbekannten Gründen anschließend als Carla Buonomo ausgab.

    Im zweiten Teil des Romans werden die Spuren einer unglücklichen Liebesgeschichte verfolgt. Eben jene Carla war mit dem deutlich älteren Juden Richard verlobt, eine Verbindung, die in jenen Zeiten unter einem sehr schlechten Stern stand: „Was ihm Furcht machte, war ja kein Hirngespinst, es gab allen Grund zur Furcht, so wie es umgekehrt freilich gute Gründe gab, sich gegen sein wollüstiges Einverständnis mit dem Unglück zu wehren. Ja, nennen wir es so, Unglück, weil auch Carla es so nannte: diese ungeheure Anhäufung von Erniedrigungen und Unrecht, für das sie das Sammelwort unser Unglück hatte.“ (S. 144)

    Warum befand sich Carla unter fremdem Namen mit einem italienischen Begleiter im Zug, während ihr Verlobter hunderte Kilometer entfernt in einer Sammelunterkunft für Juden lebte? Hatte sie Verrat an ihm begangen oder versuchte sie, den Geliebten zu retten?

    Auch der Journalist Vandersee lebt in einer Beziehung, die er selbst als Verrat am betrogenen Ehemann seiner Geliebten Yps bezeichnet. Seine umfängliche Recherche im Umfeld des Zugunglücks führt ihn immer näher an verdrängte Erinnerungen, zur mittlerweile verstorbenen Mutter sowie zur eigenen Gegenwart heran. Klar wird, dass es trotz aller Mühen nicht für alle Zusammenhänge einen Beweis, eine Erklärung gibt. Zudem erweist sich manche Erinnerung als unzuverlässig.

    Gert Loschütz serviert uns keine einfachen Wahrheiten und wohl auch keinen perfekten Roman. Das Buch ist in fünf unterschiedlich lange Teile gegliedert, deren Verbindung sich erst nach und nach erschließt und mich stellenweise an einen Episodenroman denken ließ. Dennoch hat mich die intensive Spurensuche enorm gefesselt. Betrachtet wird nämlich nicht nur ein Unglück, sondern mehrere. Die verschiedenen Ebenen werden gekonnt verzahnt. Dabei erweist sich der Autor einmal mehr wieder als herausragender Stilist. Seine Perspektivwechsel ergeben sich schlüssig, sein Erzählton ist präzise sowie elegant. Umgebung und Atmosphäre werden in intensiven, eindrücklichen Beschreibungen geschildert.

    Loschütz beherrscht die Verzahnung historisch nachgewiesener Fakten mit der Fiktion rund um authentisch wirkende Lebensgeschichten widersprüchlicher und komplexer Figuren perfekt. Mit Fortschreiten der Lektüre ergeben sich immer stärker hervortretende Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen. Erst die letzten Seiten liefern dabei das entscheidende Schlüsselmoment.

    Es ist ein weitgehend melancholischer Ton, der uns durch den Roman begleitet. Er ist von großer Sachlichkeit und Genauigkeit geprägt. Die Themen stehen übergreifend und vielfältig im Raum. Der schreckliche Bahnunfall ist der Aufhänger für weitere Schicksale im Umfeld der Katastrophe. Es geht um Liebe, Verrat und Loyalität. Es geht um den Einfluss der NS-Diktatur in die Justiz, um den Umgang mit Juden. Aber auch um Vergangenheitsbewältigung und die Suche nach Herkunft und Wurzeln. Vandersee entdeckt Doppeldeutiges, lässt uns an seinen Gedankenspielen teilhaben: So könnte es gewesen sein; vielleicht aber auch ganz anders. Frei von jeglicher Schönfärberei werden nicht alle Fragen beantwortet. Damit müssen die Leser zurechtkommen. Auf alle Fälle ist „Besichtigung eines Unglücks“ ein höchst intensives, anspruchsvolles Leseerlebnis, auf das es sich einzulassen lohnt und dem ich große Anerkennung wünsche.

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