4 3 2 1

Buchseite und Rezensionen zu '4 3 2 1' von Paul Auster
4.4
4.4 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "4 3 2 1"

Broschiertes Buch
Archibald Ferguson heißt der jugendliche Held von Paul Austers neuestem Roman, und er kommt darin gleich viermal vor - in vier raffiniert verwobenen Variationen seines Lebens, ganz nach dem Motto: Was wäre geschehen, wenn ...? So entwirft Auster ein grandioses, episches Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika, voller Abenteuer, Liebe, Lebenskämpfe und den Schlägen eines unberechenbaren Schicksals. "4 3 2 1" ist ein faszinierendes, ein überwältigendes Gedankenspiel und ein Höhepunkt in Austers Schaffen.

Autor:
Format:Taschenbuch
Seiten:1264
EAN:9783499271137

Rezensionen zu "4 3 2 1"

  1. Geschichte über das Erwachsenwerden und viel mehr

    Jeder hat sich doch schon gefragt, wie sein Leben geworden wäre, wenn einzelne Umstände anders gewesen wäre. Diesem Szenario widmet sich Paul Auster in seinem Roman 4321.
    In vier verschiedenen Variationen erzählt er eine Lebensgeschichte.

    Im Mittelpunkt des Geschehens steht Archibald Ferguson. Ein Junge bzw. im Laufe der Geschichte(n) ein junger Mann, der in Vier unterschiedlichen Szenarien erwachsen werden muss und dabei einiges erlebt und durchmachen muss.

    Man könnte meinen, dass es langatmig und langweilig ist, quasi viermal die mehr oder weniger gleiche Geschichte zu lesen, aber so ist es ganz und gar nicht. Auster erzählt Fergusons Geschichte berührend, unterhaltsam und stellenweise immer wieder mit viel Witz.
    Dabei ist gerade am Anfang beeindruckend, wie authentisch der doch schon ältere Autor die kindliche Perspektive des kleinen Archies hinbekommt.
    Auch unerwartete Wendungen und die Parallelen zwischen den einzelnen Varianten seines Lebens, machen den Roman sehr interessant.
    Ferguson, ein einfach nahbarer, realistischer Protagonist, wächst einem im Laufe richtig ans Herz, man fiebert mit ihm mit, wünscht ihm, dass doch alles gut für ihn wird, will ihn schütteln und in manchen Situationen auf den richtigen Weg bringen.

    4321 so vieles. Eine Familiengeschichte, eine Coming of Age Geschichte, etwas Liebesgeschichte, dabei aber nie kitschig und nebenbei ein Überblick über Amerikas neuere Geschichte des 20ten Jahrhunderts.
    Dieser Mix macht den Roman unglaublich lesenswert und Langeweile kommt auf keiner der 1256 Seiten auf.

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  1. 4
    16. Dez 2018 

    Durchkommen

    Archie Ferguson ist der Enkel eines Einwanderers, der Anfang des 20. Jahrhunderts an der Freiheitsstatur ankommt. Er wird im Jahr 1947 geboren. Sein Vater ist Sam Ferguson, einer von drei Brüdern. Rose, seine Mutter, ist Fotografin. Archie selbst ist ein gewitzter Junge, der in Schule und Ausbildung überzeugt.

    Mit diesen trockenen Worten kann man den Rahmen umschreiben, der den Hintergrund dieses Romans bildet. Eigentlich geht es um vier mögliche Leben, von denen eines dem echten am nächsten kommt. Vier Archies, deren Familien an gewissen Wendepunkten in unterschiedliche Bahnen gelenkt werden. Mal gerät die Familie fast in Armut, mal hat der Vater eine glückliche Hand. Mal wird Archie, der in jedem Fall interessiert ist auch ein guter Sportler, mal wird die sportliche Laufbahn jäh gestoppt. Mal zieht es Archie mehr zum Journalismus, mal eher zur künstlerischeren Art des Schreibens. Mal wird steht sein Leben auf dem Spiel, mal ist es ihm vergönnt, ein Buch gedruckt zu sehen. Mal wird aus der Freundin eine Stiefschwester, mal wird aus der Jugendfreundin eine erste Freundin. Vier unterschiedliche Lebenswege in den ersten Kinder-, Jugend- und Erwachsenenjahren.

    Diese Idee ausgehend von der Geburt des Archie Ferguson vier unterschiedliche mögliche Lebenswege zu beschreiben ist schon genial. Der Witz des Anfangs ist der Witz am Ende und dazwischen liegt eine reiche Welt, in der man seine Sympathien verteilen kann. Jede Inkarnation eines Archie hat etwas, in teilweise sehr emotionalen Szenen taucht man in die verschiedenen Leben ein. Am herzzerreißensden sind dabei die freien Stellen, die Platz lassen für die Phantasie, aber auch das Bedauern, über das, was nicht geschrieben wurde. Vier Archies, von denen einer dem Schreibenden am nächsten kommt, vier Archies, die alle für sich einnehmen können. Leben mit Höhen und Tiefen, die abschrecken oder auch bezaubern können.

    Nicht immer ganz einfach zu lesen ist dieser für Ideen sprühende Roman, lässt man sich jedoch darauf ein, hat man ein Leseerlebnis, das man sicher in Erinnerung behalten wird.

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  1. Tolle Grundidee, deren Sog mich aber zunehmend verlassen hat

    Der Inhalt des Buches wurde hier schon hinreichend wiedergegeben. Paul Auster hat im Kern die Geschichte des jungen Archie Ferguson in vier Varianten aufgeschrieben. Diese Grundidee fand ich sehr interessant: Was wäre wenn? Wir entwickelt sich ein Charakter, wenn sich schon früh im Leben die Lebensumstände, Bedingungen und Beziehungen verändern.

    Von Beginn an war ich von dem Buch regelrecht gefesselt. Auster hat einen sehr schönen Sprachstil, die langen Sätze lesen sich flüssig, viele Stellen habe ich markiert. Das alleine recht natürlich nicht. Hinzu kamen viele beeindruckende Ideen. Gerade während der Kindheit des Protagonisten (Kapitel 1 und 2) gab es wirklich unterschiedliche Entwicklungen: mal waren die Eltern glücklich in bescheidenen Verhältnissen, mal vernachlässigt der Vater die Familie, was zur Trennung führt, mal kommt er tragisch und Leben und so weiter. Die verwandtschaftlichen Beziehungen ändern sich, Archie macht unterschiedliche (auch unerfreuliche) Erfahrungen in den verschiedenen Schulen… alles auch psychologisch glaubhaft und spannend zu lesen.
    Spätestens ab Seite 400 hat mich das Buch dann verlassen…

    Immer noch gab es die unterschiedlichen Verläufe. Diese ähnelten sich aber meines Erachtens zu sehr. Immer (bis auf einen Verlauf) studiert Archie. Oft hat er seine Liebe Amy, der er nachtrauert, von der er nicht loskommt, die er vermisst. Die meisten gefühlten Wiederholungen betreffen aber das Studentenleben. Die 1960er Jahre waren noch geprägt von Rassenkonflikten und insbesondere Protesten gegen den Vietnamkrieg. Archie agiert da immer mitten drin, diese ganzen Details über die einzelnen Maßnahmen, die Namen, die Straßenschlachten….

    Für einen Amerikaner eventuell interessant, als Teil der eigenen Geschichte? Vielleicht bin ich zu Jung, außer Malcom X und Martin Luther King sagte mir keiner etwas… Vieles an der amerikanischen Geschichte war auch sehr interessant zu lesen – wenn es nicht zu episch ausgebreitet wurde.

    Archie liebt Bücher, Filme und möchte Schriftsteller werden. Immer. In jedem Verlauf. Dadurch werden viele verschiedene Autoren, Schriftsteller und Titel (manchmal aneinandergereiht über eine halbe Seite) genannt. Mir wiederholt auch zu viel. Auch seine Bemühungen, etwas zu veröffentlichen…immer wieder.

    Jetzt höre ich auf, es gäbe aber weitere Beispiele.
    Zum Ende hin nahm die Geschichte wieder etwas Fahrt auf, die Komposition wurde schlüssig zum Ende gebracht.

    Es handelt sich um einen durch und durch amerikanischen Entwicklungsroman, der die großen amerikanischen Themen (inklusive der Homosexualität) aufgreift.
    Auster ist bestimmt ein guter Autor, gern werde ich nochmal ein kürzeres Werk von ihm lesen. Die Grundidee des Romans fand ich faszinierend, hat sich aber in meinen Augen zunehmend durch die Ähnlichkeiten der Varianten verloren.
    Es war für mich ein neues Gefühl, ein Buch, das ich im ersten Viertel wirklich herausragend fand, mit zunehmender Lektüre einfach nur noch fertig kriegen zu wollen. Schade.
    Vielleicht muss ein Buch über 1258 Seiten aber auch Längen haben und man muss das Querlesen von vorn herein einplanen?

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  1. 5
    08. Aug 2017 

    Eine intellektuelle Herausforderung

    Was für ein prächtiges Buch. Ein sehr reicher Autor mit so viel Kompetenzen, den ich mir nun tatsächlich zu meinen Favoriten anreihen werde, siehe Label rechte Seite dieses Blogs. Das bedeutet, wir möchten noch weitere Bücher von Auster lesen. Das war Tinas zweites Buch, und für mich mein erstes. Wir, Tina und ich, haben für das Buch zwölf Tage benötigt. Tina war sogar noch einen Tag vor mir fertig. Wenn nicht noch andere, diesmal gesellschaftliche und familiäre Aktivitäten, dazwischengekommen wären, hätten wir es noch früher geschafft. Damit möchte ich eigentlich nur ausdrücken, dass der Autor uns mit seinem grandiosen Werk gepackt hat.

    Ich kann jedem/r Leser*in empfehlen, das Buch nicht alleine zu lesen. Sucht euch einen Partner*in und lest zusammen, denn der Autor fordert gewaltig, und dies nicht nur intellektuell.

    Ich bin eigentlich jemand, die Klappentexte nur oberflächlich liest, aber hier, in diesem Buch bin ich vorsichtig gewesen, und habe mir den Klappentext genau vorgenommen, in dem man ja schon ein wenig vorbereitet wird, was einen erwarten kann. Ich wollte es nicht riskieren, das Buch einfach ohne jegliche Vorkenntnisse zu starten. Und Tina auch nicht, nachdem wir auf einige Kritiken gestoßen sind, die von dem Inhalt nicht sehr angetan waren. Ich verweise später auf Tinas Buchbesprechung, denn dann muss ich nicht alles nochmals schreiben.

    Ich hatte das Buch am letzten Sonntag durch, danach hatte ich eine richtige Flaute, sodass ich erstmal eine Pause einlegen musste.

    Und nun scheibe ich ein paar Zeilen über meine Erlebnisse. Das Werk verlangt absolute Kopfakrobatik. Dazu hat Tina auch etwas geschrieben, was damit gemeint sein könnte. Der Buchtitel 4321 ist gut getroffen. Man bekommt es mit vier unterschiedlichen Varianten der Geschichte zu tun. Es geht immer um dieselben Protagonist*innen, aber mit unterschiedlichen Perspektiven und Ausgängen.

    Dennoch hat uns das Buch sehr gut gefallen. Auster hat es super gut drauf, menschliche Psychen auf vielfältige Art und Weise zu porträtieren. Er kennt sich aus, er weiß, wovon er schreibt. Im Stillen habe ich mich gefragt, ob der junge Protagonist Archie Ferguson Auster selber ist? Nun ist Tina mir ein wenig zuvorgekommen und hat recherchiert, und tatsächlich konnten autobiografische Züge entnommen werden. Wer so viel weiß, wie Auster das tut, dann weiß er auch, wovon er schreibt. Er kennt sich aus mit seinem Stoff.

    Frei von Klischees, frei von Vorurteilen, Auster ist ein Autor, der aus meiner Sicht auch schreibt, um die Welt mit seinem Buch ein wenig besser zu machen. Die letzten zweihundert Seiten behandelt er recht intensiv die politischen Problematiken Amerikas, die in den vorderen Kapiteln eher angedeutet waren …

    Und was seine literarische Sprache betrifft, sie ist sehr klar und aber auch sehr verspielt.

    Aber was das Inhaltliche angeht, so habe ich selber einen Fehler gemacht; ich habe mir während des Lesens keine Notizen gemacht, um dadurch die unterschiedlichen Perspektiven besser auseinanderhalten zu können. Die ersten beiden Perspektiven konnte ich noch gut im Kopf trennen, aber plötzlich ging das nicht mehr. Mich haben die vielen Geschichten jeder einzelnen Figur dermaßen gepackt, dass ich den Lesefluss nicht unterbrechen wollte. Anders Tina, sie hatte sich während des Lesens schon gleich eine Struktur aufgezeichnet. Ich dagegen hatte mir einen Stammbaum aufgemalt, um die verschiedenen Generationen erst aus zwei Familien, dann später kamen noch andere Familien hinzu, zu divergieren.

    Auf meinem Blog hat das Buch 12 von 12 Punkten erhalten.

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  1. "Identisch, aber verschieden"

    Lese-Erfahrung
    Mira und ich haben uns diesen sehr umfangreichen Roman für den Urlaub vorgenommen. Während der langen Lesezeit haben wir unzählige Sprachnachrichten ausgetauscht und über den Roman diskutiert.

    Deshalb wird dieser Blogbeitrag auch keine Rezension im üblichen Sinne, sondern gibt meine bzw. unsere Lese-Erfahrung wieder.

    Im Klappentext steht, "4321 - das sind vier Variationen eins Lebens", dem Leben von Archie Ferguson.
    Mein erster Gedanke war, dass diese vier Variationen hintereinander präsentiert würden.

    Kapitel 1.0 bietet die Basis dieses Lebens, die Geschichte von Archies Großvater wird erzählt, einem jüdischen Russen aus Minsk, der am 1.Januar 1900 in Ellis Island, New York eintrifft. Wir erfahren, wie er zu seinem Namen kommt, wie er seine Frau Fanny kennen lernt, dass sie gemeinsam drei Kinder haben und wie ihr jüngster Sohn Stanley sich in Fergusons Mutter Rose verliebt und am 3.März 1947 erblickt Archie Ferguson das Licht der Welt.

    In Kapitel 1.1 wird die frühe Kindheit aus Archies kindlicher Perspektive erzählt, der mit seinen Eltern aus der Wohnung in Newark nach Montclair, Bundesstaat New Jersey gezogen ist. Er wünscht sich ein Geschwisterchen, doch da dies laut Aussage seiner Mutter, die er über alles liebt, nicht möglich ist, stellt er sich einen älteren Bruder vor.

    "Ferguson war noch keine fünf Jahre alt, hatte aber schon begriffen, dass die Welt in zwei Reiche aufgeteilt war, ein sichtbares und ein unsichtbares, und dass die Dinge, die er nicht sehen konnte, oft wirklicher waren als die, die er sehen konnte." (S.60)

    Als er 6 Jahre alt ist, eröffnet seine Mutter ein Fotoatelier - Roseland Fotos, in dem sie Porträts anfertigt, auch eines von Archie, das im Schaufenster ausgestellt wird.
    Das Ereignis, das sein weiteres Leben prägt, ist ein besonderes Baseballspiel im Jahre 1954, das erste Spiel der World Series.

    "Seit jenem Nachmittag Ende September 1954, jenem unvergesslichen Nachmittag, an dem er mit Cassie am Fernseher den Sieg von Mays und Rhodes über die Indians verfolgt hatte, war Baseball seine größte Leidenschaft (...)" (S.174)

    Auch Archies Onkel Lew profitiert von der Serie, denn der Wettsüchtige setzt auf den unerwarteten Sieg der Giants und wird reich. Im gleichen Jahr wird das Geschäft "Three Brothers Home World", das die drei Brüder - Lew, Arnold und Stanley Ferguson - führen, ausgeraubt. Ein harter Schlag für Archies Vater.

    Im Kapitel 1.2 ist Archie fünf Jahre alt - ein Rückblick?
    Er ist von einer Eiche gefallen und muss den Sommer mit einem Gipsbein zuhause im Bett verbringen. Seine Großmutter Emma lernt ihn das Lesen und Schreiben, bevor er nach dem Sommer eingeschult wird.
    Da er viel Zeit zum Nachdenken hat, spekuliert der junge Archie über seinen Unfall:

    "(...) wäre der Ast nur winziges Stück näher dran gewesen, könnte von Dummheit gar keine Rede sein. Hätte Chuckie nicht an diesem Morgen geklingelt und ihn gefragt, ob er draußen mit ihm spielen wolle, wäre davon Dummheit keine Rede. Wären seine Eltern auf der Suche nach dem richtigen Haus in irgendeine andere Stadt gezogen, würde er Chuckie Brower nicht kennen (...) " (S.86)

    - und der Unfall wäre nicht geschehen. Was wäre wenn?
    Am Ende des Kapitels brennt Three Brothers Home World ab.

    In darauffolgenden Kapitel 1.3. bin ich durcheinander geraten, denn plötzlich passten die Tatsachen nicht mehr zusammen und nach einigem Hin-und Herblättern und Nachrichtenaustausch mit Mira, haben wir erkannt, dass jedes Kapitel bereits eine unterschiedliche Variante von Archies Leben erzählt.
    So wohnt er in 1.2. in West Orange, während er in 1.3. Milburn und in 1.4 in Maplewood, später in South Orange lebt.

    "Vor dreieinhalb Jahren, als sie und sein Vater beschlossen hätten, aus der Wohnung in Newark auszuziehen und ein Haus zu kaufen, hätten sie sich mehrere Städte angesehen, Montclair und Maplewood, Milburn und South Orange, aber nirgends das richtige Haus gefunden (...)." (S.81, 1.2)

    4 Varianten - 4 Wohnorte
    Danach habe ich mir genau wie Mira einen Stammbaum gemacht und mir die Ereignisse der frühen Kindheit, die das weitere Leben Archies jeweils (!) prägen, notiert.
    (Bild ist leider nur auf dem Blog sichtbar)
    So erleben wir, wie verschiedene Archies in parallelen Welten aufwachsen oder wie Archie es in ausdrückt, er habe

    "das beständige Gefühl, dass die Gabelungen und Parallelen der eingeschlagenen und der nicht eingeschlagenen Wege allesamt zur selben Zeit von denselben Menschen begangen wurden, den sichtbaren und den Schattenmenschen, dass die Welt, wie sie war, allenfalls ein Bruchteil der Welt sein konnte, da das Wirklich auch aus dem bestand, was sich hätte ereignen kennen, aber nicht ereignet hatte, und dass ein Weg nicht besser oder schlechter war als ein anderer, aber das Qualvoll daran, in einem einzigen Körper am Leben zu sein (...) (S.1254)

    Auster verleiht Archie "vier" Körper, vier Leben, die zeigen, wie er sich unter verschiedenen Umständen und Wohnorten entwickelt.
    Meistens wird aus der Perspektive Archies erzählt, aber in einigen Situationen schaut der auktoriale Erzähler in die Köpfe anderer Figuren, die überlegen, was wäre wenn ich dies und jenes getan hätte, was wäre anders gewesen oder was wäre anders gekommen.
    Ein Spiel mit parallelen Wirklichkeiten, ein Thema, das auch schon im "Mann im Dunkel" angeklungen ist.

    Nach den vier Varianten der frühen Kindheit, erfahren wir in 2.1. bis 2.4, wie der junge Archie zum 11-13-jährigen Jugendlichen heranwächst.
    In den Kapiteln 3.1-3.4 ist er in der Pubertät, erlebt die erste Liebe und macht erste sexuelle Erfahrungen. Die Zeit bis zum High School Abschluss wird in den 4er Kapiteln, das erste Jahr auf der Uni bzw. in Frankreich in den 5er Kapiteln erzählt. Die letzten beiden Teile widmen sich der Zeit auf der Universität und sind stark von den politischen Unruhen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre geprägt.

    Soviel zur Struktur - ohne allzu viel zu verraten. Ganz am Ende des Romans deckt Auster sehr geschickt die Konzeption des Romans auf und dann ergibt auch der Titel plötzlich einen Sinn.

    Was uns beim Lesen beschäftigt hat, ist die Frage, wodurch sich die Archies in den einzelnen Varianten unterscheiden und was gleich bleibt. Welche Eigenschaften und Verhaltensweisen sind unabhängig von den äußeren Umständen?

    In allen Versionen ist Archie ein Sympathieträger, der auf unterschiedliche Art und Weise unkonventionell handelt, wie Mira treffend bemerkt hat.
    Ein junger Mann, der nach Liebe sucht, loyal wenige, aber tiefgehende Freundschaften pflegt.
    Er ist politisch interessiert, bleibt aber eher ein Beobachter, eine Randfigur mit gemäßigter liberaler Einstellung, der jedoch klar Stellung gegen den Vietnamkrieg bezieht.

    Was gleich bleibt, ist die Figur der Mutter (immer Fotografin), von der Archie sehr geliebt wird und die bis zum Ende der High School Zeit seine Bezugsfigur, die wichtigste Person in seinem Leben ist.
    Das Verhalten seines Vater hingegen wird von den äußeren Umständen beeinflusst. Während in der 1.Variante die Eltern permanent mit finanziellen Problemen kämpfen haben und sich dadurch eine verschworene Familiengemeinschaft bildet, ist in Version 4, der Vater beruflich erfolgreich und die Familie bricht auseinander. In Variante 3, in der der Vater stirbt, beeinflusst das Archies Leben entscheidend, wir erleben den labilsten Archie,

    (...) den stolzen, überempfindlichen, mit krankhaften Selbstzweifeln gesegneten Ferguson" (S.975).

    Auch andere Figuren tauchen in unterschiedlicher Funktion in den einzelnen Varianten auf, wie die Familie Schneidermann:
    Beim alten Schneidermann hat Rose ihre Ausbildung als Fotografin absolviert und dabei seine Sohne Gil und Dan kennengelernt - so viel sei hier verraten, sie bleibt ihnen verbunden und damit spielen sie auch in Archies Leben eine Rolle.
    Auch Dans Kinder Jim und Amy (!) beeinflussen Archies Leben. Die Liebe zu Amy ist eine der Konstanten, wenn sie auch nicht in allen Variationen ein Paar werden.

    "und noch einige Jahre lang würde sie die größten Freuden und die größten Qualen in sein junges Leben bringen und für ihn die unverzichtbare Andere sein, die er brauchte wie die Luft zum Atmen" (S.209, 2.1)

    "Amy war die Dreingabe, das unter einem Haufen zerknülltem Einwickelpapier versteckte Geburtstagsgeschenk, das erst gefunden wird, wenn die Party vorbei ist und alle Gäste nach Hause gegangen sind." (S.336, 2.3)

    Die Stelle offenbart Austers Vorlieben für Vorausdeutungen und auch für Vorankündigungen.
    Das nimmt zwar einen Teil der Spannung, andererseits fokussiert es die Leser*innen auf bestimmte wichtige Vorkommnisse.
    Ebenso hat er hat eine Vorliebe für Schicksalsschläge, die dem jungen Archie zustoßen und mit denen er in allen Varianten seines Lebens konfrontiert wird und die uns als Leserinnen getroffen haben. Mitlachen, mitfühlen und mitweinen.

    "Alles eine Zeitlang stabil, und dann eines Morgens geht die Sonne auf, und alles bricht in Stücke."(S.158)

    Die Frage war: Welche Welt bewohnte Ferguson jetzt, und wie hatte diese Welt sich für ihn verändert? (S.506)

    Wie in "Mann im Dunkel" gibt es im Roman einige Geschichten in der Geschichte: Kurzgeschichten Prosastücke von Archie, Allegorien, die auch die Konzeption des Romans "erklären".

    In "Elf Augenblicke aus dem Leben des Gregor Flamm" erzählt er die Lebensgeschichte eines Menschen in 11 Momentaufnahmen, so dass

    "trotz der Lücken und der Stille zwischen den einzelnen Teilen (...) der Leser sie im Kopf zusammenfügen (würde), sodass die gesammelten Szenen sich zu etwas summierten, das einer Geschichte oder mehr als einer Geschichte gleich - einem langen Roman im Kleinformat." (S.711)

    Müssen wir uns Archie zusammensetzen - aus all den Varianten?

    Interessanterweise ist die Liebe zum Lesen und zur Literatur, zu Filmen und zum Schreiben in "allen Archies" vorhanden. Das, was er schreibt, variiert, aber er schreibt - Reportagen, Berichte, Filmkritiken, Kurzgeschichten, Romane. Das kreative Talent bricht sich seine Bahn - unabhängig der äußeren Umstände.

    Weitere Gemeinsamkeiten sind
    Liebe zum Sport, Baseball und/oder Basketball
    Liebe zu Frankreich und zur französischen Sprache
    Veröffentlichungen, allerdings unter verschiedenen Namen, die zusammengesetzt, den vollen Namen ergeben: A.I. Ferguson, Archie Ferguson, Isaac Ferguson
    Figuren, die verschiedenen Varianten auftauchen, wie Howard Small, der Archies Freund in 2.2. ist und in 5.4. sein Freund am College wird
    ....
    Ich könnte noch viele Seiten darüber füllen, was der Roman neben einem Entwicklungsroman noch zu bieten hat und hätte trotzdem das Gefühl, dem Roman nicht gerecht zu werden, der ein Buch über Bücher und Filme ist, ein Literaturkanon, eine Hommage an Paris, ein Buch über den Schreibprozess und ein Roman, der ein detailliertes Porträt der amerikanischen Geschichte von 1954-1971 zeichnet. Themen wie der Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung, die Ermordung Kennedys, der Rassenkonflikt, die brennenden Ghettos amerikanischer Großstädte, die Entstehung der Black-Power-Bewegung...um nur einiges zu nennen, was Archies Leben beeinflusst und begleitet. Auch vor dem Thema Bi- und Homosexualität macht Auster nicht Halt.
    Ein unglaublich vielfältiger Roman, der offensichtlich auch eine autobiografische Dimension hat, wenn man den Klappentext auf dem Rückumschlag liest. Wobei mich das beim Lesen weniger beschäftigt hat. Auster bezieht jedoch durch seinen sympathischen Protagonisten eine klare Position, spricht sich für die friedliche Studentenbewegung und die Emanzipation aus, gegen die Außenpolitik der USA in den 50er/60er Jahren, gegen die Rassendiskriminierung und gegen die Ausgrenzung Homosexueller, nicht zufällig endet der Roman mit einem politischen Ereignis.

    Trotz der Länge ist dieser Roman niemals langweilig, bis auf die Seiten über Baseball und Basketballspiele (ich kann diesen amerikanischen Sportarten nichts abgewinnen) habe ich jede Seite genossen und ehrlich gesagt, fällt mir der Abschied von Archie genauso schwer wie Mira. Eine sehr intensive Lesezeit und eine Lektüre, die ich weiterempfehlen möchte.

    Hier geht es zu Miras Rezension.

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