Alle Hunde sterben

Rezensionen zu "Alle Hunde sterben"

  1. „Gewalt (…) das gibts umsonst in diesem Land.“ (S. 117)

    Dieses Buch konnte ich nicht am Stück lesen. Immer wieder brauchte ich eine Pause, um mich zu erholen und für den nächsten Abschnitt zu wappnen.
    Cemile Sahin lässt in 9 Episoden Menschen zu Wort kommen, deren Leben durch willkürliche Polizei- und Militärgewalt zerstört wurde. Ihre Kinder, Eltern, Cousins, Geschwister, Tanten oder Onkel wurden gefoltert und/oder ermordet. Die Überlebenden erzählen von Bespitzelung, Gefängnisaufenthalten und immer wieder Folter. Hinter jeder Ecke lauert ein Polizist, ein Soldat, jede(r) könnte ein Terrorist oder ein Vaterlandsverräter sein oder einen solchen kennen. Die absolut willkürliche Verdächtigung ein Verräter oder Terrorist zu sein, kann jede(n) treffen und reicht als Legitimation aus, Gewalt anzuwenden und Familien auseinander zu reißen. An irgendeiner Stelle im Buch ist sogar von der Gewalt als Nationalsport die Rede. Die Täter bleiben gesichtslos, für Folter gibt es einen Extrabonus, mehr Cash auf die Hand.
    „Hunde sind nichts wert in diesem Land (…) Im Gefängnis vergessen die Wärter, dass sie Menschen sind, und sie vergessen, dass die Gefangenen Menschen sind.“ (S. 194)

    Alle, die im Buch zu Wort kommen, leben in einem Hochhaus im Westen der Türkei - sie sind aus dem Osten an diesen Ort geflohen. Niemand will dort - in diesem Hochhaus - bleiben. Sahin verzichtet auf eine zeitliche und räumlich exakte Verortung. Die Szenen könnten nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Staaten der Welt genau so passiert sein und sie geschehen täglich irgendwo. Willkürliche Staatsgewalt existiert an zahlreichen Orten der Welt. Sahin gibt den Opfern eine Stimme. Das Buch zeigt, was erlebte Gewalt mit Menschen macht. Niemand kann zurück in sein vorangegangenes Leben, zu viel ist zerbrochen, zerstört worden, wird niemals heilen können. Es ist die allgegenwärtige Angst, die Hoffnungs- und Trostlosigkeit, die fehlende Zukunftsperspektive der traumatisierten Bewohner dieses Hochhauses, die für mich genauso schwer zu ertragen waren, wie die erlittene Gewalt.

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  1. Realität der Gewalt

    Ein Hochhaus im Westen. Dort leben Menschen im Exil, gestrandet nach Gefangenschaft, Folter, Verfolgung und Flucht. Sie wollen dort nicht bleiben. In neun Episoden verleiht Cemile Sahin diesen Menschen eine Stimme gegen Gewalt.
    Verortet ist das Buch wohl in der Türkei, obwohl es niemals zu gezielten Ortsangaben kommt, es gibt kein „Türke“ oder „Kurde“ und somit wird das Buch zu einem universellen Mahnmal gegen regimegestützte systematische Gewalt und militärische Macht.
    In diesen neun Episoden lesen wir von Erniedrigung, dem politischen Mord an Frauen, Männern, Kindern. Allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gibt einer herrschenden Allmacht die scheinbare Berechtigung zum Foltern, Töten, Auslöschen.
    „Mit der Waffe kommt das Recht.“
    Kein Sachbuch, keine Biografie, aber auch kein Roman: Es ist ein Buch, das nicht einfach zu ertragen ist. Ein Stückwerk an Erinnerungen, über die Realität eines Landes, die nur über Gewalt funktioniert.
    „Wer die Ereignisse nicht ohne Fiktion erzählen kann, hat sie nicht erlebt.“, schreibt die Autorin.

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