Andrin: Roman

Rezensionen zu "Andrin: Roman"

  1. 4
    28. Okt 2020 

    Höchst unterhaltsam und absolut lesenswert!

    Mit Beginn der Lektüre betreten wir das Büro von Jupp, einem Verleger und erleben ein brisantes Gespräch zwischen ihm und der Ich-Erzählerin Susanne, die Schriftstellerin ist und wegen einer Schreibblockade aus einem Vertrag aussteigen möchte.

    Jupp will das mit allen Mitteln verhindern und bietet ihr großzügig an, Zeit in seinem Ferienhaus an der italienischen Mittelmeerküste zu verbringen.
    Dort soll sie sich erholen und entspannen, um ihr neuestes Projekt, das Verfassen einer geschönten Autobiografie für einen wohlhabenden Prominenten, zum Abschluss bringen zu können.
    Trotz anfänglichem Zögern und inneren Hemmnissen gibt Susanne sich schließlich geschlagen und willigt ein.
    Mit dem Zug macht sie sich auf den Weg und kommt doch nicht an ihrem eigentlichen Ziel an.

    Manchmal ist es wie verhext.
    Eine routinemäßige Inspektion eines Tunnels verhindert auf längere Zeit die Weiterfahrt und dann wird die Ersatzstrecke über den Pass auch noch wegen Steinschlag gesperrt.

    Manchmal trifft man unvernünftige und widersinnige Entscheidungen.
    Susanne entscheidet sich, zu Fuß über den Berg und zum nächsten Bahnhof zu laufen, von wo aus die Fahrt dann weitergehen kann.

    Manchmal hat man Glück.
    Als der Anstieg dann doch zu beschwerlich wird, kommt unerwartet und erfreulicherweise ein Jeep vorbei und der geschätzt 60 bis 70-jährige, Pfeife rauchende und wortkarge Fahrer Andrin nimmt Susanne mit.
    So gelangt sie zwar nicht über den Berg zum nächsten Bahnhof, aber zumindest zum nächsten Ort: nach Voglweh.

    Andrin bietet ihr für die Nacht ein Gästezimmer in seinem einsamen Haus in den Bergen an, damit sie am nächsten Tag ausgeruht weitermarschieren oder er sie mit seinem Jeep zum Bahnhof bringen kann.
    Aber aber nächsten Tag geht es nicht weiter.
    Und auch nicht am übernächsten...

    Wir lesen von doppeldottrigen Eiern, Tomaten- und Zucchinibergen, Wasser mit berauschender Wirkung, einem toten Telefonkabel, lernen Uta, Andrins eigenwillige Frau, kennen und erfahren, dass der skurrile Andrin die leckersten Gerichte zaubern kann, seitdem ein Koch, der sich auf einer einsamen Hüttenwanderung nach Voglweh verirrt hat, es ihm beigebracht hat.

    Anfangs und lange Zeit fragte ich mich, ob dieser Roman ein Psychothriller ist, aber ich recherchierte nicht und ich werde hier diesbezüglich auch nichts verraten, außer, dass die phasenweise unheilvoll-schaurig-beklemmende Stimmung im Buch, v. a. im ersten Viertel, mich mehrmals auf diesen Gedanken gebracht hat.
    Dazwischen sorgten entspannte und witzige Momente wiederum dafür, diesen Gedanken zu verwerfen.

    Mit überraschter und verblüffter Verwunderung registrierte ich, wie die beiden aktuellen Lebenswelten der Protagonistin Susanne verwoben wurden. Geschickt verzwirbelt die Autorin den „Biografiefaden“ ihres Auftraggebers mit dem „Alltagsfaden“ bei dem liebenswürdig-schrägen Pärchen Andrin und Uta in Voglweh, so dass man eigentlich eine Geschichte in der Geschichte zu lesen bekommt.

    Mir gefiel der Wechsel der Erzählperspektive, die immer von der Ich-Erzählerin Susanne ausgeht.
    Sie erzählt uns die Geschehnisse im Rückblick und manchmal streut sie künftiges Wissen ein, das sie in der Situation, auf die sie zurückblickt, noch gar nicht hatte bzw. haben konnte.
    So weiß der Leser zu bestimmten Zeitpunkten manchmal mehr, als die Protagonistin selbst und wird damit nicht allwissend, aber „mehrwissend“.
    Sie spielt mit dem Leser, denn sie verrät nie so viel, dass es langweilig wird. Im Gegenteil. Sie verrät immer so viel, dass die Neugierde angefacht wird.
    Diese Kamera-Schwenks finde ich extrem schlau, abwechslungsreich und interessant.

    Ich genoss die wunderschöne Sprache, die anschaulichen Metaphern, ausdrucksvollen Formulierungen und bildhaften und eindrücklichen Landschaftsbeschreibungen.

    Einige Beispiele möchte ich gern anführen:
    „Zu beiden Seiten des Fahrzeugs materialisierten sich von vor Nässe glänzende Sockelzonen anthrazitfarbener Felswände und verloren sich in unwägbaren Höhen. Erst hielten sie Abstand, rahmten die Fahrbahn respektvoll ein, dann kamen die Wände näher und näher, wurden aufdringlich, waren weniger als eine Armlänge, dann eine Handbreit vom Jeep entfernt, bis die Straße nur noch ein Spalt im Fels war.“ (S. 43)

    „... der Taktschlag, mit dem der Scheibenwischer das Konzert dirigierte und dabei ein Tempo anschlug, schneller als ein Sportlerherz bei maximaler Belastung.“ (S. 43)

    „Rund um den See lagen Felsbrocken, wie hingestreut, als hätten Kinder mit Murmeln gespielt und wären gegangen, ohne aufzuräumen.“ (S. 45)

    Ihr originelles und amüsantes Bild von dem „guten Willen“ musste ich mehrmals lesen, weil es mir so außerordentlich gut gefiel:
    „Kaum war der Rechner ausgeklappt und hochgefahren, schaute auch schon der gute Wille vorbei. Bedauerlicherweise war er stets in Eile. Er legte nicht einmal den Mantel ab, selbst wenn ich ihn dazu aufforderte und ihm anbot, den Sessel freizuräumen, damit er es sich bequem machen konnte. Er kam ins Zimmer, lüpfte kurz den Hut zum Gruß, um sich im nächsten Moment bereits wieder zu verabschieden.“ (S. 157)

    Der Roman unterhält, sorgt gleichzeitig für Spannung und Entspannung und hat etwas Märchenhaftes.
    Manche würden vielleicht sagen, dass einiges fragwürdig oder unrealistisch ist.
    Aber ich möchte es anders ausdrücken:
    Manches ist nicht logisch im alltäglichen Sinn, sondern märchenhaft, romantisch oder idyllisch. Einiges ist vielleicht unwahrscheinlich, aber dennoch möglich.
    Wenn man sich in die Geschichte fallen lässt, die Realitätsprüfung manchmal hintan stellt und nicht kleinlich ist, dann kann man den Plot, die Sprache und den Erzählstil in vollen Zügen genießen.

    „Andrin“ ist ein unterhaltsames und packendes Werk, dem der Humor nicht fehlt. Es liest sich leicht und flüssig.
    Aus Martina Altschäfers originellen und kreativen Einfällen ist eine Geschichte entstanden, die mir äußerst vergnügliche Lesestunden beschert hat, obwohl ich am Ende einen Kloß im Hals hatte und einige Tränen über meine Wange kullerten.

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  1. 5
    25. Sep 2020 

    Paradiesische Zustände

    Warnung! "Andrin" von Martina Altschäfer ist ein Roman, der Sehnsüchte weckt. Insbesondere, wenn man als Stadtkind durch den Alltag hetzt, dabei von Lärm, Gestank, Hektik und Stress geplagt wird und sich einfach nur nach einem Ort voll himmlischer Ruhe und Entschleunigung sehnt. In "Andrin" gibt es diesen Ort, der zu schön ist, um wahr zu sein.
    Dieser paradiesische Ort heißt Voglweh und ist gar nicht weit entfernt. Nur ein Katzensprung Richtung Italien und irgendwo in den Schweizer Alpen findet man Voglweh. Oder Voglweh findet denjenigen, der mal eine Auszeit von Stress und Alltag benötigt.
    Genau dies ist Susanne, Protagonistin dieses Romans, widerfahren.

    Susanne ist eine mehr oder weniger erfolgreiche Schriftstellerin aus der Großstadt. Sie ist "weniger erfolgreich", wenn es um die Veröffentlichung eigener Werke geht. Sie ist "mehr erfolgreich", wenn sie als Ghostwriterin Auftragsarbeiten erledigt. Insbesondere im Schreiben von Biografien zahlungskräftiger "Berühmtheiten" oder solchen, die meinen, eine zu sein, hat sich Susanne als sehr talentiert erwiesen. Doch ihr aktueller Auftrag bringt sie an ihre kreativen Grenzen. Tapetenwechsel und Auszeit müssen also her. Das meint insbesondere ihr Chef und Verleger, der keine Kosten und Mühen scheut, Susanne - eines seiner besten Pferde im Stall der Ghostwriter - auf die kreativen Sprünge zu helfen. So reist sie also mit dem Zug nach Italien. Doch auch ein Wunderwerk der Technik ist vor den Tücken der Natur nicht gefeit. Steinschlag bremst den Zug aus, woraufhin Susanne versucht, auf eigene Faust weiterzureisen. Und hier verliert sich zunächst ihre Spur für alle, die sie vermissen könnten.

    Doch der Leser begleitet sie weiter auf ihrer Reise, die plötzlich anders als verläuft als geplant.

    Und jetzt kommt der Teil, der Sehnsüchte weckt: Susanne wird von einem älteren Herrn namens Andrin am Straßenrand aufgabelt. Er nimmt sie mit nach Voglweh. Hier lebt er seit ein paar Jahren mit seiner Frau Uta. Sie sind die einzigen Bewohner dieses Ortes. Die beiden versorgen sich selbst, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Und die Natur meint es dabei gut mit ihnen. Ihr Lebensrythmus richtet sich nach den Jahreszeiten, ihr Tagesablauf ist einfach strukturiert: Arbeiten in der Natur oder Instandhaltung der wenigen Gebäude, die es gibt; viel Schlafen und viel Essen. Das Leben, das sie führen ist luxuriös einfach. Es scheint Ihnen an nichts zu fehlen. Zumindest gibt es nichts, was sie vermissen.
    Susanne wird zunächst als Gast angesehen, doch nach und nach entwickelt sie sich zu einem festen Bestandteil der Gemeinschaft. Sie bringt sich in die täglichen Arbeiten ein, so gut es geht. Denn als Stadtkind sind ihre viele Arbeiten fremd und müssen erlernt werden. Gleichzeitig will sie die Zeit ihres Aufenthaltes nutzen, an ihrer aktuellen Auftragsarbeit weiter zu schreiben.

    "Viele Dinge, die mich in dieser Zeit dringend hätten beschäftigen müssen, entglitten mir auf angenehme Weise, schwebten sanft wie Seifenblasen davon und schickten höchstens bei günstigstem Licht in dem verwirbelten Muster ihrer schlierigen Haut einen flüchtigen Gruß."

    Das Leben gestaltet sich als paradiesisch. Doch das Paradies wäre kein Paradies, wenn es keine Schlange gäbe - natürlich im übertragenen Sinne. Denn worin genau die Bedrohung des paradiesischen Lebens in Voglweh besteht, ist kaum greifbar. Von Naturgewalten bis hin zur Mystik, die die Handlung des Romans an die Schwelle des magischen Realismus lenkt, ist alles möglich und obliegt der Fantasie des Lesers. Die Autorin macht das an dieser Stelle sehr geschickt. Sie kreiiert ein bedrohliches Szenario, das die Handlung unterschwellig begleitet, aber niemals in den Vordergrund rückt. Dadurch erzeugt sie eine ungeheuere Spannung, so dass der Leser damit rechnet, dass die Vertreibung aus dem Paradies Voglweh kurz bevor steht. Wie diese Vertreibung aussehen könnte, und ob sie überhaupt stattfindet, bleibt jedoch bis zum Ende offen.

    Eines meiner Highlights in diesem Buch sind die täglichen gemeinsamen Abendessen der drei Protagonisten. Das mag sich im Moment banal anhören. Doch wer das erste Mal einer Mahlzeit in diesem Buch beigewohnt hat, wird definitiv verstehen, was ich meine.
    Andrin ist ein kreativer Koch, dem es gelingt, aus den Lebensmitteln, die den drei Bewohnern zur Verfügung stehen, und die sie größtenteils selbst anbauen, kulinarische Köstlichkeiten zu zaubern. Die Zubereitung der Mahlzeiten wird akribisch geschildert. Zutaten und Menüfolgen sind sehr besonders. Es geht dabei nicht allein um notwendige Nahrungsaufnahme, sondern der Genuss steht im Vordergrund. Wenn man bedenkt, dass Voglwehs Bewohner nicht viel Abwechslung im Alltag haben, scheint die Schlemmerei einen Ausgleich zu bieten. Diese Abschnitte über die gemeinsamen Essen haben dafür gesorgt, dass mir regelmäßig das Wasser im Mund zusammen gelaufen ist.

    "Die Teigtaschen, die ihre außergewöhnliche Farbe einigen Tropfen einer Rote-Bete-Reduktion verdankten, waren mit einer Steinpilzfarce gefüllt. Für die Sauce hatte er Butter zerlassen und mit dem Sud aus leicht gegorenem Fichtennadelextrakt cremig aufgeschlagen. Das Gericht, das ein Topping aus gerösteten Steinpilzbröseln krönte, schmeckte nach Wald. Der ganze Teller duftete nach Moos, nach Pilzen und Tannenzapfen, und nach der Erde, wenn nach einer langen Regennacht die Sonne morgens den Boden wieder wärmt."

    Die Appetitlichkeit dieser Momente wird sicherlich durch den Sprachstil der Autorin gefördert. Zeichnet sich dieser Stil von Beginn an durch Spritzigkeit und Lebendigkeit aus, entwickelt er in den Passagen rund ums Essen eine wahre sprachliche Schwelgerei. Die Autorin Martina Altschäfer scheint ein Genussmensch zu sein, denn selten sind Speisen und deren Herstellung mit soviel Fantasie und Poesie geschildert worden.

    Mein Fazit zu diesem Roman:
    Die Geschichte ist originell, weckt Sehnsüchte und ließ mich vom Alltagsstress in Tagträume hinabgleiten. Ich wurde also in einen literarischen Kurzurlaub geschickt und habe mich dabei prächtig erholt. Nur schade, dass auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei ist.

    Leseempfehlung! Unbedingt!

    © Renie

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