Aufstieg in den Abgrund

Rezensionen zu "Aufstieg in den Abgrund"

  1. 3
    06. Dez 2022 

    Carola Neher

    Der deutsche Journalist und Autor Holger Haase erzählt in dem biografischen Roman „Aufstieg in den Abgrund" das Leben der Carola Neher, einem gefeierten Bühnenstar der 20er Jahre.
    Der dramatische Titel des Romans wird dem spektakulären Werdegang einer Carola Neher dabei mehr als gerecht.

    In ärmlichen Verhältnissen, im Jahr 1900 geboren, avancierte Carola bereits in jungen Jahren zum gefeierten Bühnenstar in Deutschland. Dafür sorgten nicht nur Talent, Ehrgeiz und harte Arbeit, sondern auch Carolas Fähigkeit, sich in der Öffentlichkeit, abseits der Bühne, gekonnt in Szene zu setzen. Skandale, wechselnde Männerbekanntschaften, ihre Nähe zu Persönlichkeiten aus Kultur und Politik - Carola blieb den Menschen im Gedächtnis. Doch die Politik und das Weltgeschehen stoppten schließlich den Aufstieg der Carola Neher. In den 30er Jahren geriet sie in russische Gefangenschaft.
    Der Roman „Aufstieg in den Abgrund" setzt im Jahre 1939 ein. Carola wird von dem russischen Vernehmungsbeamten Kusnezow in Moskau zu ihrem Leben befragt. Durch unzählige Verhöre erfährt der Leser, wie Carola Neher von einer der prominentesten und gefeierten Bühnenstars ihrer Zeit zu einer Staatsfeindin der Sowjetunion werden konnte.
    Die Handlung dieses Romans konzentriert sich dabei auf zwei Ebenen. Neben den Erinnerungen der Carola Neher, die chronologisch wiedergegeben werden, lesen wir in einem zweiten Handlungsstrang über ihren Aufenthalt und ihren Alltag in dem russischen Gefängnis in Moskau, unterbrochen von den Verhören durch Kusnezow.
    Der Beamte zeigt dabei ein gesteigertes Interesse an der Gefangenen Carola Neher. Zwischen den beiden Protagonisten entwickelt sich ein Psychospielchen, in dem jeder versucht, seine persönlichen Interessen zu wahren und den anderen zu manipulieren - ein vielversprechender Ansatz, der Erwartungen bei mir geschürt hat, die aber nur bedingt erfüllt worden sind.

    Der interessante Teil des Romans ist der Werdegang von Carola Neher und die Frage, wie es zu ihrem Abstieg kommen konnte. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus ihrer Biografie, die untrennbar mit der Geschichte Deutschlands in der Zeit von 1900 bis hin zu Hitler-Deutschland verbunden ist. Der Autor Holger Haase gewährt uns dabei interessante und detaillierte Einblicke in die deutsche Kulturszene dieser Jahre. Dem Leser begegnen dabei unzählige Personen der Öffentlichkeit, und schnell wird bewusst, dass es kaum jemanden aus dem Kulturbetrieb gab, den Carola Neher nicht kannte. Ein Manko an diesem Part des Romans war für mich Holger Haases Fixierung auf die äußere Erscheinung seiner Figuren, insbesondere bei den weiblichen Charakteren. Haase ist zu sehr bemüht, den Kleidungsstil seiner Personen wiederzugeben. Seine detaillierten Beschreibungen zu Schnitt, Material und Farbe wirken stellenweise deplatziert und wie nachträglich eingefügt, was ich als störend empfunden habe.
    Der schwächere Teil dieses Romans war für mich das Psychospielchen zwischen dem Vernehmungsbeamten und Carola sowie die Beschreibung des Gefängnisaufenthaltes. Die Motive von Kusnezow sind zunächst geheimnisvoll und stellen den Beginn eines Spannungsbogens dar, der durch ein paar Andeutungen und Cliffhanger gesteigert wird. Doch leider setzt Holger Haase diese stilistischen Werkzeuge zu offensichtlich ein und nimmt ihnen damit ihre Wirkung. Durch den übermäßigen Einsatz eines weiteren Stilmittels (Wiederholung) produziert Holger Haase sogar einen „Störfaktor": alle paar Seiten - vom Anfang bis zum Ende dieses Buches wird der Leser mit einem sogenannten „Vierkant" konfrontiert, dem Gefängniszellenschlüssel und die damit verbundenen Geräusche. Diese Wiederholungen mögen banal erscheinen, doch haben sie einen großen Einfluss darauf, wie man die Lektüre dieses Romans wahrnimmt. Ich war genervt.

    Die Lebensgeschichte von Carola Neher ist definitv erzählens- und lesenwert. Die Informationen, die uns Holger Haase in seinem Roman mitgibt, liefern ein umfangreiches Bild der Schauspielerin. Doch für mich wirkt dieser Roman zu bemüht, was sich an dem übertriebenen Einsatz von Stilmitteln, sowie das Verlieren in Details bei der Schilderung von Äußerlichkeiten seiner Charaktere, erkennen lässt. Dadurch nimmt der Autor
    seinem Roman ein Stück Ernsthaftigkeit, was wiederum zu Lasten der literarischen Qualität geht. Und das ist sehr schade.

    © Renie

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  1. Die Lebensgeschichte eines vergessen Stars

    Carola Neher: Sie war jung, schön, talentiert. Als Schauspielerin feierte sie in den 1920ern so manchen Bühnenerfolg, galt als eine der Musen Bertolt Brechts und verkehrte in der Gesellschaft vom Hochadel bis zu den Salonkommunisten. Carola Neher konnte ihre Vorzüge gut vermarkten und dennoch ist sie heutzutage nahezu unbekannt.

    Nach großem Ruhm folgte der fatale Absturz, als sie mit ihrem zweiten Ehemann Anatol Becker in die Sowjetunion emigrierte. Als vermeintliche Terroristin wurde sie dort zu mehreren Jahren Strafgefangenenlager verurteilt.

    Der Journalist Holger Haase, widmet sich in der fiktionalen Biografie „Aufstieg in den Abgrund“ dem schillernden Aufstieg bis zum erschütternden Ende dem Leben Carola Nehers.
    Die Handlung beginnt im Jahr 1939, als Carola Neher nach einigen Jahren absolvierter Haft in die Moskauer Butyrka verlegt wird. Es sind unzählige Verhöre durch den sowjetischen Geheimdienst, die Auskunft geben über Carola Nehers Leben. Allerdings werden diese Rückblenden nicht aus Sicht Carolas erzählt, es fehlt die Ich-Perspektive und die Reflexion.

    Die große Ironie der Lebensgeschichte ist, dass Carola Neher als Kommunistin von Nazideutschland ausgebürgert wurde und das Sowjetregime ihr unter anderem vorwarf, nie Mitglied der kommunistischen Partei gewesen zu sein. Was aber den großen Bruch in Carola Nehers Lebenslauf verursacht hat, wie, aus der vollkommen unpolitischen Schauspielerin eine Sympathisantin mit dem Kommunismus wurde, kommt nicht eindeutig zum Ausdruck.

    Es lässt sich erahnen, dass der sowjetische Geheimdienst Pläne mit der deutschen Inhaftierten hat. Doch die gesamte Situation in der sowjetischen Haft wirkt unrealistisch und konstruiert.

    Ich bin sicher der Autor hat das Leben der Carola Neher und den zeitgeschichtlichen Hintergrund gut recherchiert, aber statt einer mit Theaterdonner aufgepeppten Geschichte, hätte ich lieber eine Biografie anstatt eines Romans gelesen.

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  1. 3
    04. Dez 2022 

    Ein Roman über Carola Neher

    Carola Neher, in der Goldenen Zwanzigern als schönste Frau Deutschland und begabte Schauspielerin groß gefeiert, von vielen bewundert und beneidet, endete als Sträfling in einem sowjetischen Gefängnis. Ihre Lebensgeschichte ist ungewöhnlich und sehr spannend, deswegen reizte mich das biografische Roman über sie, der aus der Feder des Journalisten Holger Haase stammt.

    Wie der Autor im Nachwort selbst erklärt, gibt es viele Nachweise über das Leben von Carola Neher in Deutschland. Diese autobiografischen Belege dienten ihm als Grundlage für den Roman über die Schauspielerin. Die Erzählung über die Zeit des Exils entspringt mehr der Fantasie des Autors, weil über diesen Lebensabschnitt der Protagonistin nur wenige Zeugnisse gibt.

    Zwar ist das Schicksal von Carola Neher bewegend, aber der Roman hat mich nicht wirklich berührt. Besonders der erste Teil über ihre glänzende Karriere in Deutschland, emotionslos und trocken erzählt, ähnelt mehr einem sachlichen Bericht als einem Roman. Der Schauspielplatz der Geschichte wirkt theatralisch, die Protagonistin bleibt unsympathisch und unnahbar. Dieser Teil des Romans lässt sich nur zäh lesen, die Geschichte konnte mich nicht packen.

    In dem zweiten Teil des Romans lässt der Autor die Protagonistin besser kennenlernen, ihr oft nicht nachvollziehbares Verhalten besser verstehen. Carola Neher, die sowohl auf der Bühne wie auch privat große Erfolge feierte, musste zum Schluss, bei den Verhören vom sowjetischen Geheimdienst, die schwerste Rolle ihres Lebens spielen. Denn auf dem Spiel standen diesmal entweder ihre Rückreise nach Deutschland oder Gulag; es war ein Spiel um Leben und Tod.

    Die Lebensgeschichte des einst gefeierten Stars ist tragisch und bewegend. Da mich aber der Roman darüber nicht überzeugen konnte, kann ich das Buch lediglich mit drei Sternen bewerten.

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  1. Gut recherchiert, aber nicht durchweg überzeugend

    Ich gebe es offen zu: die ersten zwei Drittel von Holger Haases „Aufstieg in den Abgrund“, in dem er das Leben der in den Zwanziger und Dreißiger Jahren sehr populären Schauspielerin Carola Neher nachzeichnet, hat mich fast verzweifeln lassen – zu viele Dinge haben mir schlichtweg Kopfschmerzen bereitet. Neben dem äußerst vorhersehbaren und konventionellen Aufbau des Romans mit einer in einem sowjetischen Gefängnis angesiedelten Rahmenhandlung, die über weite Strecken doch einiges an Glaubwürdigkeit vermissen lässt, sah ich mit Figuren konfrontiert, die holzschnittartig viele Klischees zu erfüllen scheinen und deren Charakterentwicklung hauptsächlich über wenig originelle Dialoge erfolgen soll. Die Atmosphäre des Gefängnisses z.B. wurde hauptsächlich durch das sich gebetsmühlenartig wiederholende Geklapper eines Vierkantschlüssels evoziert, welches Carolas Gang zum Verhör begleitet. Die Verhör-Passagen, die dazu genutzt werden, Carola Nehers Leben aufzuarbeiten, hätten durchaus interessant werden können, doch leider nutzt die Erzählung aus unerfindlichen Gründen nicht die naheliegenden Ich-Perspektive und gefällt sich stattdessen in einer doch sehr klischeebehafteten heterodiegetischen Erzählsituation, deren zeitgenösssiches Kolorit wiederum im Wesentlichen durch zahlreiche Beschreibungen von Kleidungsstücken hervorgerufen werden soll. So weit, so unbefriedigend.

    Allerdings schafft der Roman es im letzten Drittel dann doch noch das Ruder herumzureißen. Nicht nur werden Schreibstil und Figurenzeichnung sehr viel glaubwürdiger, auch die Geschichte an sich erhält eine neue Tragweite und Tragik, bedingt natürlich nicht zuletzt dadurch, dass Carola Neher einige sehr unglückliche Entscheidungen trifft. Besonders die Szenen, die in der Isolationshaft und in Sowjetrussland angesiedelt sind, sprechen eine eindrückliche Sprache und versöhnen doch sehr mit dem vorangegangenen, oberflächlich-einfachen geschriebenen Geschehnissen. So bleibt unterm Strich ein Roman, der sicherlich gut recherchiert und auch gut imaginiert wurde, dem es jedoch sehr gut getan hätte, wenn er in seiner Gesamtheit den Ton der letzten 30% getroffen hätte, denn die waren wirklich überzeugend.

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  1. Bericht über eine schillernde Persönlichkeit

    Bericht über eine schillernde Persönlichkeit

    Holger Haase hat sich für sein Debüt eine schillernde und interessante Persönlichkeit ausgesucht. Carola Neher, die um 1920 mit ihrer Schauspielkarriere begann und schnell eine sehr begehrte Schauspielerin wurde. Leicht war es nicht für sie, viele Rollen führten aber irgendwann zum Erfolg. Zu großem Erfolg, auch wenn sie heutzutage kaum noch jemand kennt.
    Erwähnenswert ist ebenfalls, dass sie wusste wie sie auf andere wirkt, und dies auch strategisch eingesetzt hat um voranzukommen.
    Als sie später durch ihren Mann Anatol Becker, mit dem sie später in der Sowjetunion lebte, in den Fokus geriet und sie als Denunziantin verurteilt wurde, wird eine Lebensspanne eingeleitet, die nichts mehr mit Ruhm zu tun hat. Vieles in „Aufstieg in den Abgrund" zeigt, wie der triste Alltag und die Entbehrungen in der Anstalt an den Kräften der Frauen zehrte.

    Der Autor erzählt in Rückblenden sehr detailliert vom Leben von Carola Neher. Er beginnt in der Kindheit, und arbeitet sich zu ihrer Anstellung in einer Bank vor, um dann jedes Gastspiel, jedes Theaterstück in dem sie Auftritt zu beschreiben. Der Leser bekommt durch diese Erzählweise einen sehr umfangreichen Eindruck der Karriere. Interessant ist die Art und Weise wie diese Zeit aufgearbeitet wird. Sie wird verhört von einem Leutnant, der dann im Anschluss entscheiden soll, ob sie aus der Gefangenschaft entlassen werden kann, und nach Deutschland überführt wird.
    Man merkt, dass Carola sich mächtig ins Zeug legt, sie möchte dem Leutnant beweisen, dass sie ohne Schuld und eigenes zutun in diese Lage gekommen ist. Sie lässt keine Ereignisse aus, und lässt Leutnant Grigori an allem teilhaben was ihr bisheriges Leben ausmacht.

    Für mich war es ein zweischneidiges Erlebnis dieses Buch zu lesen. Die Geschichte wie Carola Neher zu Ruhm und Erfolg kam, ist gut aufgearbeitet, hervorragend recherchiert. Dem Autor gelingt es tatsächlich alle wichtigen Eckdaten unterzubringen, doch dies geschieht in meinen Augen nur mäßig mitreißend. Gestört hat mich ebenfalls, dass mit dem Verhör zwischen dem Leutnant und der Neher laut Beschreibung etwas tiefergehendes suggeriert wurde. Ich habe ständig auf irgendwelche psychologischen Kniffe gewartet, die allerdings ausblieben. Das Verhör diente lediglich als Einstieg, um die Lebensgeschichte aus Sicht der Schauspielerin Revue passieren zu lassen.

    Wer sollte dieses Buch lesen? Sicherlich ist es für Menschen sehr ergiebig, die sich für diese Zeit interessieren. Auch für Leser, die sich über die Schauspielkunst und die Idole aus der damaligen Zeit gerne informieren möchten, oder sich bereits ein Bild machen konnten und die das ein oder andere neue erwarten. Größen wie Brecht, Rühmann und Moser finden Erwähnung und runden das Ganze ab, für Fans daher sicher ein Erlebnis.

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  1. Interessant, aber in Aufbau und Sprache nicht überzeugend

    Der Ruhm von Schauspielerinnen und Schauspielern ist vergänglicher als der anderer Kunstschaffender. Selbst eine auf deutschen Bühnen in den 1920er- und 30er-Jahren gefeierte, als Brecht-Darstellerin und für ihren skandalumwitterten Lebenswandel sehr bekannte Bühnengröße wie Carola Neher (1900 – 1942) ist heute nahezu vergessen, trotz ihres dramatischen Lebenslaufs.

    Der Journalist und Autor Holger Haase stellt in seiner Romanbiografie "Aufstieg in den Abgrund" die belegbaren Lebensstationen detailliert dar und überbrückt, wie in diesem Genre üblich und legitim, Lücken mit Hilfe von Fantasie und wenigen erfundenen Nebenfiguren.

    Spielball von Diktatoren
    Die Handlung setzt im Dezember 1939 ein, als Carola Neher gut drei von zehn Jahren Haft im Wladimir Zentralgefängnis, einem Stalinschen Zuchthaus, verbüßt hatte und überraschend zusammen mit anderen deutschen Gefangenen wie Zenzl Mühsam und Margarete Buber-Neumann in eine Luxuszelle in der Moskauer Butyrka verlegt wurde. Ein Verhörmarathon mit einem NKWD-Leutnant sollte über ihre Auslieferung an Nazi-Deutschland entscheiden, ermöglicht durch den Hitler-Stalin-Pakt, und für die von den Nazis ausgebürgerte Schauspielerin von besonderer Brisanz. Trotzdem setzte sie, angespornt von ihren Zellengenossinnen, alle Hoffnungen auf die Ausweisung:

    "Du bist Schauspielerin, Carola. Spiel dem Genossen Leutnant die Rolle deines Lebens vor. […] Umgarn ihn, bis er dir zuliebe tut, was in seiner Macht steht. Und dich ausweist." (S. 41)

    Unterbrochen werden die stereotyp verlaufenden Verhöre durch weitschweifige Rückblenden in Carola Nehers Leben und Karriere, allerdings nicht aus der Ich-Perspektive, so dass nie ersichtlich wird, was und wie sie dem Leutnant tatsächlich erzählt. Inhaltlich geht es um den kometenhaften Aufstieg der ehrgeizigen Tochter eines Musiklehrers und einer Kneipenwirtin zum gefeierten Bühnenstar, der alles dem Erfolg unterordnete. Die vielen Theaterstationen, Rollen, Kleider, Promibekanntschaften und Liebesbeziehungen führten bei mir zu großer Ermüdung. Mehr als die reinen Aneinanderreihungen und Inhaltsangaben bekannter Bühnenstücke hätten mich Inszenierungskonzepte und Charaktere interessiert.

    Eine scheinbar unmotivierte Kehrtwende
    Der Bruch in Carola Nehers Leben kam einige Jahre nach der kurzen Ehe mit dem früh verstorbenen Schriftsteller Alfred Henschke, genannt Klabund (1890 – 1928). Für mich völlig unvermittelt entwickelte sie eine Neigung zur KPD, lernte Russisch und warf für Mutterschaft und eine für mich nicht nachvollziehbare Ehe mit dem jungen Kommunisten Anatol Becker weg, wofür sie zuvor mit allen Mitteln gekämpft hatte: Karriere, Ruhm, Erfolg, Luxus. Zu keiner Zeit war diese Wendung mit dem Weggang in die Sowjetunion, die so gar nicht in der Figur angelegt war, für mich nachvollziehbar.

    Die Protagonistin bleibt fremd
    Trotz spürbar gründlicher Recherchearbeit konnte mich die Romanbiografie nicht überzeugen, weder in der Struktur mit den Rückblenden, noch sprachlich mit dem Übermaß an Dialogen, die aufgesetzt, belehrend und selten unauthentisch wirkten. Dadurch blieb mir die Protagonistin fremd in ihrem meist naiven, übertrieben einfachen Reden, Denken und Handeln, das so gar nicht zu einer Schauspielerin dieses Kalibers passen will. Schade auch, dass die Fußnote auf Seite 102 die Spannung nimmt, denn ich hatte mich bewusst vorher nicht informiert.

    Trotz einer Steigerung im letzten Romandrittel und des zweifellos umwerfenden Stoffs - warm geworden bin ich mit dem Buch bedauerlicherweise nicht.

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  1. Carola Nehers kurzes Leben zwischen den Kriegen.

    Carola Neher, geboren im November 1900 in München, war eine gefeierte Schauspielerin und vielleicht Deutschland erstes It-Girl. Ihre Ehe mit dem berühmten Schriftsteller Klabund, Alfred Henschke, währte nur 3 Jahre. Er starb 1928 an Tuberkulose. Überzeugt davon, dass es Alfreds Wunsch war, arbeitete Carola weiter an ihrer Karriere und mit Bertold Brechts Stücken, kam sie nicht nur diesem Ansinnen nach, sondern wurde anscheinend auch der Wunsch in ihr geweckt, dem einfachen Volk wieder ein wenig näher zu kommen.
    Die politischen Umbrüche der 1930er Jahre, der zunehmende Unmut in der Arbeiterklasse, Versammlungen der opponierenden Bewegungen, trieben auch Carola Neher in den Dunstkreis der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands). Sie lernte Anatol Becker kennen und heiratete ihn 1932. Mit ihm zusammen emigrierte sie 1934 in die Sowjetunion. Becker war auch der Vater ihres Sohnes Georg. Deutschland entzog ihr daraufhin die deutsche Staatsbürgerschaft und das Ehepaar geriet auch im vermeintlich kommunistischen Paradies in politische Schwierigkeiten.

    Die Romanbiografie "Aufstieg in den Abgrund" setzt am 20. Dezember 1939 im Zentralgefängnis von Wladimir ein. Carola Neher sitzt hier ein, wird aber an diesem Tag nach Moskau in das Butyrka überführt. Dort trifft sie in ihrer Zelle auf alte Bekannte aus Deutschland und gemeinsam überlegen sie, ob sie eine Chance auf Ausweisung aus der Sowjetunion im Gefangenenaustauschprogramm zwischen Stalin und Hitler haben. Für Carola beginnt ein Verhörmarathon mit dem NKWD Offizier (Innenministerium) Kusnezow, in dem wir alles über Carolas Leben erfahren.

    Diese Rückblenden auf Carolas Leben sind detailreich, aber gleichzeitig losgelöst vom Dialog mit dem NKWD-Offizier. Alle Stationen Nehers, Engagements, Bekanntschaften mit Berühmtheiten, Beschreibungen von Kleidungstücken, Kurzfassungen der Theaterstücke, sprich, sämtliche belegten biografischen Daten finden sich in beeindruckender Vollständigkeit hier wieder. Was dem Buch fehlt, ist der erzählerische Zusammenhang zwischen den Ereignissen in der Haft und der Erzählung Carolas.
    Hier und da blitzen ein paar Anhaltspunkte hervor, was Carola dazu veranlasst hat, die Ehe mit Klabund einzugehen, Anatol zu heiraten, oder in die Sowjetunion zu gehen, aber es bleiben reine Spekulationen, die, so völlig losgelöst von den Fakten, im Raum stehen bleiben und wie aus Wikipedia "abgeschrieben" erscheinen. Dabei hätte die politische und/oder menschliche Seite dieser Entscheidungen einen deutlichen Mehrwert verdient gehabt. Die Einführung weniger fiktionaler Figuren haben ihr Potential nicht ausspielen können und so bleibt ein merkwürdig emotionloser, trockener Bericht über eine deutsche Schauspielerin, die zwischen die Mühlen der Mächte geriet und dafür mit ihrem Leben bezahlte. Es war eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera, auf die Carola letztendlich doch keinen Einfluss hatte. Ein Schicksal, das in diesen Zeiten viele teilten und an dem ein Herr Brecht oder Hohenzollern Thronfolger Wilhelm auch nichts änderten.

    Ich hätte mir eine gefühlvollere Darstellung dieses kurzen Lebens gewünscht, nicht nur angesichts der Verhältnisse in den sowjetischen Gefängnissen, sondern auch den atemraubenden Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen geschuldet.

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  1. 3
    27. Okt 2022 

    Ein Künstlerleben ausgelöscht von gleich zwei Diktaturen

    Carola Neher ist eine deutsche Schauspielerin, die in den kulturell beschwingten 1920er Jahren mit den besten Regisseuren und Autoren auf den besten Bühnen Deutschlands zusammenarbeiten konnte und dabei einen bedeutenden künstlerischen Aufstieg erlebte. Doch auch das erfolgreichste Leben bleibt nicht unberührt von verheerenden politischen Strömungen, und von denen gab es in den folgenden 1930er Jahren die besonders unglückseligen nicht nur in Deutschland. Und davon bekommt Carola Neher in ihrem Leben eine besonders große Ladung ab, die letztlich ihren Tod im Alter von nur 42 Jahren in einem sowjetischen Lager besiegelte.
    Dieses Leben führt Holger Haase den Lesern seines Romans „Aufstieg in den Abgrund“ mit einer ganz besonderen Konstruktion vor Augen. Er versucht die Fiktion aufzubauen, als erführen wir über ihr Leben ziemlich direkt aus den Verhören, die ein sowjetischer Leutnant mit ihr im Moskauer Butyrka-Gefängnis führt. In die Zeitebene wechselnden Kapiteln springen wir also zwischen dem Leben der Carola Neher in Baden-Baden, Berlin, Breslau usw. und ihrem Gefängnisalltag in Moskau mit den Nerven aufreibenden Verhören, mit denen sie versuchen will, ihre Ausweisung nach Deutschland zu erreichen, hin und her. Das Fatale dabei ist, dass sie wohl selber weiß, dass beide Optionen – Deutschland oder die Sowjetunion – ihr Unheil bedeuten. Sie kann nur das eine lebensgefährdende Unglück gegen das andere lebensgefährdende Unglück eintauschen. Denn auch in Deutschland droht ihr unter den Nationalsozialisten nichts anderes als Lager und Lebensgefährdung. Und doch kämpft sie verbal mit ihrer erzählten Lebensgeschichte und mit dem Versuch, den emotionslosen Verhörer für sich einzunehmen, um ihre Ausweisung.
    Mit dieser Konstruktion erfährt der Leser etwas über dieses wirklich besondere Leben in dieser so besonders verderblichen Zeit. Die Lebensgeschichte nimmt den Leser wirklich gefangen. Und es ist ein Verdienst dieses Buches, dieses den diktatorischen Mächtigen Ausgeliefertsein eines besonderen Menschen plastisch vor Augen zu führen.
    Aber das Buch hat eine bedeutende Schwäche: die Fiktion, dass Nehers Leben uns letztlich direkt aus den Verhören im Sowjetgefängnis vermittelt wird, funktioniert von Anfang bis Ende nicht. Dafür sind erstens die Schilderungen oftmals viel zu privat und ist zweitens die Situation in dem Sowjetgefängnis nur äußerst Scherenschnittartig und wenig überzeugend geschildert. Hier fehlt es dem Autor offensichtlich an Informationen und an Möglichkeiten der Einsicht in den Gefängnisalltag und das Sowjetsystem. Er versucht diese Schwäche durch stereotype Wiederholungen zu überdecken und versucht so, etwas hilflos eine sowjetische Realität zu gestalten. Da ist der Vierkantschlüssel, dessen Geräusch bei keinem Gang zum Verhör und zurück fehlen darf, da ist der Ruf nach der „Deshuznaja“ und viele immer wiederholte russische Einwortsätze, die als Einsprengsel die entsprechende Atmosphäre erzeugen sollen. Diese Versuche erzeugen aber an keiner Stelle des Buches eine wirklich tragfähige Fiktion, die die konstruierte Erzählsituation des Buches stützen konnte. Und so fühlte ich mich als Leserin irgendwie an der Nase herumgeführt und fragte mich, warum der Autor nicht insgesamt eine neutrale Erzählhaltung eingenommen hat, um sowohl den deutschen als auch den russischen Lebensabschnitt der Carola Neher zu erzählen. So liegt uns ein Roman vor, der an seiner eigenen Konstruktion gescheitert ist und deshalb kann ich nur magere 3 Sterne vergeben.

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  1. Dialoglastig und distanziert, aber informativ.

    Kurzmeinung: Ich kannte Carola Neher nicht - jetzt kenne ich sie: immerhin!

    Das Thema dieses Romans ist faszinierend. Eine junge Frau schafft quasi aus dem Nichts den Aufstieg in den Glamour, sie erobert die Kunstszene Berlins. Carola Neher, (1900 -1942 ),Tänzerin und Theaterschauspielerin, ist in den 1920iger Jahren angesagt, ja Kult. Jeder kennt sie. Man spricht von ihr. Sie ist auf Du und Du mit den bekannten Kulturschaffenden ihrer Zeit, u.a. mit Bert Brecht. Mit Klabund führt sie eine kurze, jedoch heftige Ehe.

    Heute kennt sie keiner mehr. Die breite Öffentlichkeit hat sie vergessen. Dies liegt unter anderem daran, dass sie schon in ihren Dreißigern, also noch in jungen Jahren und auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, in die Sowjetunion auswandert und dort verschwindet, dort, wohin sie ihre Abenteuerlust und ihre Naivität und ihre Verführbarkeit getrieben haben, wobei dem aufkommende Nationalsozialismus seine Rolle zukommt.

    Der Kommentar:
    Das eigentlich Interessante an diesem Frauenleben ist ihr Wendepunkt. Es gibt einen entscheidenden Knacks in ihrer Biografie. Leider ist es dem Autor nicht gelungen, diesen tragischen Wendepunkt genügend herauszuarbeiten und herauszustellen! Man kann dem Autor wahrlich nicht vorwerfen, er würde mit Informationen geizen. Man erfährt alles Wesentliche. Und trotzdem ist und bleibt „Aufstieg in den Abgrund“ von Holger Haase, dem man eine akribische Recherche attestieren muss, etwas blutleer. Woran liegt das?

    Dass der Autor als fast einzigen Informationstransport den direkten Dialog seiner Figuren miteinander und übereinander gewählt hat, macht den Roman fad. Die Dialoge wirken entweder naiv oder gestelzt oder pathetisch, alles, nur nicht natürlich. Die Figuren sprechen, um den Leser zu informieren, nicht um miteinander in Beziehung zu treten. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Seine Figuren haben auch nicht viel zu sagen, leider. Verhandelt werden die Inhalte der Stücke, in denen Carola Neher glänzte, der Leser wird also umfassend belehrt, eine didaktische Maßnahme, die nicht jeder schätzt -, ein anderer, nicht unwesentlicher Input dreht sich darum, was die Leute anhaben, X trug dies und Y das und hatte dazu ein Hütchen auf … Gut, so etwas kann man mal machen, elegant ist es aber nicht und in der vorgestellten Fülle nichts anderes als das: Füllsel. Es interessiert nicht, was wer anhatte, selbst wenn wir uns in den Zwanzigern befinden. Das Ganze wirkt etwas unbeholfen.

    Was dem Roman fehlt, ist Reflexion, die Innensicht Carolas. Reine Information weckt keine Begeisterung! Die Leserschaft kann deshalb mit der Figur nicht mitgehen. Man erlebt nicht den Schrecken über die Verhaftung und Deportation ihres Bruders, man kann nicht nachvollziehen was sie dazu drängt, russisch zu lernen und sich dem Kommunismus zuzuwenden. Man kann auch nicht verstehen, was Klabund an dieser so oberflächlichen Frau gefunden hat. Nicht einmal „die IT-Girl“-Sache im ersten Teil des Romans bewirkte einen Paukenschlag.

    Wenn Carola schließlich sagt „Ich lebte einen Traum. Bis ich das Glück herausforderte und in die Sowjetunion kam“, dann muss sie wohl irgendwann einmal aufgewacht sein. Bei diesem harten Aufschlag wäre die Leserschaft gerne hautnah dabeigewesen. Aber es bleibt eine Distanz zur Figur. Nun ist ja Distanz zur Figur grundsätzlich ein positives Element: wenn man eine Biografie schreibt. Bei einem Roman oder einer Romanbiografie ist sie eher hinderlich. Die gewählte Erzählform wird dem Thema nicht gerecht; sie ist nicht abwechslungsreich und nicht eine Spur raffiniert.

    Im zweiten Teil, eigentlich im letzten Teil ihres Lebens, als Carola im Gefängnis sitzt, das ist die Rahmenhandlung, denn Haase konstruiert eine Verhörsituation in der Moskauer Butyrka, wodurch Carola Neher die Gelegenheit bekommt, ihr Leben in Rückblenden zu erzählen, wirkt vieles wirklichkeitsfremd. Ein klirrender Vierkantschlüssel soll Atmosphäre vermitteln, leider erscheint er im Minutentakt. Auch andere Wiederholungen nerven. Nebenfiguren werden nicht eingeführt, sie erscheinen, haben aber kein Leben. Auch dies weist darauf hin, dass der Roman eine Biografie hätte werden müssen!

    Fazit: Der Autor informiert über alles Bekannte und Wesentlich in Carola Nehers Laufbahn. Unterm Strich hat die Informationsfülle und die akribische Recherche den Roman mit der Nase gerade so über Wasser gehalten. Es ist dem Autor bei aller Liebe zu seiner Figur nämlich nicht gelungen, sich in sie einzufühlen und ihr Wesen aufzuschlüsseln. Letztlich wissen wir auch am Ende des Romans noch zu wenig über sie als Mensch und als Charakter und vielleicht ist auch die Quellenlage zu Carola Neher zu dünn gewesen, um einen relevanten Roman über sie zu schreiben. Eine reine Biografie hingegen hätte sicher hervorragend funktioniert.

    Kategorie: biografischer Roman
    Osburgverlag, 2022

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