Augenblicke in Bernstein: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Augenblicke in Bernstein: Roman' von Yoko Ogawa
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Augenblicke in Bernstein: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:336
Verlag: Liebeskind
EAN:9783954381005

Rezensionen zu "Augenblicke in Bernstein: Roman"

  1. 4
    28. Mai 2022 

    Kindheit und Traumwelt...

    Eine Frau reist mit ihren drei Kindern in einen abgelegenen Kurort, um sich dort in einem alten Haus niederzulassen, das einst von ihrem Mann bewohnt wurde. Den Kindern wird aufgetragen, alles zu vergessen, was in ihrem bisherigen Leben eine Rolle spielte, damit sie sich keiner Gefahr aussetzen. Mithilfe eines Wissenschaftslexikons, das aufs Geratewohl aufgeschlagen wird, dürfen sie sich sogar neue Namen geben. Die Mutter untersagt ihnen, das Anwesen zu verlassen, und doch sind sie überglücklich mit ihrem neuen Leben. Umgeben von hohen Mauern, inmitten eines verwunschenen Gartens, erfinden sich die Kinder ihre eigene Welt. Riesige Bäume, ein Bachlauf, viele Tiere, die von der Stille angezogen werden – alles um sie herum sorgt für Verwunderung und dient als Quell der Fantasie. Eines Tages jedoch betritt ein Hausierer den Garten, der fremde, wundersame Dinge aus seinen Taschen hervorzaubert, die für die Menschen dort draußen scheinbar von Belang sind. (Klappentext)

    Vor sieben Jahren las ich zuletzt einen Roman von Yoko Ogawa - vollkommen unverständlich, weiß ich die Erzählungen der japanischen Autorin doch sehr zu schätzen. Und gleich nach den ersten Zeilen dieses Romans wusste ich wieder, weshalb ich so gerne in die Bücher Ogawas eintauche. Der eigentümliche Zauber des Schreibstils nahm mich erneut sogleich gefangen.

    Eine wieder einmal leise Erzählung ist es, die Yoko Ogawa hier präsentiert. Im Mittelpunkt stehen drei Kinder, deren Mutter nach dem Tod ihrer jüngsten Tochter darauf bedacht ist, sie vor allem Bösen zu beschützen. Sie flüchtet mit ihnen in eine alte Villa, in der einst der Vater der Kinder wohnte. Alles, was vorher war, sollen die Kinder zu ihrem Schutz vergessen, sogar ihre Namen. Die Mutter trägt ihnen auf, sich aus einer Enzyklopädie einen neuen Namen zu wählen - die älteste Tochter wird so zu Opal, die beiden Söhne zu Achat und Bernstein - stets leise zu sein und fortan das Grundstück nicht mehr zu verlassen.

    Kinder sind Kinder und hinterfragen nicht, was ihre Eltern anordnen. Und so finden sich auch Opal, Achat und Bernstein, aus dessen Perspektive das Geschehen um die drei Kinder geschildert wird, in ihre neue Realität ein. Sie begnügen sich mit dem, was das alte Haus und der große, verwunschene Garten an Möglickeiten hergibt und über Spiel, Musik sowie ein großes Maß an Fantasie kreieren sie sich eine gemeinsame Welt. Die drei lernen aus unzähligen Enzyklopädie-Bänden, die sich in dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters finden und die er seinerzeit herausgegeben hat. So beschäftigt sich jedes Kind mit Themen, die es gerade interessieren.

    Bernstein entdeckt sein Talent zum Zeichnen und beginnt, an den Rändern der Seiten der Enzyklopädie-Bände fortlaufende Zeichnungen zu hinterlassen, die, vom Daumen in der richtigen Geschwindigkeit abgeblättert, vor den Augen des Betrachters aus den einzelnen Bildern eine fortlaufende Bildfolge entstehen lassen. So kehrt die verstorbene kleine Schwester in den Kreis der Familie zurück, versteckt und sicher zwischen den Seiten der Enzyklopädie, und entzückt Mutter und Geschwister mit ihren kleinen Geschichten.

    Die Erzählung wechselt zwischen dem Geschehen in der Vergangenheit, in der die drei Kinder jahrelang in ihrer eigenen Welt lebten, als die Macht der Fantasie alles bedeutete, und den Ereignissen in der Gegenwart, in der Bernstein sich in einer Seniorenresidenz befindet. Andeutungen verraten dem/der Leser:in schon frühzeitig, dass die befremdlich-schöne Traumwelt der Kinder eines Tages ein Ende findet, doch erst am Ende des Romans erfährt man, was genau geschah. Diese Verschachtelung von Gegenwart und Vergangenheit ist Ogawa gut gelungen, und Bernsteins Sehnsucht nach Stille, den Blick auf das Vergangene gerichtet, und sein Wunsch, Vergangenes am Rande eines Buches zeichnerisch zurück ins Leben zu holen, sind auch im Alter ungebrochen.

    Ogawa beherrscht die Kunst, auf eine unaufgeregt-poetische Art einsame Leben zu präsentieren, die leise am Rande der Gesellschaft existieren und letztlich dennoch erfüllt scheinen. Bernstein ist also niemand, der einem leid tun muss, sondern letztlich jemand, den zu kennen man sich wünschen würde.

    Abgesehen von einigen etwas langatmig anmutenden Passagen wieder einmal ein großartiger Roman, der mich in meiner Absicht bestärkt, noch weitere Werke von ihr lesen zu wollen. Hoffentlich nicht erst wieder in sieben Jahren...

    © Parden

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